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Familienportrait Teil 11 – “Der Tod eines Preußen” / 1933 – 46

Es ist eine traurige, aber typische Geschichte für die Zeit des Nazi-Faschismus in Deutschland. Sie handelt von meiner Großtante Charlotte und ihrem Mann, Paul Springer, der sich preußischen Tugenden verpflichtet fühlte. Er war Polizei-Offizier. Wie viele Konservative hielt er die Nazis bei ihrer Machtübernahme für nützliche Idioten und unterstützte sie wohl auch. Er irrte sich gewaltig.

Auf Fotos sieht er sympathisch aus, ich hätte ihn gern kennengelernt, trotz unserer offensichtlichen politischen Differenzen. Doch das konnte ich nicht. Acht Jahre bevor ich geboren wurde, am 1. Mai 1946 ging er, “ohne Hut eine Zeitung kaufen”, wie sich seine Frau, Tante Lotte, erinnert. Er legte sich auf die Schienen der Heidekrautbahn und starb wenig später am Bahnhof Schildow, wohin man den Schwerverletzten gebracht hatte.

Charlotte, die jüngere Schwester meiner Oma, kam auch aus dem heimatlichen Liebenwerda nach Berlin und heiratete, Ende der 1920er Jahre, den Polizei-Offizier Paul Springer. Paul war eine “gute Partie”, ein Beamter, der ein kleines Depot an Wertpapieren zusammengespart hatte. Paul war außerdem ein begabter Hobby-Fotograf. Lotte ordnete sich ihrem Mann unter, da war sie ganz anders als meine Oma. Sie, vielmehr er, entschied sich gegen Kinder. Man wollte ein gutes Leben führen, delikat essen, schöne Kleidung tragen, ausgehen und Reisen machen.

Image  Ländliche Szene

Image  Olympische Spiele 1936

Paul stieg im Polizeidienst auf, in seinen Dienstbeurteilungen wird er gelobt, nur energischer gegen seine Untergebenen solle er werden. Laute Töne lagen ihm nicht, er setzte sich mit Ruhe und Geduld durch. Er fotografierte seine Familie, Sehenswürdigkeiten, spektakuläre Ereignisse und seine Kollegen vom Revier. Während der Olypischen Spiele 1936 war er in seinem Element, ihm gelangen prachtvolle Aufnahmen. Er und Lotte gingen gern ins Kino, manchen Bildern sieht man an, dass sie wie Filmeinstellungen komponiert sind.

Image   Filmreif: Am Bahnhof

Er war kein Nazi, aber konservativ. Anfänglich hatte er Sympathien für die neuen, braunen Machthaber. Wie viele Deutsche machte er den fatalen Fehler, Antisemitismus und Rechtsbruch der neuen Machthaber als “Kinderkrankheiten” zu betrachten.

Image  Ereignisse: 700Jahrfeier Berlin

Image  Kollegen in Zivil

Image Kollegen in Uniform

Zur Konfrontation kam es während der Novemberpogrome 1938. Als am 9. November gegen 22Uhr Geschäfte angegriffen wurden, die Juden gehörten, stellte Paul uniformierte Polizisten als Schutz vor solche Läden in der Friedrichstraße. Um Mitternacht ging auf dem Revier ein Telex der Gestapo ein, nachdem die Polizei jüdische Einrichtungen nicht mehr schützen sollte, bzw. nur Plünderungen verhindern sollte. Paul Springer soll sich noch eine Stunde unsichtbar gemacht haben, doch gegen ein Uhr nachts gab er den Befehl dann weiter.

Damit war seine Karriere im Dritten Reich beendet, der Polizeidienst machte ihm auch kaum noch Spaß. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen, während seine Nazi-Kollegen für unabkömmlich erklärt wurden.

Image  Rechts der Mann mit Tschako ist Onkel Paul

Tante Lotte und er überlebten den Krieg und er erhielt eine zweite Chance sich im Polizeidienst zu bewähren, weil er relativ unbelastet war. Schon im Mai 1945 wurde er von den Alliierten als Fachkraft auf dem Revier 2 angestellt. Kurze Zeit danach konnte er als Reviervorsteher den Wiederaufbau des Reviers 12 leiten.

Als Kind in den 1960ern hörte ich in der Familie, Onkel Paul habe sich in der Nazizeit nicht an Verbrechen beteiligt. Instinktiv hatte ich Zweifel und Historiker haben uns belehrt, die Polizei sei regelmäßig als Helfer der Nazischergen aufgetreten. So dachte ich, es sei nahe liegend Pauls tragisches Ende auch in Zusammenhang mit Verstrickungen in Untaten der Nazis zu sehen. Zur Vorbereitung dieses Textes bin ich nochmal alles Material durchgegangen und fand einen ausführlichen Bericht von Tante Lotte über die fatalen Ereignisse des 1. Mai 1946 und ihre Vorgeschichte. Über sein Motiv könnte ich, nach der Lektüre, nur noch spekulieren und das möchte ich nicht.

Zur Vorgeschichte erfuhr ich dies: Am 16. März 1946 sicherte Paul mit Kollegen eine Fliegerbombe ab, als es zur Explosion kam. Er wurde schwer am Kopf verletzt, Prellungen, Schnitt- und Platzwunden wurden im Krankenhaus versorgt. Trotz einer Gehirnerschütterung wurde er aus der nach dem Unglück überfüllten Klinik entlassen.

Nach einem Tag ging er wieder arbeiten, gegen ärztlichen und freundschaftlichen Rat glaubte er, preußische Disziplin üben zu müssen. Ständige Kopfschmerzen, Schwindel und eine leichte Verwirrtheit, die er gut überspielte, begleiteten ihn. Am 30. April war seine Krankheit so offensichtlich, dass er sich arbeitsunfähig schreiben lies.

Lotte schreibt dann: ” Nach dem Frühstück (am 1. Mai) schlief er nochmal. Als er zum Essen aufstand unterhielten wir uns und machten Pläne. Danach beschlossen wir einen Spaziergang zu machen und – da ich noch mit Hausarbeit beschäftigt war – sagte mein Mann, er wolle nur inzwischen eine Zeitung holen. Er ging ohne Hut von mir, ließ die Gartentür offen, weil er wohl die Absicht hatte sofort wiederzukehren. Dann sah ich meinen Mann nicht wieder und erhielt am Abend die schreckliche Gewissheit. Die näheren Einzelheiten über sein Ende bitte ich mir zu ersparen und aus den Protokollen zu entnehmen.” Lotte schieb den Bericht wegen ihres Versorgungsanspruchs an die Schutzpolizei.

Sie erklärt: ” Ich kann mir seinen plötzlichen Tod nur durch seine Kopfverletzung und etwa damit verbundene Besinnungslosigkeit bzw. Umnachtung erklären. Wahrscheinlich hat die Wärme und Gewitterschwüle dazu beigetragen, dass er das Bewusstsein verlor und den uns völlig unbekannten Weg einschlug zu dem uns völlig unbekannten Ort Schildow, um dort den Tod zu finden (oder wie er vielleicht in seinem Zustand glaubte: Ruhe vor Schmerzen und Depression).”

Paul Springer hatte sich vor die Heidekrautbahn gelegt und starb wenig später, wie die Sterbeurkunde sagt, am 1. Mai 1946 um 18 Uhr 45 in Schildow, am Bahnhof.

Image Alle Fotos: Paul Springer

Text: Marcus Kluge

Die anderen Familienportraits  sind hier zu finden:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait Teil 11 – “Der Tod eines Preußen” / 1933 – 46

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Bevor ich zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts komme, gilt es noch eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine traurige, aber typische Geschichte für die Zeit des Nazi-Faschismus in Deutschland. Sie handelt von meiner Großtante Charlotte und ihrem Mann, Paul Springer, der sich preußischen Tugenden verpflichtet fühlte, war Polizei-Offizier. Wie viele Konservative hielt er die Nazis, bei ihrer Machtübernahme, für nützliche Idioten und unterstützte sie wohl auch. Er irrte sich gewaltig.

Auf Fotos sieht er sympathisch aus, ich hätte ihn gern kennengelernt, trotz unserer offensichtlichen politischen Differenzen. Doch das konnte ich nicht. Acht Jahre bevor ich geboren wurde, am 1. Mai 1946 ging er, “ohne Hut eine Zeitung kaufen”, wie sich seine Frau, Tante Lotte, erinnert. Er legte sich auf die Schienen der Heidekrautbahn und starb wenig später am Bahnhof Schildow, wohin man den Schwerverletzten gebracht hatte. Wie es dazu kam, erzähle ich:

Charlotte, die jüngere Schwester meiner Oma, kam auch aus dem heimatlichen Liebenwerda nach Berlin und heiratete, Ende der 1920er Jahre, den Polizei-Offizier Paul Springer. Paul war eine “gute Partie”, ein Beamter, der ein kleines Depot an Wertpapieren zusammengespart hatte. Paul war außerdem ein begabter Hobby-Fotograf. Lotte ordnete sich ihrem Mann unter, da war sie ganz anders als meine Oma. Sie, vielmehr er, entschied sich gegen Kinder. Man wollte ein gutes Leben führen, delikat essen, schöne Kleidung tragen, ausgehen und Reisen machen.

Image  Ländliche Szene

Image  Olympische Spiele 1936

Paul stieg im Polizeidienst auf, in seinen Dienstbeurteilungen wird er gelobt, nur energischer gegen seine Untergebenen solle er werden. Laute Töne lagen ihm nicht, er setzte sich mit Ruhe und Geduld durch. Er fotografierte seine Familie, Sehenswürdigkeiten, spektakuläre Ereignisse und seine Kollegen vom Revier. Während der Olypischen Spiele 1936 war er in seinem Element, ihm gelangen prachtvolle Aufnahmen. Er und Lotte gingen gern ins Kino, manchen Bildern sieht man an, dass sie wie Filmeinstellungen komponiert sind.

Image   Filmreif: Am Bahnhof

Er war kein Nazi, aber konservativ. Anfänglich hatte er Sympathien für die neuen, braunen Machthaber. Wie viele Deutsche machte er den fatalen Fehler, Antisemitismus und Rechtsbruch der neuen Machthaber als “Kinderkrankheiten” zu betrachten.

Image  Ereignisse: 700Jahrfeier Berlin

Image  Kollegen in Zivil

Image Kollegen in Uniform

Zur Konfrontation kam es während der Novemberpogrome 1938. Als am 9. November gegen 22Uhr Geschäfte angegriffen wurden, die Juden gehörten, stellte Paul uniformierte Polizisten als Schutz vor solche Läden in der Friedrichstraße. Um Mitternacht ging auf dem Revier ein Telex der Gestapo ein, nachdem die Polizei jüdische Einrichtungen nicht mehr schützen sollte, bzw. nur Plünderungen verhindern sollte. Paul Springer soll sich noch eine Stunde unsichtbar gemacht haben, doch gegen ein Uhr nachts gab er den Befehl dann weiter.

Damit war seine Karriere im Dritten Reich beendet, der Polizeidienst machte ihm auch kaum noch Spaß. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen, während seine Nazi-Kollegen für unabkömmlich erklärt wurden.

Image  Rechts der Mann mit Tschako ist Onkel Paul

Tante Lotte und er überlebten den Krieg und er erhielt eine zweite Chance sich im Polizeidienst zu bewähren, weil er relativ unbelastet war. Schon im Mai 1945 wurde er von den Alliierten als Fachkraft auf dem Revier 2 angestellt. Kurze Zeit danach konnte er als Reviervorsteher den Wiederaufbau des Reviers 12 leiten.

Als Kind in den 1960ern hörte ich in der Familie, Onkel Paul habe sich in der Nazizeit nicht an Verbrechen beteiligt. Instinktiv hatte ich Zweifel und Historiker haben uns belehrt, die Polizei sei regelmäßig als Helfer der Nazischergen aufgetreten. So dachte ich, es sei nahe liegend Pauls tragisches Ende auch in Zusammenhang mit Verstrickungen in Untaten der Nazis zu sehen. Zur Vorbereitung dieses Textes bin ich nochmal alles Material durchgegangen und fand einen ausführlichen Bericht von Tante Lotte über die fatalen Ereignisse des 1. Mai 1946 und ihre Vorgeschichte. Über sein Motiv könnte ich, nach der Lektüre, nur noch spekulieren und das möchte ich nicht.

Zur Vorgeschichte erfuhr ich dies: Am 16. März 1946 sicherte Paul mit Kollegen eine Fliegerbombe ab, als es zur Explosion kam. Er wurde schwer am Kopf verletzt, Prellungen, Schnitt- und Platzwunden wurden im Krankenhaus versorgt. Trotz einer Gehirnerschütterung wurde er aus der nach dem Unglück überfüllten Klinik entlassen.

Nach einem Tag ging er wieder arbeiten, gegen ärztlichen und freundschaftlichen Rat glaubte er, preußische Disziplin üben zu müssen. Ständige Kopfschmerzen, Schwindel und eine leichte Verwirrtheit, die er gut überspielte, begleiteten ihn. Am 30. Juni war seine Krankheit so offensichtlich, dass er sich arbeitsunfähig schreiben lies.

Lotte schreibt dann: ” Nach dem Frühstück (am 1. Mai) schlief er nochmal. Als er zum Essen aufstand unterhielten wir uns und machten Pläne. Danach beschlossen wir einen Spaziergang zu machen und – da ich noch mit Hausarbeit beschäftigt war – sagte mein Mann, er wolle nur inzwischen eine Zeitung holen. Er ging ohne Hut von mir, ließ die Gartentür offen, weil er wohl die Absicht hatte sofort wiederzukehren. Dann sah ich meinen Mann nicht wieder und erhielt am Abend die schreckliche Gewissheit. Die näheren Einzelheiten über sein Ende bitte ich mir zu ersparen und aus den Protokollen zu entnehmen.” Lotte schieb den Bericht wegen ihres Versorgungsanspruchs an die Schutzpolizei.

Sie erklärt: ” Ich kann mir seinen plötzlichen Tod nur durch seine Kopfverletzung und etwa damit verbundene Besinnungslosigkeit bzw. Umnachtung erklären. Wahrscheinlich hat die Wärme und Gewitterschwüle dazu beigetragen, dass er das Bewusstsein verlor und den uns völlig unbekannten Weg einschlug zu dem uns völlig unbekannten Ort Schildow, um dort den Tod zu finden (oder wie er vielleicht in seinem Zustand glaubte: Ruhe vor Schmerzen und Depression).”

Paul Springer hatte sich vor die Heidekrautbahn gelegt und starb wenig später, wie die Sterbeurkunde sagt, am 1. Mai 1946 um 18 Uhr 45 in Schildow, am Bahnhof.

Image Alle Fotos: Paul Springer ©Marcus Kluge

Text: Marcus Kluge

Die Familienportraits werden demnächst mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt und sind dann hier zu finden:

„Familienportrait” – Die Serie

 

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