Archive | March 2014

Gast-Familienportrait – Momo lesen in Zeiten der besetzten Häuser / Eine Momentaufnahme von Cornelia Grosch

Im November 1979 saß ich an einem dämmrigen Nachmittag mutterseelenalleine auf einem Isomatten-Matratzen-Schlafsacklager in einer heruntergekommenen Wohnung. Es war nicht meine Wohnung und ich hatte den „Hausfrieden“ gebrochen, um dort zu sein.

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Es war kalt in der Wohnung und der Strom war abgeschaltet, so dass ich eine Petroleumlampe angezündet hatte. Bei diesem gelben Licht (die gesamte Lampe war gelb gestrichen, auch das Glas, sie beleuchtete mal eine Baustelle, bevor sie in meinen Besitz überging), in meinen Schlafsack eingemummelt, vertrieb ich mir die Zeit mit der Lektüre von Momo, dem Buch von Michael Ende. Ich hatte kurz zuvor das Buch als Raubdruck gekauft und mir als Notlektüre für die Überbrückung von langweiligen Zeiten eingesteckt. Das Buch war auf schlechtem Papier mit schlechter Druckfarbe in verschiedenen gelblichen Farbtönen gedruckt. Es war bei dem gelblichen Licht der Petroleumlampe extrem schwierig zu lesen. Ich mochte das Buch nicht, fand die Moral viel zu dick und direkt aufgetragen, die Guten waren nur gut und die Bösen nur böse.

Aber die Beschäftigung damit half mir, meine Unruhe und Angst zu unterdrücken.

Es war der 3. oder 4. Tag der Hausbesetzung in der Cuvrystraße. Wir waren eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Bürgerinitiative SO 36 und von Anwohnern, die konspirativ diese Besetzung geplant und vorbereitet hatten. Die Besetzung einer Wohnung und einer Gewerbeetage erfolgte stellvertretend für eine ganze Reihe von Häusern, die in der Cuvrystraße leerstanden und auf den Abriss warteten. Und diese Reihe war wiederum nur ein kleiner Teil der vielen leerstehenden und vergammelten Häuser in ganz Westberlin Ende der 70er Jahre. Große Teile von Kreuzberg sollten damals verschwinden, weil es eine Autobahnplanung quer durch den Bezirk gab. Außerdem rechneten sich, wie heute die Immobilienbesitzer aus, dass Neubauten mehr Rendite bringen als einfache Altbauwohnungen und ließen ihre Häuser verkommen. Der Standard für unsereinen war damals noch die Wohnung mit Ofenheizung, ohne Bad und womöglich mit Außenklo, dafür aber so billig, dass man nicht unbedingt dauernd arbeiten musste.

Die Besetzung erfolgte, während die Zeitung der BI SO 36, der Süd-Ost-Express, einen Preis bekam und öffentlich gefeiert wurde. Bei der Dankesrede der BI wurden die Besetzungen bekannt gegeben und wir fanden sofort eine große, überwiegend wohlwollende Öffentlichkeit. Obwohl es auch Leute gab, die direkt in diese Wohnung und Gewerbeetage einziehen wollten, war es eine politische Aktion. Die erste Besetzung der BI hatte schon im Februar 1979 stattgefunden, war gut in der Öffentlichkeit angekommen und es gab relativ schnell Mietverträge für die beiden besetzten Wohnungen, ohne dass sich aber die Gesamtlage änderte. Deswegen gab es diese zweite Aktion.

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Am 1. Abend war in der Wohnung, die ich mitbesetzt hatte, eine tolle Partystimmung und viele Leute übernachteten auch dort. Wir fühlten uns bärenstark und waren sicher, auf der absolut richtigen Seite zu stehen.

Am nächsten Tag wurde entrümpelt und ein bisschen weiße Farbe an die Wände gebracht. Zum Glück war die Bausubstanz hier noch einigermaßen gut, Fenster und Dach dicht. Leute von Funk, Fernsehen und Presse kamen vorbei und wollten Interviews und Fotos, die sie auch bekamen. Wer nicht kam, war die Polizei (a.k.a. „Bullen“), es wurde aber stark mit ihnen gerechnet. Da es erst die 2. Hausbesetzungsaktion Ende der Siebziger war, gab es noch keine Erfahrungen mit Räumung.

Nach dem ersten aufregenden Tag kehrte der Alltag bei Besetzers ein. Viele von uns studierten noch oder gingen zur Schule, manche hatten Jobs oder andere Verpflichtungen. Ich war damals mit dem Studium fertig und hatte keine feste Arbeit, außer einem Job am Wochenende als Hauspflegerin bei einer gelähmten Frau.

So kam es, dass ich an diesem Nachmittag alleine, frierend und unheimlich einsam in dieser Wohnung in der Cuvrystraße saß und die Stellung hielt. Ich kam mir vor wie der einzige Mensch auf einem leeren Planeten. Es gab auch nichts wirklich Sinnvolles zu tun. Wir mussten mit einer Räumung rechnen und damit, dass wir in dem Fall verhaftet worden wären. Davor hatte ich damals eigentlich keine Angst, ich wollte bloß nicht als Einzige verhaftet und mitgenommen werden. Schreckliche Vorstellung!

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Momo aber wollte mich nicht wirklich ablenken, ich konnte erst aufatmen, als gegen Abend wieder ein paar der anderen Besetzer auftauchten. Ich habe das Buch nie wieder gelesen, obwohl ich es mir später sogar in einer anständigen Druckversion neu gekauft habe.

Kurz danach ging es richtig los mit der Hausbesetzerbewegung. Andere Häuser, auch in anderen Bezirken, wurden besetzt. 1981 gab es fast 170 besetzte Häuser in Westberlin.

Da war ich aus der direkten Aktion aber schon wieder raus und ging nur noch zu den Demos und arbeitete noch eine Weile weiter in der BI mit. Ich brauchte damals auch keine Wohnung, ich wohnte schon in einer WG.

Ich selbst habe damals den Rest meines naiven Kinderglaubens verloren, dass wir alle nur aus edlen uneigennützigen Gründen in der Politik mitmischen… es gab in der BI zukünftige Rechtsanwälte, Architekten und Journalisten, die sich hier profilieren und auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollten und dann die, die Freunde finden wollten. Das ist ja eigentlich in Ordnung, aber es wurde nie über solche Motive gesprochen, offiziell waren wir nur an der „Sache“ interessiert. Genauso war es während meines Studiums schon mit den ganzen linken Gruppierungen und ich hatte gehofft, dass es in so einer BI anders wäre…

Wir alle haben aber damals einen erheblichen Teil mit dazu beigetragen, dass Altbauten nicht mehr automatisch abgerissen wurden, sondern saniert wurden und das damals auch noch überwiegend mit Berücksichtigung der Wünsche der Bewohner. Es gab anschließend die Internationale Bauausstellung, die das fortführte. Bis in die 90-er Jahre war das die offizielle Politik, dann wurde Berlin Haupstadt, in der Folge hip und teuer und nun wären neue Aktionen überfällig!

Ende

Wer noch etwas tiefer in das Thema eintauchen möchte, sollte Gerd Nowakowskis Empfehlung des Häuserkampf-Fotobuchs von Lothar Schmid lesen.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/werbinich/hausbesetzungen-in-berlin-als-die-chaoten-kreuzberg-retteten/9299410.html

Mehr von Cornelia Grosch: http://conyberlin.blog.de/

Familienportrait – Robert T. Odeman / Ein Humorist mit ernsten Augen 1904-85

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Als ich zehn oder elf war wollte ich unbedingt Klavier spielen lernen. Nachdem ich öfters auf dem Klavier einer Nachbarin herumgestümpert hatte, stellte mir meine Mutter ihren guten Freund Robert T. Odeman vor. Vorher erklärte sie mir was Homosexualität ist, dass diese ganz normal wäre, der § 175 eine Schande sei und das Odeman wegen seiner Homosexualität im KZ gewesen wäre. Meine Ma drückte sich um das Thema Aufklärung nicht herum. So kam es das Tommi, so nannten wir ihn, mein Klavierlehrer wurde.

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“Humor ist eine ganz ernste Angelegenheit! Herzlichst ihr Robert T. Odeman”

Er war ein eindrucksvoller Mann, mit viel Würde, aber bei aller Herzlichkeit blieb immer eine Distanz zwischen ihm und mir. Als erstes fielen mir seine seltsam verkrüppelten Hände auf, ich wagte aber nie, ihn danach zu fragen. Er konnte damit Klavier spielen, doch man merkte, es fiel ihm schwer.

Tommi gab mir Unterricht und bald…

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Familienportrait – Große Liebe, Blei-Streu-Straße, WG und Tolstefanz 1973-74

Da das Blog morgen ein halbes Jahr alt wird poste ich den erfolgreichsten Artikel noch einmal. Am 17. Dezember 2013 hatte dieser Text 211 Zugriffe.

Familienportrait / Mao, Zodiac Arts Lab, Kollektiv und Schulverweis 1968-70

 1968 lernte ich Burkhardt Seiler, der später als der Zensor bekannt werden sollte, in der Schule kennen. Burkhardt sprach mich auf meinen Mao-Badge an: “Ob ich denn überhaupt schon mal was von organisiertem Klassenkampf gehört hätte?” Hatte ich natürlich nicht, ich trug das Ding nur um zu provozieren.

Image  Burkhardt 1984

Image  Der Autor 1969

Ich war 14 und schlug mich in Diskussionen meistens ganz ordentlich. Er war ein Jahr älter, seine Haare waren noch deutlich länger als meine und rethorisch hatte er mich bald ausgeknocked. “Wer a sage, müsse auch b sagen”, war seine Argumentation und ein paar Tage später schleppte er mich mit zur Roten Garde, einer maoistischen Gruppe. Wir hatten damals keine Ahnung, was in China wirklich passierte, sonst hätten wir wohl Abstand gehalten.

Image  Kollektivmitglied

Ich ging eine zeitlang zu einem Zirkel, der das Marxsche Manifest las, ich fands ziemlich langweilig. Zwischenzeitlich war Burkhardt aus der Roten Garde geflogen, wegen anarchistischer Umtriebe, wie er mir etwas stolz berichtete. Wir hingen zusammen rum, ich habe sehr von seinem Wissen profitiert. Er wusste alles mögliche, auch über Underground-Kunst und -Musik, keine Ahnung, wo er sein enzyklopädisches Wissen her hatte. Er spielte mir MC5 vor, berichtete von Tuli Kupferberg und den Fugs, dozierte über französische Philosophen und rezitierte Allen Ginsberg.

Immer hatte er was vor, wusste von obskuren Konzerten und Vorträgen. Er nahm mich mit zur Kommune 1 in der Stephanstraße. An diesem Tag war S.F.Sorrow von den Pretty Things in Deutschland herausgekommen. Das Album lief laut, mehrere Fernseher liefen stumm und die Kommunarden lümmelten auf Matrazen rum. Ein oder zwei Frauen hatten obenrum nichts an, ich bemühte mich nicht hinzusehen. Mir war etwas peinlich, dass ich keine Jeans anhatte, sondern eine hellgraue Stoffhose, hier hatten alle Levis an, das galt tatsächlich noch als Zeichen der Rebellion.(sic)

An einem anderen Abend zeigte er mir das Zodiac Free Arts Lab. Der Klub befand sich im Haus der Schaubühne, die ja damals noch am Halleschen Ufer residierte. Ein Raum war weiß, der andere schwarz gestrichen, überall standen verschiedenste Instrumente, Verstärker und Boxen herum, die von den Gästen überwiegend frei genutzt werden konnten.

Image   Andi 1969

Als wir dort waren, spielte eine Band Psychedelic Rock, das Licht bestand aus weißen Neonröhren und die Zuhörer bewegten sich in drogeninduzierter Trance zu den wilden Klängen. Burkhardt zeigte mir Konrad Schnitzler, einen der Gründer, später sollte dieser mit Tangerine Dream deren erstes Album aufnehmen.

Image   Richard 1969

Wir fingen an eine größere Clique zu bilden, die wir nach Burkhardts Vorschlag “Kollektiv” nannten. Richard, Céline, Andi plus 2-3 weitere Mitglieder bildeten die Stammbesetzung. Wir trafen uns fast täglich meist bei Burkhardt, dessen Eltern in der Pfalzburger wohnten oder bei Richard, dessen Vater in der Pariser Straße einen kleinen Uhrmacherladen hatte. Danach zogen wir durch Straßen und Parks, als eine Art Hippie-Schwadron und spielten Bürgerschreck. Wir experimentierten mit allem, was uns einfiel, unter anderem mit der Aufhebung des Privateigentums. Seitdem weiß ich, dass sowas nicht funktioniert.

Regelmäßig fielen wir im Republikanischen Klub ein, einem Verein den prominente Mitglieder der außerparlamentarischen Opposition, u.a. Wolfgang Neuss, Ossip. K. Flechtheim, Manfred Rexin und Hans Magnus Enzensberger, gegründet hatten. Wir diskutierten mit den APO-Mitgliedern, schnorrten Geld und Zigaretten. Wir testeten auch deren libertäre Attitüde aus, Z.B. Wenn wir uns einen Teller Spagetti mit Tomatensoße teilten, veranstalteten wir jedesmal eine riesige Sauerei. Es war infantil, machte aber einen Heidenspaß. Meist wurden wir dann rausgeschmissen, aber am nächsten Tag durften wir wieder rein. Man war tolerant, oder gab sich wenigstens so.

In der Schule gerieten wir zunehmend ins Abseits.    Image   Bürgerschreck

Man muss bedenken, dass wir noch echte alte Nazis unter den Lehrern hatten und wir nahmen kein Blatt vor den Mund. Die Fronten waren irgendwann verhärtet, dazu kam noch ein Schüler-Streik zu dem wir aufriefen. Wir protestierten gegen den Senat, der die Gelder für die Schule gekürzt hatte. Zehn Jahre später wären die Lehrer mit uns auf die Straße gegangen. Obwohl der Direktor die Schule abschließen lies, holten wir die Mitschüler über den Zaun, gingen demonstrieren und schwänzten den Unterricht.

Danach war dann Schluss mit dem Kollektiv. Burkhardt, ich und andere wurden der Schule verwiesen. Mein Zeugnis hatte einen Vermerk, nachdem ich kein anderes Gymnasium in Berlin besuchen durfte. Ich wechselte notgedrungen auf eine Realschule. Nicht nur in der DDR wurde damals aus politischen Gründen die hochgepriesene Chancengleichheit verletzt.

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Der Rauswurf

Die Kollektiv-Mitglieder zerstreuten sich, nur mit Andi blieb ich eng befreundet, wir hatten eine Band und verreisten viel zusammen. Burkhardt Seiler sah ich tatsächlich erst Anfang der 80er Jahre wieder, als er bereits der Zensor war.

https://marcuskluge.wordpress.com/2013/10/14/familyportrait-a-visit-to-zensor-photographs-from-the-famous-record-store-taken-in-1983/

Familienportrait – Easy Andi Solo Gitarre / 1970-99

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Drei Uhr am Nachmittag, trotz der Sonnenstrahlen ist es eiskalt im Tiergarten. Wir drücken uns um eine Bank herum und rauchen. Das Kino fängt erst um halb vier an. “Easy Rider” läuft im Kino Bellevue am Hansaplatz. Zuerst ist es im Kino auch noch kalt, doch dann wird uns fast so warm wie den beiden Bikern im Film, auf der Leinwand vor uns. Trotz des traurigen Endes, die von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson gespielten Figuren sterben, haben wir gute Laune. Der Film hat uns Kraft gegeben. Andi, Richard und ich spinnen rum, wie wir durch Amerika biken, große Deals machen und uns als Rockband feiern lassen. Das meiste davon ist utopisch, doch die Geschichte mit der Band verfolgen wir weiter. Es ist der 13. März 1970.

 

In diesem Sommer und Herbst werde ich mir immer wieder die Nase an Otto Simonowskis Musikhaus am Zoo plattdrücken. Erst 44 Jahre später werde ich erfahren, dass auch Dee Dee Ramone hier seine erste Gitarre gekauft hat. Da er mit der sechsseitigen Gitarre nicht gut klarkommt, wechselt er später zum Bass. Ich träume von Anfang an von einem Bass.

Im Sommer 1970 gehe ich mit Andi zum Smoke-In im Tiergarten. Jeden Sonnabend nachmittags sitzen hier “Gammler”, so werden sie im Fernsehen genannt. Sie drehen Joints und kiffen. Beim ersten Mal gab es noch Flugblätter, die das Happening als politische Demonstration bezeichnen. Das ist es auch, aber hauptsächlich ist er eine kollektive Lebensäußerung von Außenseitern in einem Land, das zum Spießbürgertum neigt und das aus seiner Nazivergangenheit kaum etwas gelernt hat. Die Langhaarigen, die hier mit Bongos, Gitarren und Maultrommeln sitzen, provozieren, testen ihre Spielräume aus und sie vertreiben mit ihrem Tun die kleinbürgerlichen Geister der Vergangenheit. Über der Szene bilden sich Rauchwolken. Die Polizei ist auch da, berittene Beamte umkreisen in weitem Bogen die “Gammler”.

Andi und mich nennt man auch Gammler mit unseren mehr als schulterlangen Haaren, den ausgefransten Jeans und den Batik-T-Shirts. Zum Beispeiel wenn wir an Baustellen vorbei kommen, dann hören wir: “Euch hätte man früher vergast.” oder “Geht doch in den Osten, ihr Dreckschweine.” Schläge werden uns angedroht und manchmal müssen wir auch flitzen, um diesen zu entgehen. Acht oder neun Jahre später werde ich wieder an Baustellen vorbei kommen und wieder werden mir Schläge angedroht, nur jenes Mal wegen meiner raspelkurzen Haare, selbst wenn diese nicht gefärbt sind. Denn die Bauarbeiter haben inzwischen lange Haare und lange Koteletten, sie tragen Jeans und bunte T-Shirts, während ich nur noch schwarz trage.

Zu Weihnachten bekomme ich einen weißen Höfner-Bass, der aussieht wie eine Telecaster. 1971 treten wir ein paarmal auf. Es macht viel Spaß, Andi zeigt mir die Bassläufe, ein großes musikalisches Talent habe ich, im Gegensatz zu ihm, nicht. Richard trommelt, Rolf spielt klaglos Rhythmusgitarre, während Andi sich in ultralangen Solos verliert. Dann wird unsere Anlage geklaut, damit ist das Thema Band für mich erstmal erledigt. Andi jammt mit unterschiedlichen Musikern, in eine neue Band steigt er nicht ein.

Die meisten meiner Freunde sind Frauen und die männlichen sind meist sehr kommunikativ veranlagt. Wenn wir zusammen sind, sprechen wir stundenlang miteinander und wenn wir uns trennen, bleibt Vieles ungesagt, das eigentlich noch gesagt werden müsste. Nur mit Andi ist es anders, wir sprechen nicht soviel. Manchmal laufen wir lange nebeneinander durch den Wald ohne irgendein Wort. Wenn wir reden, dreht es sich um Liebe, Sehnsucht und unsere Träume. Über Frauen sprechen wir häufig, wenn wir Liebeskummer haben trösten wir uns. Nein, wir streichen uns nicht gegenseitig über die langen Haare, eher frozzeln wir uns ein bißchen an bis der Blues besser wird.

Andi ist fast immer in eine Frau verliebt. Meist aus der Distanz, aber in erreichbarer Ferne. Wenn es dann zu einer Beziehung kommt, dauert diese meist nicht lange. Andi mit seinen langen, dunklen Haaren und dem androgynen Blick macht auf viele Frauen Eindruck. Er ist aber nie an einem One-Night-Stand interessiert, für ihn gibt es immer nur das momentane Ideal, die aktuelle Frau seiner Frau seiner Träume, die große Liebe. Wenn er dann mit ihr zusammen ist, kann die Wirklichkeit nicht mithalten mit dem Traum. Für mich kann die Realität zum Traum werden, ich verliebe mich auch in Frauen, die ich zufällig treffe oder die auf mich zukommen. Für ihn ist nur der Traum die Realität. Nur die Eine zählt und im Laufe seines Lebens ändert sich das nicht. Im Gegenteil, er wird immer zentrierter auf die jeweilige Traumfrau und die Frauen, die er sich aussucht sind immer weiter entfernt von ihm und immer schwerer zu erobern.

Anfang der 70er Jahre sind wir noch jung und wir glauben an unsere Träume. Oft fotografieren wir uns, im Tiergarten oder in Kudammnähe. Einmal ist seine derzeitige Flamme Sabine dabei. Ich fotografiere die beiden in der klassischen Film-Ende-Pose, wie sie mit ihren Levis in Richtung Sonnenuntergang marschieren. Wie Andi auf sie gekommen ist, kann ich nicht nachvollziehen. Nach ein paar Tagen bekommt er auch Zweifel und beendet die Romanze.

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Andi und ich gehen zusammen tanzen. Eine Weile besuchen wir donnerstags die Dachluke am Mehringdamm. Der Disc-Jockey ist meistens Gunter Gabriel, erst zwei oder drei Jahre später wird seinen ersten Hit haben: “Er fährt ‘nen 30 Tonner-Diesel”. Gegen zehn, wenn die Tanzfläche noch leer ist, spielt er für uns den “Midnight Rambler” von den Rolling Stones. Dann ziehen wir unsere Tanzshow ab, die langen Mähnen und die zehn Zentimeter hohen “Market”-Boots spielen dabei eine wichtige Rolle. Ich weiß das “strangle” würgen heißt, trotzdem wird mir erst Jahre später klar, dass der Song einen Serienmörder beschreibt.

1972 fahren wir im Sommer auf die Insel Texel, als Kind war ich schon mal da, die wilde Nordsee hat mir gut gefallen. Wir haben uns ein Zelt geborgt, als wir am späten Abend auf dem Campingplatz ankommen bauen wir es auf, so gut wir können. In der Nacht regnet es und wir wachen klitschnass auf am nächten Morgen. Zum einen haben wir in einer Senke gezeltet und das Zelt war auch nicht richtig geschlossen. Trotz solcher Probleme geniessen wir die Zeit sehr. Hier regt sich niemand über unsere langen Haare auf und wir lernen nette Leute kennen. Nur das Wetter ist nicht so toll. Oft sitzen wir in der gemütlichen Caféteria, essen leckere Pommes und trinken Kakao. Das geht ins Geld. Abends gehen wir ein paarmal in die große Disco, dort sehen wir Bands wie Golden Earring, Ekseption und Focus. Besonders die beiden letzten gefallen Andi, er mag die Einflüsse klassischer Musik. Er ist ein großer Fan von Keith Emerson, der bei The Nice und Emerson, Lake & Palmer, Bach und andere klassische Komponisten einfließen lässt. Ich bin kein Fan dieses Stil-Mixes, doch live ist es OK für mich. Schliesslich sind wir pleite. Ich muss meine Mutter anrufen und sie schickt uns Geld.

Zurück in Berlin überredet Andi mich, mit ihm ins Big Eden zu gehen. Mir ist die große Disco am Kudamm eigentlich zu poppig, aber ich bin ein guter Freund, oder vielleicht will ich nur nicht allein tanzen gehen. Es ist die Zeit des Glam-Rocks, wir stylen uns androgyn mit Augen-Make-Up, weiten Hosen und hohen Absätzen. Da wird man ab und zu blöd angemacht und zu zweit lässt sich das besser aushalten. Und immerhin hat Andi Recht, im Big Eden kann man gut Frauen kennenlernen.

Er lernt zuerst jemand kennen und hat für ein paar Monate eine Beziehung. Dann lerne ich Katrin kennen, sie ist 17 und hat schon ein Kind. Sie wohnt in einem Heim für minderjährige Mütter in Grunewald. Sie ist ein herzensguter Mensch, ein bißchen zu gut vielleicht. Mit Rolf Eden hatte sie eine Romanze, oder viel mehr was der “Playboy” dafür hält. Sie fand es schick im Porsche herumkutschiert zu werden und in teuren Restaurants essen zu gehen. Der Sex mit dem 42jährigen Kneipier scheint ihr eine akzeptable Gegenleistung zu sein. Ich sehe das anders, aber halte den Mund um sie nicht zu verletzen. Auf jeden Fall sind mir Gestalten wie Eden zuwider seitdem. Das arme Mädchen denken zu lassen, da wäre eventuell ein wohlhabender Mann, der für sie und ihre Tochter sorgen könnte ist schäbig. Egal wie naiv Katrins Hoffnung gewesen sein mag. Ich denke sehr ernsthaft darüber nach, ob ich für Katrin mehr als ein Flirt sein könnte. Ich bin selber noch ein Kind, habe keinen richtigen Job, keinen Beruf. Mit meiner “no future”-Perspektive bin ich nicht der Richtige für sie und die Liebschaft ist zuende, noch bevor sie richtig angefangen hat. Auch Andi ist bald wieder Single.

Den Juli 1973 verbringt Andi mit meiner Familie in St.-Jean-de-Monts am Atlantik. Er ist froh nicht mit seinen Eltern Urlaub machen zu müssen. Ich lasse mir die langen Haare abschneiden in diesem Urlaub. In Frankreich nervt es besonders lange Haare zu haben, da sind die Franzosen weder sehr freiheitlich noch brüderlich. “Ils sont chauvins”, sagt uns ein Mädchen. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, wieso ich zum Friseur gehe, ich habe das Gefühl erwachsen werden zu müssen und die Matte scheint mir da zu stören. Andi findet es blöd, dass ich mich unter die Schere begebe. Er mag auch das modische Tweed-Sacco nicht das ich jetzt öfter trage.

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St.-Jean-de-Monts

 

Andi ist ein Nachzügler. Sein Vater ist ein pensionierter Studienrat, seine Schwester war schon aus dem Haus, als Andi zur Welt kam. Auf dem Rückweg von der Atlantikküste besuchen wir Andis Eltern, die am Stadtrand von Paris ein Feriendomizil haben. Mir fällt auf, wie wenig seine Eltern ihn verstehen oder auf ihn eingehen. Sie behandeln ihn wie ein Kind und können wenig mit diesem androgynen Mädchenschwarm anfangen, der unmerklich unter ihrer Obhut groß geworden ist. Groß ja, aber nicht erwachsen.

Wieder in Berlin entwickeln sich unsere Leben unterschiedlich. Ich gehe nicht mehr tanzen mit ihm. Ich lege jetzt selber Scheiben auf, im ersten Tolstefanz in der Sächsischen Straße. Andi kommt nur einmal vorbei, es gefällt ihm nicht. Ich wohne mit Ilona, meiner ersten großen Liebe in einer WG in der Schlüterstraße. Nach der Trennung von Ilona ziehe ich zu einem Freund in die Knesebeckstraße. Währendessen hat Andi seine einzige längere Beziehung. Dreieinhalb Jahre ist er mit seiner Traumfrau zusammen. Die Trennung die folgt erlebt er als traumatisch. Er fühlt sich tief verletzt, betrogen und er macht den Fehler zu verallgemeinern. Danach wird er von “den Frauen” sprechen und es wird ihm an diesem Grundvertrauen fehlen das erforderlich ist, um eine partnerschaftliche Beziehung einzugehen. Ich versuche ihm diese Misogynie auszureden, aber da hat sich etwas festgesetzt bei ihm.

Richtig erwachsen kommt er mir nie vor, auch in seinem späteren Leben nicht. Er war Peter Pan ähnlich, der immer ein Junge blieb. Ich konnte mir Andi nie in einem Büro oder in einer Fabrik vorstellen. Er versuchte das Leben leicht zu nehmen, “easy” war eines seiner Lieblingswörter. Ich weiß nicht was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht das Taxi fahren zum Gelderwerb entdeckt hätte. Das Taxi fahren ermöglicht ihm weiter seinen Träumen nachzuhängen, so braucht er keine weitreichenden Entscheidungen treffen. Er verdient gut dabei, er fährt lange Schichten, ist freundlich und bekommt viel Trinkgeld. Er ist sich durchaus dieser Schwebe bewusst, in der sich seine Existenz befindet. Taxi fahren ist kein richtiger Beruf für einen Schöngeist, einen begabten Musiker wie ihn. Aber er fährt weiter und er leidet darunter, dass die Menschen, die er fährt ein richtiges Leben führen, eine richtige Arbeit haben und eine richtige Familie. Das Alles hat er nicht und er fühlt, da ist ein Spalt zwischen ihm und seinen Fahrgästen und er weiß nicht wie er diesen Spalt überwinden soll, um ins richtige Leben zu gelangen.

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Ausflug 1990

 

In der Zeit nach dem Mauerfall machen wir viele Ausflüge. Ich habe noch keinen Führerschein, den schenke ich mir erst zum 40sten Geburtstag und er hat einen gewissen Spielraum die bequeme Daimler-Droschke privat zu nutzen. Meist nehmen wir meine Mutter mit. Sie und er mögen sich, so wie meine Mutter hätte er sich seine eigene auch gewünscht. Wir besuchen Langschaftsgärten in Branitz und bei Dessau, dort besuchen wir auch das Bauhaus. Wir fahren nach Bad Muskau an der polnischen Grenze. Auch dort hat Fürst Pückler einen grandiosen Park geschaffen, die abgebrannte Ruine eines Schlosses krönt die Lausitzer Parklandschaft an der Neisse. Meine Mutter hat sentimentale Erinnerungen, sie war im Krieg dort ausquartiert mit ihrer Arbeitsstelle, hat dort das erste Mal allein gewohnt. Mein Vater hat sie auf Fronturlaub besucht, als Alles noch offen war, ob sie wirklich ein Paar werden oder gar heiraten und ein Kind bekommen. Wir besuchen auch Bad Liebenwerda, wo meine Familie mütterlicherseits herkommt. Meine Oma musste es 1910 verlassen um in Berlin in “Stellung” zu gehen. 15 war sie da.

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Bad Liebenwerda, 1990

 

Anfang der 90er Jahre besucht er mich in meinem Büro im Offenen Kanal Berlin. Das ich so eine richtige Aufgabe finde, hatten wir beide nicht erwartet. Er würde gern weg vom “auf dem Bock sitzen” und fremde Leute kutschieren. Er hat eine Idee, er würde gern mit Musik Geld verdienen. Er hat eine fünfstellige Summe ausgegeben, um sich ein fast professionelles Tonstudio aufzubauen. Er würde gern Filme vertonen, Filmmusik schreiben, Jingles für Werbung oder On-Air-Promotion fabrizieren. Ich kann ihm erklären, wie so etwas technisch funktioniert. Doch ich kann ihm nicht helfen in die Branche zu kommen. Eigentlich braucht man Beziehnugen dafür und die bekommt nur, wenn man irgendwie in diesem Bereich arbeitet, egal als was. Und einen langen Atem muss man haben. Soziale Kompetenz hilft viele Kollegen kennen zu lernen. Und nie darf man müde werden auf eine Chance zu warten. Andi hat weder einen langen Atem noch ausgeprägte soziale Kompetenz. Ich biete ihm an, eine Produktion zu suchen die jemanden braucht der die Filmmusik komponiert, damit er erste Erfahrungen sammeln kann. Das will er aber nicht. Ich kann nur vermuten, er hat Angst zu versagen, sich vor fremden Leuten zu blamieren.

Ich zeige Andi noch den Sender, dann fahren wir in Richtung Kudamm um bei mir noch ein Bier zu trinken. Ich glaube es passierte im Bahnhof Seestraße. Kurz nach dem Losfahren macht der U-Bahnfahrer eine Vollbremsung, wir die Fahrgäste hören ein schrilles Quietschen und das Licht geht aus. Die Türen sind blockiert, wir können uns denken was da passiert es. Erst nach zehn Minuten werden wir von Feuerwehrleuten aus dem Bahnhof geführt. Nur in eine Richtung dürfen die Fahrgäste den Bahnhof verlassen. In Richtung des Triebwagens wird niemand gelassen, dort wo ein armer Teufel eben sein Leben verloren hat, nicht ohne dabei den Zugfahrer zu traumatisieren. Das Schlimmste, das was ich nicht vergessen werde, ist der Geruch. Die U-Bahn ist gesperrt, die Busse sind voll, also laufen wir einfach vom Wedding bis zum Kranzler-Eck, mitten durch den Tiergarten, wo wir uns als Teenager fotografiert haben. Wir laufen stumm nebeneinander. Eigentlich wollten wir bei mir am Rankeplatz noch ein Bier trinken. Wir lassen es, es ist uns nicht danach. Vor dem Kudamm-Eck umarmen wir uns zum Abschied.

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Dänemark 1993

 

Noch einmal machen wir zusammen Urlaub, wir wohnen in einem Wohnwagen an der Ostsee in Dänemark. Wir reden nicht viel, machen lange Wanderungen, spielen Karten. Es fehlt uns nichts, wir sind zufrieden. Manchmal abends fühlen wir eine Leere, dann geht einer von uns zu der netten Kaufmannsfrau und bringt ein halbe Flasche Gammel Dansk zurück. Große Flaschen gibt es nicht. Ich arbeite viel in den 90er Jahren. Er fährt Taxi und macht Musik. Er findet tatsächlich eine Band mit der er eine Weile zusammen spielt. Er nimmt sogar ein Album auf mit “Prussia”. Die Nachricht ist ein Schock. Meine Mutter ruft mich an, berichtet das Andis Schwester sie informiert hat, meine neue Telefonnummer hat sie nicht gefunden. Andi ist tot, völlig überraschend ist er krank geworden. Er hat keine Luft mehr bekommen, es soll ein Pilz in seiner Lunge gewesen sein. Die Ärzte konnten nichts mehr tun. Das ist jetzt viele Jahre her, trotzdem vermisse ich Andi, ich denke oft an ihn und träume von ihm. Bis heute.

 

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