Familienportrait – “Susi, Ditzewurst und Wiener Library” / 1960-2001
Es gibt Menschen, die uns prägen, obwohl sie nur kurz Teil unseres Lebens waren. Andere vergessen wir, aber die prägenden fallen uns immer wieder ein, sie begleiten uns, auch wenn wir keinen Kontakt mehr zu ihnen haben.
Meine Mutter hatte in den 60er Jahren ein Geschäft in der Rankestraße, den Europäischen Buch- und Phono-Klub. Eine ihrer Mitarbeiterinnen, Christa S. Wichmann genannt Susi, wurde meine erwachsene Freundin. Ich mochte sie auf eine kindliche Weise einfach ungeheuer gern. Mir gefiel ihr Humor, ihr Lächeln, die Art wie sie ihre Haare zurückstrich und besonders mochte ich ihre leicht heisere, aber sehr gepflegte Stimme. Noch heute denke ich bei bestimmten Gesten, die ich mir wohl bei ihr abgekuckt habe, an sie. Das einzige Foto (s.o.) das ich von ihr besitze, zeigt sie beim Fasching im Buch- und Phono-Klub in der Rankestraße.
Ich war sechs, gerade in die Grundschule gekommen und hatte das Glück, dass sie gern Zeit mit mir verbrachte. Sie ging mit mir in den Zoo oder ins Museum, ich denke noch heute sehr gern an diese Sonntage zurück. Nach den Ausflügen durfte ich bei ihrer Familie in der Salzbrunner Straße Abendbrot essen. Ich hatte als Kind den Spitznamen Ditze, deshalb wurde die Salami, die ich besonders gern mochte Ditzewurst genannt. Susi hat mir Jahrzehnte später erzählt, so hieße die Wurst in ihrer Familie immer noch.
Ditze auf dem Spielplatz im Volkspark, nahe der Livländischen Straße, 1961
Zu meinem Kummer ging Susi ein paar Jahre später nach London, um dort für die “Wiener Library For the Study of the Holocaust & Genocide” zu arbeiten. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben der Wiener Library und dem Studium des Holocaust gewidmet. 1985 veröffentlichte sie das Buch: “Stationen der Tyrannei”, in dem sie von der Arbeit des Instituts berichtet.
Da sie auch Assistentin des Directors der W.L., Walter Laqueur wurde und kaum Raum für ein Privatleben beanspruchte, sah ich sie erst 1986 wieder. Sie kam mir kaum verändert vor, als ich sie mit meiner Exfrau in Wilmersdorf traf.
1996 heiratete Susi Walter Laqueur, nachdem dessen erste Ehefrau gestorben war. Laqueur, der bis 1993 Director der W.L. blieb, ist ein sehr beschäftigter Mann, ein gefragter Historiker und Publizist. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, in denen er sich mit dem Holocaust, aber auch mit zeitgenössischer Politik befasst. Seit der Heirat ist sie nicht nur Ehefrau, sondern auch Assistentin und Privatsekretärin ihres Mannes.
2001, als Laqueur Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs war und sie eine Weile in Grunewald wohnten, hatte ich die Gelegenheit den großen Mann kennenzulernen und Susi wiederzusehen. Ich stritt mit Laqueur über die deutsche Linke, ließ mir von ihm detaillierte Verbesserungsvorschläge für den Offenen Kanal Berlin diktieren, bei dem ich damals arbeitete und wurde von ihm eingehend zu meinem gesamten Leben befragt. Offensichtlich arbeitet der kreative Mann ständig und er ist wohl ein Mensch, der keinen Stillstand zulassen kann. Seine eher konservativen Ansichten teile ich zwar nicht, aber alles was ich von ihm gelesen habe, war bestens recherchiert und brilliant dargelegt.
Das mehrstündige Gespräch war so anstrengend, dass ich als ich wieder in den Wagen stieg um heim zu fahren, einen Hexenschuss bei mir feststellte. Susi bewundere ich für ihre Selbstaufopferung und ihr lebenslanges Engagement für die Dokumentation der Shoa. Ich hoffe, ich werde noch einmal in diesem Leben die Gelegenheit haben, sie zu treffen.
Marcus Kluge
Familienportrait – “Das Passierscheinabkommen 1963” / von Marcus Kluge
Das erste Passierscheinabkommen ermöglicht uns West-Berlinern nach über zwei Mauerjahren den Grenzübertritt. Zwischen dem 19. Dezember 1963 und dem 5. Januar 1964 dürfen wir Tante Lotte besuchen. Wir fahren ein paar Tage nach Weihnachten und treffen bei Tante Lotte auch deren Schwester Martha mit Ehemann Adolf aus Bad Liebenwerda. Mein Bruder Thomas fotografiert uns in der Grabbeallee, auf den Gesichtern sieht man die Freude und Genugtuung über die Familienzusammenführung, aber auch Zweifel. Thomas drückt auch auf den Auslöser, als wir hastig, fast wie Geheimagenten das Haus betreten. Auf dem Rückweg steigen wir in der Yorckstraße aus der S-Bahn und nehmen uns ein Taxi. Der Taxifahrer begrüßt uns mit den Worten: “Na kommen se aus dem jelobten Land?”
Die Vorgeschichte:
Familienportrait –Pankoff, Passierscheine, venezolanische Pässe und Käfer 1961-85 / Das letzte Kapitel im Leben der drei Schnelle-Schwestern
Das Haus in Pankow
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In den 50er und frühen 60er Jahren gilt das Wort Pankow, nicht nur in Westdeutschland, als Synonym für das verhasste DDR-Regime. Walter Ulbricht und seine Spitzengenossen wohnen dort, bevor sie ab 1961 in die berühmte Waldsiedlung Wandlitz ziehen, die von 1958-61 nach russischem Vorbild, als zweifach eingemauertes Ghetto für die Bonzen gebaut wird. Bundesdeutsche Kommentatoren sprechen den Berliner Bezirk mit dem stimmlosen w gern wie Pankoff aus, weil sich das so schön russisch und martialisch anhört. Für mich als kleinen Jungen bedeutet Pankow Besuche bei Tante Lotte, Tomaten im Garten ernten, Wiener Schnitzel,Schokoschrippen und Spaß haben.
Weihnachten 1937 mit Leistikow-Gemälde und Perser
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Nachdem sich ihr Mann, der Polizist und Fotograf Paul, am 1. Mai vor die Heidekrautbahn legte und sich umbrachte, zog die Schwester meiner Oma mütterlicherseits in die Tschaikowski-Straße in Pankow. Als ich klein war, besuchten wir meine Großtante Lotte regelmäßig. Wir fuhren mit dem Auto nach Wedding, überquerten am Checkpoint Wollankstraße die Sektorengrenze, fuhren mit der Straßenbahn und bogen dann von der Grabbeallee links in die Tschaikowskistraße. Im Westen der Stadt kannten wir niemand mit Garten und so freute ich mich auf die Besuche, Tomaten und Erdbeeren zu ernten war für mich Stadtjungen toll. Oft kam Tante Lotte auch zu uns nach Wilmersdorf, stets schmuggelte sie Schnitzelfleisch unter ihrem Hut, um ihre Spezialität, herrlich dünne in guter West-Butter ausgebratene Schnitzelchen zu bereiten. Am 13. August enden diese wechselseitigen Besuche, eine nahezu unüberwindliche Mauer teilt plötzlich meine Heimatstadt.
Die “große” Notburga
Wolfgang Kluge
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1961 kommt Wolfgang, ein Neffe meines Vaters mit seiner Frau, von uns die “große” Notburga genannt, mit ihren Töchtern nach Deutschland. Anscheinend hat die Ausländerfeindschaft nach den Fall von Diktator Marcos Pérez Jiménez 1958 dazu gedrängt, Venezuela zu verlassen. .Zuerst wohnen sie bei uns, mein Bruder Thomas und ich freuen uns über zwei “Schwestern”. Wir Kinder hausen im großen Wintergartenzimmer in der Wohnung am Volkspark, in die wir 1960 zogen. Wir unterhalten uns in einem Mischmasch von drei Sprachen, deutsch, spanisch und englisch. 1962 bin ich acht, Ingrid ist zehn, die “kleine” Notburga ist zwölf und Thomas ist 14, eine tolle Zeit.
Marcus, Ingrid, Notburga, Thomas
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Wolfgang und die große Notburga bringen einen Hauch von weiter Welt ins provinzielle West-Berlin. Notburga ist stets modisch gekleidet, sie wirkt etwas wie die große Schwester von Audrey Hepburn. Wolfgang wird zu meinem ersten männlichen Modevorbild. Er sieht aus wie der amerikanische Bruder von O.W.Fischer, ist immer leicht gebräunt, die kurzen Haare mit Pomade zurückgekämmt. Er trägt sorgsam gebügelte amerikanische Oberhemden in Pastellfarben, in den Brusttaschen Zigaretten und Feuerzeug. Seine ruhige, coole Art hebt sich angenehm von der Berliner Ruppigkeit ab, er betreibt Yoga, jedesmal wenn er anruft und mich am Apparat hat, erkundigt er sich freundlich nach meiner Befindlichkeit und hat keinerlei Eile. Bald arbeitet er für eine US-amerikanische Charterfluggesellschaft, “Saturn Airways”, die fliegt die Berliner nach Mallorca und an die Adria, die Ära der Pauschalreisen beginnt.
Da wir Tante Lotte nicht mehr besuchen können, beginnen die große Notburga und Wolfgang regelmäßig in die Tschaikowskistraße zu fahren. Sie halten den Informationsaustausch zwischen den Familienteilen aufrecht. Neben Lotte lebt ja auch die andere Schwester meiner Oma, Martha mit ihrem Mann Adolf im Osten, in Bad Liebenwerda, dem Geburtsort der drei Töchter des Schuhmachermeisters Schnelle.
Notburga versteckt Tante Lottes Schmuggelgut
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50 Jahre später, am 4. Dezember 2013 besuchen mich Journalisten vom Daily Telegraph, um mich zu meinen Erinnerungen an das erste Passierscheinabkommen zu befragen. Tom Rowley, der Magazinartikel für das Blatt schreibt, der ausgezeichnete Fotograf Geoff Pugh und der sympathische junge Dolmetscher William Pimlott, der mein Blog im Internet fand und den Kontakt hergestellt hatte. Aus dem 90 Minuten langen Gespräch kondensiert Tom Rowley neun Zeilen:
-Another Berliner who was a boy at the time, Marcus Kluge, likewise recalls the impact of that Christmas, when, as a nine-year-old, he went to visit his great aunt, Lotte, with his parents. “I can remember feeling that it was fantastic that somewhere in this great wall there was now a hole,” he says. “There were cakes, schnitzel, coffee, and lemonade for me.” Still, he was saddened not to reprise his pre-wall gardening job. “I was disappointed because I thought there would be some tomatoes ready to pick in the garden. It hadn’t occurred to me they wouldn’t be there in winter; we did go out briefly, but it was just too cold to stay.”
All three recall how quickly their hours together passed, and their distress at leaving their relatives behind in time to cross back to the West before the deadline.-
Nach 1963 beschließt Tante Lotte in den Westen überzusiedeln. Die DDR läßt Rentner gehen, die kosten ja nur. Mein Cousin Wolfgang Kluge und seine Frau Notburga, die venezolanische Pässe haben, schmuggeln Schmuck, Domumente und anderes für Tante Lotte in den Westen. Unter anderem den Siegelring von Onkel Paul mit dem Blutjaspis, den ich heute noch trage. Die märkische Kieferlandschaft, gemalt von Walter Leistikow, die Perserteppiche und die schönen Möbel können sie nicht über die Grenze bringen, sie werden die Wohnung eines SED-Bonzen schmücken.
1964 kommt der Sohn von Wolfgang und Notburga, Johannes Kluge, zur Welt. Er wird in Österreich geboren, nie soll er eine deutsche Uniform tragen. Das ist die Lehre, die seine Eltern aus Weltkrieg und den Verbrechen des Dritten Reichs, gezogen haben. Zurück in Berlin wird das Baby beim Schmuggel helfen. In seinem Kinderwagen kann man besonders gut Konterbande verstecken.
Johannes W. Kluge (Sohn von Notburga und Wolfgang Kluge) erinnert sich: “Da wir Venezolaner waren wurden wir nicht so sehr gefilzt. Aber beim letzten mal ist ihnen doch das Herz in die Hose gesunken als ein Vopo “Halt, stehenbleiben” schrie und hinterher lief. Als er sie erreicht hat, sagte er “Dem Kleinen ist der Schuh runtergefallen, das wäre doch schade wenn’s verlorengeht”…
Johannes. Tante Martha und Tante Lotte
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1965 zieht Tante Lotte schließlich zu ihrer Schwester Elisabeth, meiner Oma, in die Prinzregentenstr. 21A in Wilmersdorf. Als Witwe eines Polizeioffiziers bekommt sie eine stattliche Rente. Sie hilft die ersten Käfer meines Bruders zu finanzieren. Zum Dank unternimmt er mit seinem VW Reisen mit den beiden alten Damen. Die beiden Schwestern haben eine gute Zeit zusammen. Sie streiten sich zwar, aber versöhnen sich immer wieder, wie ein altes Ehepaar. Tante Lotte stirbt 1980 im Schlaf. Meine Oma hat es nicht so gut, bevor sie 1985 stirbt, lebt sie einige Jahre dement im Altersheim. Tante Martha, die dritte der Schnelle-Schwestern stirbt in Bad Liebenwerda, nachdem sie uns in den 70ern nochmal in West-Berlin besucht hat.
Notburga, Tante Lotte, Johannes und Oma in der Prinzregentenstraße in Wilmersdorf 1965
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Tante Lotte und Onkel Paul, ihre Geschichte und Pauls tragisches Ende:
Der Artikel zum Passierscheinabkommen:
Editorial – „Sechzig Null“ / Ein Toast und ein Text
(Foto: Ingrid Johnson)
“Life’s but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage, and then is heard no more. It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.” William Shakespeare, Macbeth
Mögen wir an Werktagen das Leben häufig so sehen, wie Shakespeare in dem grimmigen Zitat, welches ich als Motto gewählt habe.
An Sonntagen und Feiertagen ist unsere Sicht versöhnlicher, wir sehen Sinn in unserer Existenz, selbst wenn es nur das Leben ist, an dem wir hängen und das uns Sinn genug sein mag.
Ich arbeite nur noch, was ich mir selbst auftrage, jeder Tag ist Werk- und Sonntag zugleich für mich. Ich versuche dem Lärm und Zorn des schlechten Schauspielers namens “Leben” Bedeutung abzugewinnen, mit wechselndem, aber merklichen Erfolg. Dass ich wieder schreiben darf und Leser finde, stimmt mich wohl milde, die Selbstzweifel bleiben vertraute Begleitmusik, manchmal verstummen sie sogar.
“Something wicked” kreuzt früher oder später ohnehin unseren Weg, also lasst uns an Feiertagen das Leben als magisches Schattenspiel betrachten und darauf trinken.
Aus Anlass des runden Geburtstages reblogge ich einen Text, der das Auf und Ab unserer “einzigen Stunde” hier unten, an meinem Beispiel illustriert. Tatsächlich der einzige Text, in dem ich mich an mein gesamtes Berufsleben, vom Schulverweis 1970 bis zum Sender-Ausstieg 2003, erinnere.
Berlinische Leben – “Achterbahn und heiteres Beruferaten” / von Marcus Kluge
1985 hält die mediale Zukunft Einzug in West-Berlin, ein sogenanntes Kabelpilotprojekt wird gestartet. Das ich Teil davon sein werde, kann ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Ich bin 30 und hatte noch nie eine “richtige” Arbeit, also nie fulltime gearbeitet und nie rentenversichert, Ich hatte mich mit Aushilfsjobs durchgeschlagen, nachdem ich Anfang 1970 vom Gymnasium verwiesen wurde, weil man Härte gegen einen politischen Rädelsführer demonstrieren wollte. Ich war bei weitem nicht der Einzige, beispielsweise meinem Schulfreund Burkhardt, dem späteren “Zensor” ging es genauso. Der rappelte sich wieder auf, er begann selbstgemachte Kerzen am Kudamm zu verkaufen und erfand sich dann “Plattenguru” neu. Ich war nicht so flexibel. Ohne Abi und Studium machte eine Karriere keinen Sinn für mich. Ich war auch irgendwie eingeschnappt oder blockiert. Ich versuchte es probeweise als Tankwart, Babysitter, Altenpfleger, Werbetexter, Verkäufer und Journalist, ohne das mir dieses “Was bin ich?”-Spiel Spaß machte und ohne überzeugenden Erfolg in einer dieser Professionen.
1985, zwei Tage vor Beginn der Funkausstellung wird am 28. September in 218000 Haushalten ein zusätzliches Angebot, bestehend aus 12 TV-Sendern freigeschaltet. Neben öffentlich-rechtlichen Sendern, wie WDR oder dem Bayerischen Fernsehen sind erstmals auch private Sender am Start, allen voran RTLplus und SAT.1. Ich ahne nichts Gutes, besonders was die Privaten angeht. Außerdem will man in Berlin einen frei zugänglichen Bürgersender ausprobieren, den Offenen Kanal Berlin. Dieses “demokratische Feigenblatt”, so sehen es Medienkritiker, wird mein Leben für fast zwei Jahrzehnte verändern und bestimmen.
Am 28. August 1985 wird auch der Offene Kanal Berlin eröffnet und etwas später macht mich Frank darauf aufmerksam, dass man dort Produktionsmittel für Videoprojekte kostenlos ausleihen kann. Einzige Bedingung ist, die fertigen Produktionen auch dort ausstrahlen zu lassen. Damals gab es außer Super8, was mich nie gereizt hat, noch keine preiswerten Kameras. Videocamcorder waren für Amateure kaum bezahlbar, so das diese Möglichkeit mich sofort begeisterte. Und da wir mit einem Fernsehsender kooperieren wollten, erschien es mir logisch auch ein Fernsehformat zu schreiben. Mit Herbert zusammen hatten wir ja schon in unseren Hörspielen das Detektivthema aufgegriffen. Mein Pseudonym Sherlock war ja kein Zufall. Also beginnen Herbert und ich eine Detektivserie zu schreiben, eine wüste, anarchische Parodie. “Bum Bum Peng Peng” handelt von einem eingebildeten Detektiv namens Bernhard Bernhard und seinem kindischen, tennisverrückten Assistenten Bum Bum Boris. Die Rolle des Bösewichts schreibe ich mir selbst auf den Leib, sie heißt Hendrik Marinus van Loon, der “Eierkaiser”. Es war die Zeit der Lebensmittelskandale, Birkels hochgeschätzte Eiernudeln waren eben wegen verseuchtem Flüssigei ins Gerede gekommen. Meine Gehilfen, “Cash & Carry”, werden von einem befreundeten, schwergewichtigem Biker und dem Musiker und Hörspielautor Caspar Abocab verkörpert.
Auch sonst tut sich etwas in meinem Leben. Es ist eine Zeit des Umbruchs, ich spüre das ich unzufrieden bin. Seit fast sieben Jahren bin ich mit meiner Freundin Ute in einer wechselhaften Beziehung. Ende 1985 werde ich krank. Es geht abwärts. Ich fühle mich wie ein alter Opa, habe Schmerzen und liege wochenlang im Bett, weil mir jede Kraft fehlt. Mein Arzt murmelt etwas von einem Infekt, den mein Körper nicht abwehren kann. Mit Ute gab es wieder Streit, wir haben uns zwei Monate nicht gesprochen. Ich bin abgebrannt und es fehlen Kohlen, um die Bude zu heizen. Einen Tag vor Weihnachten liege ich frierend im Bett und sehe Tarkowskys Film “Der Spiegel”. Da ruft mich Ute an, wir reden zwei Stunden miteinander, wir beschließen wieder zusammen zu ziehen und es diesmal richtig zu machen. “The Full Monty”, in unserem Fall: wir werden heiraten. Es geht wieder aufwärts.
(Um die Bilder größer zu sehen, einfach daraufklicken)
Im Frühjahr 1986 drehen wir mit Herbert, Frank und vielen weiteren Freunden und Bekannten den Pilotfilm von “Bum Bum Peng Peng”. Wir leihen uns beim OKB eine Videokamera mit U-Matic-Porti aus, ein semiprofessionelles Format mit dreiviertel Zoll-Band, mit dem man sehr gute Ergebnisse erzielen konnte. Ein paar Jane-Beams mit Stativen besorgen wir uns, um die Szenenbilder auszuleuchten. Nachdem der 30 Minuten lange Beitrag im Kabelfernsehen gezeigt wird, bekommen wir gutes Feedback und ich schreibe eine erste Staffel “Bum Bum Peng Peng”, die aus drei Episoden bestehen soll.
Gleichzeitig bin ich auf Jobsuche. Den Minijob in einem Buchladen habe ich nach fünf Jahren verloren, nachdem ich einen etwas kleingeratenen Chef aus Wessiland “Gartenzwerg” nannte. Ich schreibe über 70 Bewerbungen, besonders interessiert mich etwas im öffentlichen Dienst. Es ist wie ein mehr oder weniger heiteres Beruferaten, ich frage mich bei jedem Angebot, wäre ich bereit diesen Job zu machen? Ehrlich müsste ich sagen, nee, nicht wirklich, aber ich bin in einer Zwangslage und langsam werde ich mürbe. Am Ende bewerbe ich mich für wirklich jeden Job. Zum ersten Mal denke ich an meine Rente, ohne Zusatzversicherung würde ich im Alter aufs Sozialamt gehen müssen. Ich trete zu Bewerbungsgesprächen an, aber ich passe in keine Schublade, die die Chefs, denen ich mich vorstelle, so im Kopf haben.
Am 1. Juni ist Drehbeginn für die Fortsetzung der Krimiserie. Der Stab und die Schauspieler haben sich freigenommen, alle werden ohne Gage arbeiten, ich will Regie führen. Eine Woche vorher bekomme ich Post von der Hochschule der Künste. (Heute UdK) Sie wollen mich unbefristet, in Vollzeit und im Schichtdienst als Pförtner beschäftigen. Der Gedanke als Pförtner zu arbeiten ist mir sehr unbehaglich. Ich tröste mich damit, das ich als Kartenabreißer auf Konzerten etwas ähnliches tat und das das Umfeld einer Kunstuni vielleicht ganz spannend ist.
Die Arbeit ist einfach, doch meine Sozialphobie macht mir zu schaffen. Unter den ausschließlich männlichen Schultheiss-Berlinern, die meine Kollegen sind, bin ich ein unpassender Fremdkörper und das zeigt man mir auch. Zu allem Übel ist einer der Pförtner ein echter Nazi. Ein hochintelligenter Choleriker, anders als die stumpfen Nazi-Skins, die mir bisher über den Weg gelaufen sind. Schulz ist früher Kran-Führer gewesen, aber nachdem er betrunken aus seinem Führer-Häuschen gefallen ist, schwerbehindert. Obwohl der Mann fast täglich vor Studenten die Auschwitzlüge verbreitet, gilt er als unkündbar, wegen seiner kaputten Beine. Die linken Professoren, die ich anspreche, erklären mir sie könnten als Beamte nicht eingreifen, weil der Mann “Lohnempfänger” sei, was im Unijargon für Arbeiter steht.
Der Schichtdienst ist auch nicht ohne, bis Mitternacht arbeiten und zwei Tage danach um halb sechs morgens anfangen. Jede zweite Woche darf ich auch am Sonnabend antreten.
Durch die Arbeit kann ich bei den meisten Szenen nicht Regie führen, sogar in meiner Rolle als Eierkaiser werde ich gedoubelt. Frank übernimmt die Regie, macht das ganz ordentlich, aber vieles steht nicht im Script und was ich nur im Kopf habe, wird nicht umgesetzt.
Sechs Wochen später, am 10. Juli 1986 heiraten Ute und ich im Rathaus Schöneberg.
In den nun folgenden zwei Jahren mache ich mehrere Dutzend Sendungen für den OKB. Ich bin in meinem Element, ich probiere Satire, Kabarett und auch ernsthafte Talkshows und Magazinsendungen aus. Mit Volker Hauptvogel drehe ich im Pinguin-Club eine Reihe Film-Clips, ich parodiere Kohl und verteidige mit Hitlerbärtchen Uwe Barschel*, den man eben tot in einem Genfer Luxushotel gefunden hat. Allerdings fühle ich mich nirgendwo mehr zu Hause, es gibt keinen Ort mehr an dem ich mich wohlfühle und an dem ich mich entspannen kann. Ich werde immer depressiver und gestresster, ich bin wohl doch nicht für die Ehe gemacht. 1988 ziehe ich einen Schlussstrich, zuletzt hatte ich ernsthaft Angst, ich könne mir etwas antun. Ich ziehe aus und übernehme moralisch die Schuld. Immer wieder habe ich seitdem nachgedacht, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe, doch dann wird mir wieder bewusst, wie verzweifelt ich war und das mein Entschluss alternativlos war. Dennoch war es sicher die schwerste Entscheidung meines Lebens.
Wie so häufig im Leben liegen Tragik und Glück eng nebeneinander. Bei meiner Trauer über das Scheitern der Ehe, für das ich mir die Schuld gebe, bekomme ich ein Angebot. Nach steiler Abwärtsfahrt sehe ich wieder den Himmel. Nachdem ich immer davon geträumt habe, Film oder Fernsehen professionell zu betreiben, wohl wissend das meine formale Qualifikation dafür nicht ausreicht, fällt mir ein Angebot in den Schoß. Im Offenen Kanal Berlin, wo ich seit zwei Jahren als unbezahlter und ungerufener “Nutzer” Programme produziere, ist eine Stelle frei. Meine Freunde Anette und Frank, die beide dort festangestellt sind, berichten mir davon. Es geht um die Disposition, den Knotenpunkt im Sender, an dem sämtliche Produktionen und Sendungen terminiert werden und an dem neue Nutzer aufgenommen werden und ihre erste Beratung bekommen. Für die Nutzung braucht man nur gültige Papiere, andere Vorbedingungen gibt es nicht und außerdem ist alles kostenlos. Die Aufgabe diesen Sender zu organisieren und zu verwalten scheint mir ungeheuer reizvoll und ebenso gewaltig, äh, gewaltig. Auffällig ist jedenfalls, dass sich noch keinen Interessenten gibt, der den Job ernsthaft haben möchte.
Ich spreche mit Anette, die den OKB aufgebaut und geleitet hat, bis die Medienanstalt einen Leiter installiert hat. Sie erklärt mir die Aufgabe, weist darauf hin, dass es darum geht, bürokratische Normen umzusetzen und das es dabei keinerlei kreative Spielräume gibt. Sie signalisiert auch Vertrauen, dass ich die Aufgabe bewältigen könne, hat aber einen Vorbehalt. Als Freundin gibt sie zu Bedenken, ich könne meine Talente, das Schreiben, Spielen und das Inszenieren nicht mehr ausüben. Nicht im Job und auch nicht nebenbei, weil ich ersteinmal keine Zeit und Kraft hätte, etwas anderes zu machen. Und sie befürchtet, dass ich dabei Schaden nehmen könnte. Sie hatte Recht, ich nahm Schaden, nur dauerte es viele Jahre, bis ich es merkte. Und als ich es dann merkte, war es zu spät um das Ruder noch herum zu reissen. Ich hätte mir wohl nie verziehen, die Chance auszuschlagen, im Februar 1988 bewerbe ich mich um die Vollzeit-Stelle “Disposition OKB”.
Die Vorteile überwiegen in meinen Augen, mir schien die Stelle eine Art Traumjob zu sein. Allerdings war ich eher skeptisch, dass meine Bewerbung Erfolg haben würde. Normalerweise stellt der Sender studierte Kandidaten ein. Ich aber hatte noch nicht mal Abitur, weil ich nach der 68er Revolte kein West-Berliner Gymnasium mehr besuchen durfte und mein einziger Abschluss daher die Mittlere Reife war. Außerdem war meine berufliche Vita mehr oder weniger nicht existent, da ich zehn Jahre lang von Hilfsjobs und ein wenig Schreiberei gelebt hatte. Dazu kam, dass mir der neu installierte Leiter des OKB nicht gerade sympathisch war. Ich hielt J.L. sogar für eine absolute Fehlbesetzung.
Das erste Mal hatte ich J.L. Während der Funkausstellung 1987 bei einer Diskussion über die Zukunft des Berliner Bürgersenders beobachtet, in der er eine sehr schlechte Figur machte. Später wurde er zu einem aufrechten Lobbyisten für die Sache des Bürgerfunks, aber damals hielt ich ihn für fehl am Platz. Ich hätte es für fair und für die Zukunft des Senders am förderlichsten gehalten, wenn Anette Fleming Leiterin geworden wäre, die beim Aufbau des OKB einen tollen Job gemacht hatte. Zusammen mit dem OKB waren ja auch die “Havelwelle” und die “Kabelvision” gestartet, mit denen der OK anfänglich die Frequenz teilte. Da beide Projekte desaströs scheiterten, wurde dem OKB mit Wirkung am 1. Januar 1986 die Frequenz allein übertragen, ein Erfolg der vor allem der Leistung von Anette Fleming zu verdanken war. Doch Anette war nicht interessiert eine Leitungsaufgabe zu übernehmen, sie zog es vor im Kontakt mit der Basis zu bleiben. Ohnehin war es eine politische Entscheidung und die Politiker hatten ein bißchen Angst, vor der von ihnen geschaffenen Kreatur des “freien Zugangs zu Radio und Fernsehen”. Da sollte ein gestandener Verwaltungsmensch als Leiter allzu großer Freizügigkeit bürokratische Fesseln anlegen.
Ich habe es vielleicht nie im Leben zu wahrer Virtuosität gebracht, egal worin. Vielleicht bin ich zu streng mit mir, aber Tatsache ist und war, dass ich oft sprunghaft von einem Metier ins nächste sprang, wo Ausdauer und Beharrlichkeit besser gewesen wären. In einem war ich allerdings immer groß, wenn es darauf ankam, konnte ich stets einen guten Eindruck hinterlassen. Also saß ich vor dem Leiter des OKB und machte aus meinem Leben eine Erfolgsgeschichte, die gerade dazu geschaffen war von einer Tätigkeit als Dispositeur des Berliner Bürgerfunks gekrönt zu werden. Es kam mir zugute, dass J.L. gern Leute engagierte, die ein wenig unterqualifiziert waren.
Tatsächlich bekam ich die Stelle. Es war mir ein Vergnügen, meinem großspurigen Hausmeister-Chef mitzuteilen, dass ich, als Pförtner des neoklassizistischen Baus in der Bundesallee, nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Ich wurde zwar gewarnt, an einem 15. März eine neue Stelle anzutreten. Ich war aber sicher, mir würden die “Iden des März” zum Glückstag werden, anders als für Julius Ceasar, der diesen seinen Unglückstag nicht überlebte.
Also begann ich am 16. März im Offenen Kanal Berlin zu arbeiten. Mit Dr. Bismarck von der Pilotgesellschaft für Kabelkommunikation hatte ich ausgemacht, dass ich für verbleibenden zwei Märzwochen pauschal 1000.- DM bekommen sollte. Ich bekam das schönste Büro, ein Eckbüro mit Sicht auf den Humboldt-Hain, schrieb Sendepläne und vergab Kameras, Schnittplätze, Hörfunk- und Fernseh-Studios. Welchen Sprung ich gemacht hatte, merkte ich als mich Burkhardt Seiler vom Zensor-Label besuchte. Sechs Jahre zuvor hatte ein Praktikum beim “Zensor”, in dessen legendären Plattenladen gemacht, ich stellte mich ziemlich blöd an, konnte kaum etwas und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Drei Jahre machte ich die Dispo für beide Sender, Hörfunk und Fernsehen. 1991 wechselte ich in den Produktions- und Sende-Betrieb.
Es war überwiegend so etwas wie ein Traumjob für mich, bis ich 2003 aus gesundheitlichen Gründen das Handtuch werfen musste. Die letzten zwei Jahre waren traurig, ich hatte ständig Rückenschmerzen, kämpfte mit Depressionen und hatte den Eindruck nicht mehr richtig schlafen zu können. Trotzdem hätte ich den Absprung allein nicht geschafft. Ich hatte das Glück an eine kluge Ärztin zu geraten, die mir den Ausstieg nahelegte. Schon lange merkte ich, dass meine Leistungsfähigkeit nachließ. Um mich zu motivieren gab mein Chef mir Aufgaben für die On-Air-Promotion des Senders. Ich durfte wieder on-air gehen, Interviews drehen. Ich bespielte eine Nachtsendeschiene, für “Werkschau” hatte ich über 80 Stunden Sendezeit pro Woche zu füllen. Mit meinem talentierten Kollegen Juan Aballé drehte ich einen schönen Trailer dafür. Juan hatte bei Kamera und Schnitt hervorragende Arbeit gemacht. Beim Screening klopften mir die Kollegen auf die Schulter, aber innen drin war ich unzufrieden mit meiner Leistung vor der Kamera. Ich merkte, mir fehlte Schwung, Leichtigkeit und Durchsetzungskraft. Im heißen Sommer 2003 war ich sieben Wochen in einer Reha-Klinik in Thüringen. Die Ärzte und Psychologen empfahlen eine Umschulung. Erneut spielte ich heiteres Beruferaten, diesmal mit meiner Reha-Beraterin, das Glücksrad blieb bei “Event Manager” stehen und ich lernte einen neuen Beruf. Ich konnte mich nicht bei meinen Kollegen vom OKB verabschieden. Ich brachte es nicht fertig, als “Gescheiterter” unter ihre Augen zu treten. Der Ausstieg war heftig für mich, ich habe jahrelang noch Albträume davon gehabt. Erst jetzt, zehn Jahre später, habe den nötigen Abstand, um diesen zweitschwersten Entschluss meines Lebens, schreibend zu verarbeiten.
Übrigens, den Offenen Kanal Berlin gibt es noch, er nennt sich jetzt Alex**, ist aber immer noch im Wedding in der Voltastraße 5 und sendet im Kabel. Einige meiner großartigen Kollegen arbeiten immer noch da, z.B. Karin, Mischka oder Frank. Andere ebenso feine Ex-Mitarbeiter haben es, wie ich, vorgezogen weiterzuziehen, wie etwa Anette, Dirk und Wobser, an dessen “Ausstieg” ich mich noch deutlich erinnere, obwohl er fast 20 Jahre her ist. Wobser machte Urlaub auf einer griechischen Insel, als ihn die Erkenntnis traf, er brauche Veränderung in seinem Leben. Er flog einfach nicht zurück, schlief eine zeitlang am Strand. Irgendwann lernte er eine englische Touristin kennen, verliebte sich und flog mit ihr nach Groß-Britannien, wo er immer noch glücklich mit ihr zusammenlebt.
Dieser Artikel wird in wenigen Tagen mit einem neuen, zweitem Teil fortgesetzt. “Nackte, Nazis, Nervensägen” erzählt von den skurrilen Nutzern des OKB und ihren schrägsten Sendungen und der merkwürdig verzerrten Wahrnehmung des Senders durch die Berliner Medien.
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Die Illustrationen sind teilweise der Studie “Mach dein eigenes Programm”, aus dem Jahre 1989, von Hans-Joachim Schulte entnommen.
*Meine “schrägste”, die Barschel-Sendung:
https://marcuskluge.wordpress.com/2014/02/24/er-tat-nur-seine-pflicht/
**Alex OKB:
Familienportrait – Building West-Berlin / Black & White Photographs from 1960 / Part 1 & 2
Weinhandlung Bundesallee Ecke Am Volkspark
Blissestraße Ecke Brandenburgische Straße
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Colour Photographs from the late 50s:
Family-Portrait / Childhood Revisited / Colour photographs from the late 1950ties
Berlinische Leben – „Halber Mensch“ / Die Poesie des Unfertigen / 9.11.1989
28 Jahre habe ich auf der Insel West-Berlin gelebt, die die Mauer wie ein feindlicher Ozean umgrenzte. Heute vermisse ich dieses West-Berlin. Vielleicht könnte man dieses Gefühl „Westalgie“ nennen. Denn im Gegensatz zur Ostalgie, die einem maroden System voller Spitzelei und Kleinbürgerlichkeit huldigt, erinnert uns die „Westalgie“ an eine Welt, in der das Meiste gut und nur weniges schlecht war. Das ist jedenfalls mein Eindruck, wenn ich zurückdenke.
Es ist nun ein Vierteljahrhundert her, dass dieses West-Berlin Geschichte wurde und die Erinnerung neigt dazu, die Dinge schönzufärben. Umso länger sie vergangen sind, umso schöner scheinen sie zu sein. Trotzdem ist auch diese Erinnerung real, wir erfinden ja nichts. Wenn ich etwas besonders an West-Berlin geschätzt habe, dann war es die Vorläufigkeit, die das Leben dort hatte. Nicht nur die Personalausweise waren behelfsmäßig und der Status der Stadt vorläufig. Ich habe mein ganzes Leben dort als vakant und nicht festgelegt empfunden. Ich führte ein halbes Leben, ohne Zukunft und Pläne, ich war ein Halber Mensch, aber diese Unfertigkeit gefiel mir gut. Ich brauchte mich auf nichts festzulegen. Denn jederzeit hätte ich im Radio folgende Nachricht hören können:
„Starke Militärkräfte des Warschauer Paktes bewegen sich auf West-Berlin zu. Die Westalliierten versuchen die Halbstadt solange zu halten, bis West-Berlin evakuiert ist. Bleiben sie zu Hause, bis ihnen mitgeteilt wird, wann sie und von welchem Flughafen sie ausgeflogen werden. Jeder Berliner darf ein Gepäckstück bis 15 Kilo Gewicht mitnehmen, für Kinder gelten 10 Kilogramm.“
Es wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, es gab gute Gründe mit einer weiteren Berlin-Krise zu rechnen. Es wäre die vierte gewesen. Erst war da die Blockade, die Krise Nummer eins. 1958 stellte Chrustschow ein Ultimatum, die Krise Nummer zwei. Damals wurde meinen Eltern ein kleine Villa im Grunewald für 20 000 D-Mark angeboten. Sie hatten das Geld nicht und selbst wenn, hätten sie das Haus wohl nicht gekauft, denn sie mussten damit rechnen, kurz danach von den Russen enteignet zu werden. Der Mauerbau wurde dann die dritte Krise und eine 28 Jahre währende Warnung.
Ich war mir einer potentiellen Bedrohung immer bewusst und benutzte sie als eine Entschuldigung meinem Leben etwas Vorläufiges und Offenes zu verleihen. Mit 18 war ich mit der Schule fertig, Abitur und Studium waren mir versagt und es dauerte 14 Jahre, bis ich mit 32 den ersten regulären Vollzeitjob antrat und eine Familie gründete. Bis dahin habe ich so gelebt, als ob es kein Morgen gäbe. Natürlich hatte diese Art zu leben auch etwas Trauriges, aber es entsprach meinem Naturell und ich habe es als stimmig empfunden. Man kann West-Berlin auch als einen ungeplanten sozialen und psychologischen Feldversuch sehen. Wie entwickeln sich Menschen, die in einer ummauerten Stadt wohnen, deren Familien getrennt oder zerfallen sind? Und die gleichzeitig mit der Entfremdung einer hochtechnisierten Gesellschaft im Kapitalismus leben und beobachten können, dass die realsozialistische Versuchsanordnung im Osten der Stadt auch nicht funktioniert. Sie leben als ob nichts wäre. Die Mehrheit macht einfach weiter. Doch Einzelne und subkulturelle Gruppen ziehen ihren Vorteil aus den Eigenheiten der Lage. Die spezielle Freiheit zieht sogar Künstler an. Bekannte wie David Bowie und noch unbekannte wie Wolfgang Müller, der die Stadt wie einen Therapieplatz empfand, als er in den 70ern kam. Neben dem Kapitalismus, wörtlich darunter, bildete sich eine Subkultur, bei der das Geld verdienen zuletzt kam. Brachen und Sub-Standard-Immobilien boten viel Platz für Experimente. Für meine 30 Quadratmeter-Wohnung in der Rheinstraße zahlte ich 1977, 40 Mark Miete, im Monat! An solchen Möglichkeiten mangelt es heute und Freunde und Bekannte von mir ziehen traurigen Herzens aus Berlin weg, weil sie die Mieten und Lebenshaltungskosten nicht mehr aufbringen können.
Ich arbeitete damals 16 oder maximal 20 Stunden in der Woche in den verschiedensten Jobs und hatte meist um die 500 D-Mark zur Verfügung. Das reichte für ein bescheidenes, aber stressfreies Dasein. Sozialhilfe oder andere Beihilfen habe ich nie bezogen, manchmal steckte mir meine Mutter etwas zu. Ich las viel, flanierte durch die Stadt und verbrachte Zeit in Cafés und Discos. Mit Mitte 20 wurde es etwas langweilig, ich fing an zu schreiben und stellte merkwürdige Projekte auf die Beine. Fanzines, Tonträger, Hörspiele, Veranstaltungen und schließlich Filme.
Gab es auch Schlechtes an West-Berlin? Natürlich, das eingesperrt sein, kein Umland zu kennen, die Winter, in denen Berlin ungeheuer trist sein konnte und in denen einem die Braunkohle und der Trabimief den Atem nahmen. Dazu war Berlin nie eine sehr freundliche Stadt, genauso wie in Wien oder New York war hier der Ton stets ruppig. Das mit-einander-umgehen kostete Nerven und selbst als Insel im Sozialismus war West-Berlin eine schnelle Stadt, die einen mit ihrem Tempo ansteckte. Trotzdem war die Mauerstadt soviel beschaulicher als die neue Hauptstadt der Berliner Republik.
Am Abend des 9. November 1989 war ich mit einer Freundin in einem Restaurant in der Nürnberger Straße essen gewesen. Gegen Mitternacht ging ich auf Nebenstraßen den kurzen Weg zur Lietzenburger Ecke Joachimsthaler Straße, wo ich damals wohnte. Es roch ungewohnt, sonst fiel mir nichts auf. Erst später realisierte ich, das der Dunst von Zweitakter-Gemisch in der Luft lag. Daheim zog ich mich aus, putzte die Zähne und schaltete nebenbei den Fernseher an. Die Stimmen, die aus der Kiste kamen klangen aufgeregt, im vorbeigehen schaute ich auf den Bildschirm und sah das Kranzler-Eck, 400 Meter entfernt, irgendetwas war los. Es war voll auf dem Kudamm, lustige kleine Autos fuhren herum und alle waren aufgeregt. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich begriff, dass die Mauer durchlässig geworden war.
In wenigen Minuten hatte ich mich wieder angezogen, dann lief ich zum Kranzlereck. Etwa drei Stunden stand ich da, umarmte fremde Menschen, trank mit ihnen Rotkäppchen-Sekt, immer wieder liefen mir Freundentränen über die Wangen. Tatsächlich weinte ich zum ersten Mal seit neun Jahren, das letzte Mal hatte ich geweint, nachdem am 8. Dezember 1980 John Lennon erschossen wurde, doch damals weinte ich aus Trauer, nun weil mir ein Stein vom Herzen fiel, von dem ich gar nicht gewusst hatte, das er da war. 28 Jahre hatte ich mit der Mauer gelebt, mein gesamtes Leben als „zoon politikon“, als politisch denkendes Wesen. Sieben war ich beim Mauerbau und es war die erste Erfahrung, die ich mit Politik und Geschichte hatte. Und natürlich hatte sie mich geprägt. Es gab da eine Enge in meiner Brust. Das Gefühl einer tatsächlichen oder vermeintlichen Behinderung, wegen derer ich mein ganzes Leben nur als vorläufiges sah. Eine Behinderung, die dann enden würde, wenn auch die Teilung von Land und Stadt endete. Nun war es soweit.
Aber erstmal dachte ich nicht an das Persönliche, zunächst versuchte ich das Historische einzuordnen. Ich wünschte der DDR und seinen Bürgern einen eigenen, dritten Weg. Noch nichts ahnte ich vom Dammbruch der Werte, vom Sog der D-Mark. Nichts ahnte ich davon, dass es die DDR ein Jahr später nicht mehr geben würde, dass ausgerechnet Helmut Kohl das realsozialistische Land im Sturm erobern würde, ich konnte es mir nicht vorstellen in dieser Nacht der Emotionen.
Ein halbes Jahr vorher, im Frühsommer ’89 hatte ich den Eindruck, dass sich in der Hauptstadt der DDR etwas tut. In Mauerzeiten bin nie viel in Ost-Berlin gewesen. Ich fand es deprimierend und vor ’86 konnte ich mir den Zwangsumtausch von 25.-DM kaum leisten. Nun fuhr ich öfter rüber, meistens mit meiner Freundin Helene. Wir merken bald das Doc Martens Stiefel ein KO-Kriterium sind und ziehen neutrales Schuhwerk an. Die Grenzer schielen zwar auf Helenes bunte Strähnen im blondierten Haar, doch weder die Schablone Skinhead noch die des “Punkers” passt auf uns und wir dürfen rein, ins realsozialistische Vergnügen.
Bei unserem ersten Besuch gehen wir auf ein Straßenfest im Ernst-Thälmann-Park. Das scheint eine angenehme Nachbarschaft zu sein. Entspannte, freundliche Berliner, sogar lesbische und schwule Päarchen, die sich nicht verstecken. Das das nicht typisch ist für die DDR oder auch Ost-Berlin ist, ist uns natürlich klar. Wir reden mit ein paar jungen Leuten, die sich vorsichtig, oder aus Mangel an Material, nur leicht punkig gestylt haben. Eine junge Frau fragt Helene nach ihren Haaren. Nicht die bunten Strähnchen interessieren sie, die sind ohnehin utopisch, nein, wie Helene ihren Schopf blondiert möchte sie wissen. Es dauert bis Helene bewusst wird, dass man hier sowas nicht einfach im Drogerie-Markt kaufen kann. Schliesslich empfiehlt sie Wasserstoffperoxid. Davon hat die junge Frau noch nie gehört. Dieses unwesentliche Rencontre mit der Realität des Sozialismus gibt Helene zu denken. Ein Land, in dem Frau ihre Haare nicht ordentlich blondieren kann, ist ein Unding aber auch ein eoxtisches Wunderland, das es zu entdecken gilt.
Ein andermal sind wir an einem Sonnabend am Prenzlauer Berg. Wir haben die ausgefallene Idee, irgendwo tanzen zu gehen. Vom Frannz-Klub haben wir gehört. Wir sprechen mit verschiedenen punkig aussehenden Jugendlichen auf der Schönhauser Starße. Schnell wird klar, dass wir den Frannz-Klub abhaken können. Ohne Karte oder Beziehungen hilft selbst Schlange stehen nicht, weil der Laden schon am frühen Abend voll ist. Wir sind froh wenigstens einen Tisch in einem kleinen Restaurant auf der Schönhauser zu bekommen. Etwas frustriert wollen danach wieder zurück in den Westen, unsere Ostkohle haben wir schon ausgegeben. Plötzlich erscheinen zwei Punks im Lokal, offensichtlich Fremdkörper hier. Noch bevor der Kellner sie herauskomplimentieren kann, haben sie uns einen Zettel zugesteckt. Alles sehr konspirativ.
Die Adresse in der fast unbeleuchteten Kastanienallee ist ein unbewohntes Haus, Licht bzw. Strom scheint es nicht zu geben. Wir schleichen uns mit Herzklopfen und erhobenem Feuerzeug bis in den Hof. Da hängt ein kleines Schild auf dem “Keller” steht und ein Pfeil weist nach unten. Mit angehaltenem Atem tapsen wir die Kellertreppe abwärts. Dann hören wir Musik und sehen ein Flackern. Tatsächlich unten sitzen ca. 20 Punks bei Kerzen und Baustellenleuchten, aus einem kleinen Kassettenplayer tönen die Einstürzenden Neubauten:
“Halber Mensch
Wir sorgen für dich
Wir nehmen für dich wahr
Halber Mensch
Wer geteilt ist, hat nichts mitzuteilen”
Wir werden freundlich begrüßt, es ist eine Party, doch zu trinken gibt es nichts, noch nicht einmal geraucht wird. Kein Geld zu haben gehört wohl irgendwie zu ihrer Art zu leben. Trotzdem freuen sie sich, als wir unsere Zigaretten verteilen. Helene will etwas Gutes tun und besorgt aus einer Kneipe in der Nähe Bier und mehr Zigaretten. Wir unterhalten uns angeregt, ob wir die Neubauten gesehen haben? Ja, im SO36, Blixa war auch Barkeeper, man kennt sich. Besonders angeregt unterhält sich Helene mit einem Rocco. Ich werde langsam nervös, mein paranoides Feintuning sagt mir, wir sollten aufbrechen. Ich mache Druck, wir verabschieden uns, Helene steckt einen Zettel von Rocco ein.
Als sich Helene zehn Tage später mit Rocco treffen will, wird sie an der Grenze zwei Stunden lang aufgehalten. Man befragt sie und sie wird von einer barschen Uniformierten gefilzt. Das wichtigste finden sie nicht, eine Reihe von taz-Artikeln, die Rocco sehr interessieren. Obwohl sie selbst nicht kifft, hat Helene ein kleines Piece für Rocco im BH versteckt, Rocco ist scharf darauf es auszuprobieren. Auch das findet der Grenzdrachen nicht. Die Kiwis und andere Westleckereien darf sie behalten.
Natürlich wird sie verfolgt. Erst mit Rocco hängen sie den Schatten ab. Sie erfährt, 10 Minuten nachdem wir den Keller in der Kastanienallee verlassen hatten, kamen die Bullen und die Stasi. Die Anwesenden wurden eine Nacht festgehalten, doch niemand hatte etwas Verwerfliches dabei, so blieb es dabei. Wenn sie Helene und mich bekommen hätten, wäre das schlimmer gewesen. “Feindliche Agenten” oder irgendsoeinen Quatsch hätten sich die Betonschädel für uns ausgedacht. Einmal mehr im Leben dankte ich meiner Paranoia. Ich lies es mir eine Warnung sein, Helene war eher angestachelt und brachte Rocco regelmäßig “hetzerische Propagangaschriften” mit. Allerdings lernte sie dazu, sie schrieben sich nicht mehr, sondern verabredeten sich immer gleich persönlich.
In der Nacht des Mauerfalls schlafe ich nur zwei oder drei Stunden, mehr brauche ich nicht. Ich lebe höchst gesund, um die für mich neue und ungewohnte Aufgabe, den Offenen Kanal Berlin zu organisieren, bewältigen zu können. Kein Fleisch, kein Zucker, kein Alkohol, leider wird sich auch das durch den Mauerfall ändern. Mit dem Rotkäppchen hat es schon angefangen.
Der 10. November ist ein Freitag. Obwohl die Disposition erst um 10 Uhr aufmacht, bin ich früher da. Ich rechne mit den ersten DDR Bürgern, die sich beim OKB anmelden wollen und ich werde nicht enttäuscht. Gegen halb zehn klopft es an meiner Tür. Eine junge, sympathische Frau mit milchkaffeebrauner Haut betritt vorsichtig mein Büro. “Sind sie Herr Kluge?” “Ja, ich bin der Marcus. Was kann ich für dich tun?” In den Kindertagen des Senders duzten wir eigentlich jeden, der zu uns kam. “Ich bin die Dinah, ich will Fernsehen machen. Das geht doch hier?” “Ja, das geht hier.” Es war der beste Job der Welt, ich liebte ihn.
Dinah war die Prinzessin des Prenzlauer Bergs, sie kannte jeden, wusste Alles und wurde zu meiner Führerin durch die Boheme der Hauptstadt der DDR. Als Nichtweiße in der DDR aufzuwachsen hatte sie tough gemacht, aber sie bemäntelte diese Stärke mit einer entwaffnenden Liebenswürdigkeit. Ich traf sie meistens im „1900“, dem legendären Restaurant, in dem sich die Intelligenz Ost-Berlins traf. Gerade war der in den Westen geflüchtete Ex-Chef zurück gekommen und der Laden brummte jeden Abend. Dinah stellte mich Promis wie Heiner Müller vor, für den sie eine Art Maskottchen war. Anschließend schleppte mich Dinah in offizielle und auch inoffizielle Tränken der Ureinwohner, die von Westberlinern noch nicht entdeckt wurden.
Dinah hatte in den letzten Jahren der DDR gut gelebt. Mit Freunden hatte sie einfache Klamotten genäht, Hemden, Hosen, Westen. Diese haben sie dann verkauft, im Sommer an der Ostsee oder im Winter in den Wintersportorten. Diese Ergänzung der notorisch schlechten planwirtschaftlichen Versorgung mit tragbarer Kleidung, rissen ihnen die DDR-Bürger förmlich aus den Händen. Sie hatten Geld, mehr als sie ausgeben konnten. Sie wohnten in den besten Hotels, speisten in Restaurant wie die Wessis. Die Behörden ließen sie in Ruhe, man wollte das kleine Ventil für die modischen Bedürfnisse der Ostler nicht zudrehen, so pragmatisch wurde auch gedacht in den letzten Tagen des realsozialistischen deutschen Staates.
Als ich am Sonnabend, dem 11.11. 89 vom Balkon sah, warteten etwa 500 DDR-Bürger in einer ordentlichen Schlange auf die Öffnung der Bank am Rankeplatz. Es begannen wilde Tage am Kudamm, schließlich konnte ich kaum noch etwas einkaufen. Als ich am 18. 11. meinen 35. Geburtstag feierte, brachte mir eine Freundin aus Ost-Berlin ein DDR-Care-Paket mit. Mit einem Einkaufsnetz voll Rondo-Kaffee, Tempo-Erbsen und Brausepulver war ich vorerst versorgt. Ich hatte seit Jahrzehnten kein Einkaufsnetz gesehen.
Früher an diesem Tag geriet ich auf ein bekanntes Mauerfall-Foto im U-Bahnhof Schlesisches Tor, inmitten von Ostlern werde auch ich zum „DDR-Touristen“. Neben das Foto schreibt meine Mutter meinen Namen, sie war stolz auf ihre Entdeckung.
Ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt arbeitete Helene damals noch in einem Supermarkt. An ihrer Kasse spielten sich herzerweichende Szenen ab, Kinder küssten Schokoriegel und Kunden aus dem Osten bedankten sich bei ihr, besonders weil die Kassiererinnen Überstunden machten, um den Ansturm zu bewältigen. Ein Einsatz, der in der Arbeitswelt des Realsozialismus wohl schwer vorstellbar war.
Ich wäre beinahe an den Kollwitzplatz gezogen im Februar 1990; ich fand spannend was da passierte. Schon im März 1990 änderte sich das, denn da wählten meine Brüder und Schwestern Kohl und die D-Mark. Was dann passierte war nicht spannend, es war traurig und beschämend, als die DDR, wie eine Müllhalde der Geschichte von den „Siegern“, den Wessis, abgewickelt wurde. Kohl fiel die Einheit in den Schoß, ein ungeheuerlicher Glücksfall. Ohne den Mauerfall, was würde von Kohl übrig bleiben in den Geschichtsbüchern? Wohl nur seine kriminelle Spendenpraxis und seine Dreistigkeit, über dem Gesetz zu stehen, die er mit den Worten „Ich habe mein Ehrenwort gegeben!“, bewies. Er hat Glück gehabt, die Einheit haben Andere beschlossen zuzulassen. Ich bin kein Feind der Einheit. Deutschland hat Jahrhunderte in Kleinstaatlichkeit existiert, obwohl Sprache und Kultur zusammengehörten und durch den kalten Krieg inzwei geschnitten zu sein, war unnatürlich. Die Einheit Deutschlands, wie auch die Europas, ist eine gute Sache. Problematisch wird sie in den Details, in der Bürokratie und Regelwut. „Den Übermut der Ämter und die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist.“*, so ärgerte sich schon Hamlet.
Natürlich freute ich mich über die neue Freiheit, es gab viel zu entdecken und ich machte sogar den Führerschein, denn ich in West-Berlin nie gebraucht hatte. Erst im neuen Jahrtausend wurde mir bewusst, wie sehr mir mein altes West-Berlin fehlte. Bis dahin war ich abgelenkt durch die neue Situation und ihre Möglichkeiten. Doch dann fühlte ich plötzlich eine Leere; mir fehlte West-Berlin, seine Vorläufigkeit, seine Freiheit, seine Einmaligkeit, sein Lebensgefühl und seine provinzielle Gemütlichkeit. Und natürlich das Lebensgefühl als halber Mensch, dem zwar etwas fehlt, der aber dafür ganz im hier und jetzt lebte.
Bin ich denn jetzt ein ganzer Mensch und ist der Grund für diese Heilung das Zusammenwachsen der Stadt? Ja, ich fühle mich heute wie ein ganzer Mensch und Nein, das Zusammenwachsen der Stadt hat damit fast nichts zu tun. Denn zum einen ist die Stadt ja nur höchst unvollkommen zusammengewachsen, überall gibt es Narben und unverheilte Wunden, die durch hässliche, neue Architektur nur noch mehr auffallen. Zum anderen, weil meine persönliche Heilung ein Ergebnis von selbst geleisteter Arbeit war, unter Mithilfe von Menschen, die mich unterstützt haben. Körperliche Krankheit, Schmerzen zwangen mich zur Einkehr und Aufarbeitung kindlicher Traumata. Erst 2006 wurde klar, das nicht nur eine unerkannte Hochbegabung mich gehemmt hatte, sondern auch eine ungefilterte Wahrnehmung der Realität. Nun habe ich gelernt damit zu leben, Berlin hat kaum Anteil gehabt, außer eine immer wieder anregende, inspirierende Athmosphäre zu bieten, auch heute noch.
In jungen Jahren habe ich mich für meine „Unfähigkeit“ selbst bestraft. Heute habe ich mir meine Andersartigkeit verziehen. Ich erlaube es nicht mehr, mich schlecht zu behandeln, oder von anderen schlecht behandelt zu werden und ich würde es nicht mehr akzeptieren, als ein halber Mensch zu leben.
Was ist aus Helene und Dinah geworden? Dinah hat nie Fernsehen bei mir im Sender gemacht. Wir blieben ein paar Jahre lose befreundet und ich beobachtete, wie sie immer neue Projekte entwickelte, ohne wirklich etwas fertigzubringen. Erst das Kind, das sie von einem Juristen bekam, gab ihr Erdung und eine nachhaltige Aufgabe. Dann verlor ich sie aus den Augen, ich glaube sie verlies die Stadt, um an einem idyllischeren Ort zu leben.
Auch Helene bekam Nachwuchs, zweimal sogar. Wir waren lange befreundet, sie arbeitete schon seit Anfang der 90er im Bereich linker Politik und diese Aufgabe fraß irgendwann ihr Privatleben. Wir sahen uns nur noch selten und schließlich antwortete sie nicht mehr. Ich sprach auf ihren Anrufbeantworter, schrieb Mails und Briefe, bat um wenigstens eine Erklärung. Hatte ich etwas gesagt oder getan, war ihr etwas passiert? Nichts kam zurück, es ist jetzt drei Jahre her und für mich immer noch schwer zu begreifen. Erst vor zwei Monaten habe nochmal einen Versuch gemacht, ohne jeden Erfolg. Natürlich heißt Helene nicht Helene und ich werde auch nicht sagen, wo sie politisch wirkt und deshalb hat das Passbild, das sie mir 1989 schenkte, diesen Balken.
Heute, 2014, ist auch die letzte Brache bebaut, jeder Kiez mit einer auswechselbaren Mall versorgt und jeder Freiraum zum Zwecke des Gelderwerbs vernichtet. Es fehlt mir mein altes West-Berlin, heute mehr denn je. In ein paar Tagen 60 zu werden macht es nicht besser. Oder vielleicht doch ein wenig. Denn im Alter hat man ja das Recht, sich mit frohen Gedanken an eine Zeit zu erinnern, „als alles besser war.“
Ende
Diesen Text widme ich Jeanette Chong für ihre tolle Arbeit bei den „West-Berliner Mauerkinder“. Damit erhält sie die Erinnerung an West-Berlin wach und befriedigt das große Bedürfnis nach „Westalgie“. M.K.
Die Illustration “Halber Mensch” hat Rainer Jacob gezeichnet.
Anmerkung: Einige Absätze dieses Textes habe bereits Anfang 2014 im Präsens verfasst. Eigentlich hätte ich diese bei der Redaktion ins Präteritum setzen sollen. Ausnahmsweise habe ich dagegen entschieden, weil ich den Eindruck hatte, dem Text damit seine Frische und Unmittelbarkeit zu nehmen. M.K.
*Hamlets Monolog in der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel.
Das Foto von mir als “DDR-Tourist” stammt aus dem Buch “Berlin im November”, erschienen 1990 bei Nicolai.