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Berlinische Leben – „Bela Rattay’s Dead“ / „Helden ’81” – Kapitel Eins / von Marcus Kluge / 1981

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“He that is taught only by himself has a fool for a master.” Hunter S. Thompson.

Der Anzug war hellblau und sah irgendwie schief aus. Es war der am schlechtesten sitzende Anzug, den ich je gesehen hatte. Roberto schien stolz auf ihn zu sein, er hatte ihn zur Entlassung aus dem Gefängnis bekommen, zusammen mit 235 kanadischen Dollars und einer Bibel. Im Café Mitropa wirkte er wie ein Fremdkörper unter den ansonsten ausschließlich in schwarz gekleideten Gästen. Aus der Anlage tönte „Bela Lugosi’s Dead” von Bauhaus. Man musste etwas lauter sprechen um sich zu verständigen.

„The bats have left the bell tower
The victims have been bled
Bela Lugosi’s dead.”

Roberto wirkte wie ein hellblauer Schmetterling, der sich unter die Fledermäuse gemischt hatte. Das Café Mitropa sah in etwa aus wie eine Eisdiele in den 50er Jahren, die Gäste saßen auf mit Plastikschnüren bespannten Stühlen an winzigen Bistrotischchen. Den Tresen zierten eine Designerorangenpresse, die ebenfalls aus den 1950ern stammte und einer Mondrakete glich, sowie eine chromblitzende Expressomaschine.

„Ich habe hoch gepokert und verloren. So ist das Leben nun mal. Man kann nicht immer gewinnen”, erklärte mir Roberto mit einem überzeugten Lächeln.
Er hatte sich kaum verändert in den zweieinhalb Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten. Er wirkte immer noch wie ein junger Gentleman aus den Südstaaten der USA, hoch gewachsen, mit dunkelblonden, lockigen Haaren und einem großen Schnurrbart. Ein draufgängerischer Gentleman, einer der Erfolg bei den Damen hat, trotz des traurigen Zuges um seine Augen, oder eben gerade deshalb. Vielleicht hatte der Gentleman einen Freund im Duell erschossen oder er hatte Spielschulden…? Diesen romantischen Blick hatte Roberto seit er 1974 Deutschland verlassen hatte, um den Großteil des Jahres in Indien zu leben. Ich hatte ihn heimlich bewundert für seinen Lebensstil. Ich fragte ihn: „Wieso hat du es überhaupt gemacht? Ich dachte du wärst zufrieden mit deinem Leben. Die meiste Zeit in Goa, am Strand, unter Palmen und ein paar Monate im Sommer in Berlin. Das war doch Klasse.”
Roberto zwirbelte seinen Bart und zog die Stirn kraus: „Du vergisst, dass ich in Goa auch arbeiten muss. Es ist zwar nur eine kleine Pension, aber im Grunde hab ich den Job eines Hoteldirektors. Ich bin nur ein besserer Diener für die Leute, die bei mir wohnen. Und die Sommermonate kann ich mir kaum leisten im teuren Berlin.”
„Verstehe, dann hast du dir gesagt, wenn schon denn schon und hast Nägel mit Knöpfen gemacht.”
Nägel mit Knöpfen waren es natürlich nicht, die er gemacht hatte. Es handelte sich vielmehr um

eine wunderschöne, hölzerne Yacht, die 1939 von Malaysia aus auf Jungfernfahrt gegangen war. Zusammen mit einem Kumpel, „Ari”, und anderen „Kollegen” hatte Roberto sie in Goa gekauft. Anschließend segelten sie nach Kerala, wo sie außer ihrer „Connection” niemand kannte. Goa war sozusagen ein Dorf, in dem eine größere Transaktion schwerlich geheim zu halten war und inzwischen hatten sich zivile Drogenfahnder unter die Hippies und Touristen gemischt, die nur an größeren Brocken interessiert waren. Deshalb wickelten Roberto und seine Freunde ihr Geschäft im Süden Indiens ab. Dort wurden 250 Kilo bestes Haschisch fachmännisch im Boot versteckt und es wurde per Schiffsfracht nach Kanada geschickt.
In Toronto nahmen Ari und Roberto die Yacht in Empfang und hier wollten sie den Schlussakt ihres Stückes inszenieren und abkassieren. Richtig groß abkassieren. Sie wohnten in einem Luxushotel und spielten reiche Jungs, vor der Geldübergabe ließen sie sich bei einem Starfriseur die Haare schneiden. Genau in diesem Moment übernahm die kanadische Polizei die Regie. Schwerbewaffnete, uniformierte Statisten betraten die Bühne, Statisten, die nicht in ihrem Skript standen. Den Haarschnitt bekamen sie erst im Gefängnis.
„Es war ein perfekter Plan, die Chancen das er schiefgeht, waren eins zu einer Million. Wir sind an menschlichem Versagen gescheitert. Einer der Segler, die wir engagieren mussten, weil Ari und ich ja keine Ahnung davon hatten, wurde von seiner eifersüchtigen Freundin verraten. Die hatten uns schon seit Kerala beschattet, na ja, damit konnte niemand rechnen.”
Ein sehr dünner, blasser Mann betrat das Café Mitropa. Er trug natürlich auch schwarze Klamotten, besonders auffallend war eine zu kurze, weite Jacke aus Gummi. Seine schwarzen Haare hatte er im Stil einer Ananas hoch gebunden, seine Wangen wirkten trotz seiner Jugend eingefallen. Er unterhielt sich mit der Tresenfrau, die ihm ein paar Briefe gab, die im Regal hinterm Tresen bereit lagen. Roberto schüttelte den Kopf und fragte mich nach ihm, Ich kannte ihn aus Friedenau, er hieß Christian Emmerich und nannte sich neuerdings Blixa Bargeld. Er war Sänger der Band „Einstürzende Neubauten.
Roberto schaute mich ungläubig an: „Einstürzende Neubauten?” Ich nickte grinsend: „Ja das ist der letzte Schrei.”
Langsam nervte mich, dass wir fast schreien mussten. Ich hatte auch den Eindruck, dass sich mein Freund zunehmend unwohl fühlte in dieser Umgebung.
„Sag mal, du sagtest, du wohnst hier in der Nähe?”
„Ja, ich wohne bei Caro am Winterfeldtplatz.”
Caro war Robertos jüngere Schwester. Er musste jetzt 28 sein, sein Schwester vier Jahre jünger. „Ich bin ganz froh bei ihr zu sein, Caro ist im siebten Monat schwanger und der Erzeuger hat sich aus dem Staub gemacht.”
Blixa verließ eben das Café mit einer Flasche Fernet und ein paar Zitronen. Er ging in Richtung Frankenstraße, wo er in einem besetzten Haus wohnte. Wir gingen in die andere Richtung. Schon von der Goltzstraße aus konnten wir sehen, dass der ganze Winterfeldplatz von „Wannen” mit schwer gerüsteten Polizisten umstellt war. Roberto zog wieder die Stirn kraus: „Kaum ist man zwei Jahre weg, verwandelt sich Berlin in einen Polizeistaat. Was ist hier eigentlich los, Marcus?”
Ich musste etwas ausholen, aber ich bemühte mich um Kürze. Dann begann ich ihm die Vorgeschichte der Hausbesetzerbewegung zu erklären. Ich erzählte von der Autobahn, die die West-Berliner Filzokraten durch Kreuzberg bauen wollten. Dass sie dafür den halben Bezirk abreißen wollten und davon, dass Häuser besetzt wurden, um diesen Prozess zu stoppen und der Konflikt eskalierte, besonders wegen eines Innensenators Lummer, der mit extremer Härte reagierte.
„Aber heute ist es besonders schlimm, oder?” Roberto, der eben noch so selbstbewusst gewirkt hatte, machte jetzt einen geradezu eingeschüchterten Eindruck. Wir blieben stehen und beobachteten den Korso, den die Mannschaftswagen nun aufführten. Die Wannen fuhren mit geöffneten Hintertüren im Kreis um den Winterfeldtplatz, während die Mannschaften in den Wagen mit ihren Gummiknüppeln im Takt auf ihre Schilder schlugen. Es machte einen martialischen Eindruck und der war auch beabsichtigt. Nun flogen erste Steine auf die Wannen und die getroffenen Wagen blieben stehen, die Beamten rückten aus, um Jagd auf alles und jeden zu machen, der ihnen unter die Knüppel kam. Roberto hatte nun echte Angst und ich fühlte mich ebenso unwohl. Wir liefen die letzten Meter bis zum Slumberland, neben dem Roberto stoppte. In letzter Sekunde schloss Roberto das Haus auf, und als wir drin waren, schloss er die Haustür sofort wieder zu. Kurz danach begannen die Bullen gegen die Tür zu treten. Wir warteten den Ausgang dieses Kräftemessens nicht ab und liefen in den dritten Stock des Hinterhauses. Erst als Roberto die Wohnungstür abgeschlossen und mit einer Kette gesichert hatte, fühlten wir uns halbwegs sicher. Das die Bullen in Wohnungen eingedrungen waren, hatte ich noch nicht gehört. Roberto sah mich mit großen Augen an: „Was ist denn heute los?”
Ich erklärte es ihm, soweit ich konnte. Bela Lugosi war nicht gestorben an diesem 22. September 1981, sondern ein 18-jähriger Hausbesetzer namens Klaus-Jürgen Rattay. Der Hardliner Lummer hatte ein Haus in der Bülowstraße räumen lassen. Danach gefiel es ihm, sich wie Napoleon, dem er ja ähnelte, auf einem Balkon von seinen Truppen feiern zu lassen. In der Folge war es zu einem besonders harten Polizeieinsatz gekommen, bei dem Rattay in den Verkehr der Potsdamer Straße getrieben und von einem BVG-Bus überfahren worden war. Indirekt war Lummer damit zum Mörder geworden und die Szene war schockiert, traurig und wütend. Später würde es mit Lummer ein klägliches Ende nehmen. Es kam heraus, das er jahrelang die sexuellen Dienste einer Stasiagentin genutzt hatte, ebenso war er lange heimlich für den BND tätig. Das er auch in miese Waffengeschäfte mit arabischen „Freunden” verwickelt war, ist nie richtig aufgeklärt worden. So wie das bei dieser Art von Deals meistens ist.
Roberto schüttelte den Kopf: „Da war’s ja richtig gemütlich und sicher in meiner Zelle in Kingston, Ontario.”
Wir setzten uns, nachdem Roberto Tee gekocht hatte, hier im Hinterhaus war es ruhig. Die Wohnung deutete auf eine weibliche Bewohnerin, alles war hübsch dekoriert und eingerichtet. Bunte Lampen und Kissen, sowie Blumen und Kerzen rundeten den Eindruck ab. Ich hatte Caro immer nur als kleine Schwester von Roberto wahrgenommen und fragte mich, wie sie jetzt wohl aussähe.
„Wieso hast Du mich eigentlich nie besucht in Goa?”, er fragte mich nicht zum ersten Mal, doch offensichtlich erinnerte er sich nicht an unsere früheren Gespräche. Dieses Thema war schwierig für mich, normalerweise redete ich mich mit meiner Reisephobie heraus, aber Roberto kannte mich zu gut, um das zu so leicht hinzunehmen. Da gab es etwas in mir, das ich gern verdrängte, eine diffuse Angst. Ich versuchte es zu erklären: „Weißt du, ich komme schon hier mit meinem Leben schwer klar. In Indien hätte ich Angst unter die Räder zu kommen. Ich fürchte mich auch vor den Drogen, die da so leicht und so billig zu haben sind.”
„You telling me!”, Roberto lachte: „da hast du natürlich Recht. Aber ich hätte schon auf dich aufgepasst.” Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.
„Woher hattet ihr eigentlich das Geld für die Yacht und die Riesenmenge Dope?” Ich versuchte ihn wieder auf unser ursprüngliches Thema zurückzuholen.
„Da gibt es so ‘ne Art Banken, also Leute, die so etwas finanzieren. Das hat hauptsächlich mein Kumpel Ari gemacht.” Er machte eine wegwischende Handbewegung und sah an mir vorbei aus dem Fenster. Das Thema war ihm wohl nicht sehr angenehm, aber es interessierte mich: „Wollen die ihr Geld nicht zurückhaben?”
„Ja, im Prinzip schon, aber Ari lebt nicht mehr”, Roberto sah mich prüfend an und merkte, ich würde nachfragen, also kam er mir zuvor, „Ari ist schon ein Jahr nach dem Prozess nach Österreich abgeschoben worden. Kurz danach ist er in Wien gestorben, manche Leute sagen, es war Selbstmord. Aber das war nicht sein Ding, Selbstmord. Weißt du, Ari war ein Waffennarr, wahrscheinlich war es ein Unfall oder er hat russisches Roulette gespielt. Das wäre schon eher sein Ding gewesen.”
„Traurig, vielleicht hat ihn die Haft so fertig gemacht und er hat sich erschossen?” Irgendwie nahm ich Roberto seine Version von einem Unfall nicht so ab. Wir kannten uns halt schon lange und gut und ich nahm Signale wahr, die für Außenstehende unsichtbar gewesen wären.
„Nein, du machst dir da falsche Vorstellungen. Der Knast in Kanada ist fast ein Erholungsheim. Ich war in meiner Zelle meist ziemlich happy. Keiner konnte mir im Knast mein Lächeln wegnehmen. Oft sind mein “mind”, on it’s own, auf Wanderungen gegangen und mein “brain” ist hinterher gestolpert. Mein Leben, alle meine Freunde waren bei mir. Es war schön, die Ruhe. Ich habe viel gelesen, Hermann Hesse und so. Ich hatte sogar ein Bild von ihm in der Zelle. Und Bücher über Buddhismus habe ich dort endlich verstehen können. Zum meditieren ist so ein Raum ideal. Wie in einem Kloster. Ich war noch nie so glücklich in meinem Leben.”
Innerlich schüttelte ich meinen Kopf. Roberto hatte die ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst etwas vor zu machen. Darüber konnte ich nur staunen. Mir gelang das überhaupt nicht. Ich sah immer die Realität in all ihren hässlichen Facetten. Irgendwann hatte ich Drogen probiert, das machte es nur noch schlimmer. Robertos Einfalt schien mir ein Glück für ihn zu sein. Ein Glück das wohl auch eine Schattenseite hatte. Ich musste an ein Gemälde denken, das ich in Venedig gesehen hatte. Ein altersloser Mann saß auf einem Berg unter einem Baum und spielte völlig allein und selbstvergessen auf der Flöte. Das Licht deutete auf Nachmittag, das Ende des Tages hin. Unten im Tal floss ein munterer Bach an den Ort seiner Bestimmung. Der Fluss verkörperte das Leben, das an dem Mann auf dem Berg vorbei floss. Er hatte fast sein ganzes Leben vertan, vertrödelt. Der italienische Titel war mit „The Fool On The Hill” übersetzt. An dieses Bild musste ich denken, an diesen weltvergessenen Narren erinnerte mich Roberto. Noch etwas musste meine niemals ruhende Neugier erfahren: “Der Name Ari ist selten, war das ein Grieche?”, Namenskunde und Etymologie haben mich stets fasziniert, wie andere Menschen Tennis oder Schach.
„Nein, Grieche war er nicht. Seine Eltern sind vor Ceaucescus Geheimdienst nach Österreich geflohen, als Ari noch ein Kind war. Eigentlich hieß er Aristid Olt.”
„Aristid Olt”, der Name kam mir bekannt vor, ich hatte nur keine Ahnung woher. Man müsste einen Computer haben, auf dem alles Wissen der Welt gespeichert war, oder der wenigstens mit Experten überall verbunden war, die man fragen könnte. Der Gedanke machte mich traurig. Selbst wenn es so ein Gerät gäbe, wäre es bestimmt zu kompliziert, als das ich es hätte bedienen können, mit meiner Ungeschicklichkeit was Technik anging.

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Um 20 Uhr machten wir den Fernseher an und guckten die “Tagesschau”. Kein Wort davon, dass Rattay von der Polizei in den Tod getrieben wurde. Statt dessen Panikmache mit „Straßenterror”, ich wartete auf einen Nazi-Vergleich, doch der kam nicht. Stattdessen war von einem erstochenen Polizisten die Rede. Natürlich eine Falschmeldung, bewusst gestreut, um Bevölkerung und Bullen gegen die Hausbesetzer aufzubringen. Später hörte ich, dass man der kasernierten Polizei kurz vor ihrem Einsatz noch diese Nachricht vorführte, um sie zu einer harten Gangart zu „motivieren”.
„Wo ist deine Schwester eigentlich?”
„Wenn ich das wüsste. Eigentlich wollte sie schon zurück sein. Ich hoffe bloß sie ist in Sicherheit. So wie die Bullen drauf sind, machen die auch vor einer Schwangeren nicht halt.”
Ich teilte Robertos Befürchtung, dieser uniformierte Mob machte vor gar nichts halt, fürchtete auch ich. Über unserem Gespräch hatte ich die brenzlige Situation auf der Straße aus meinen Gedanken wegschieben können, aber nun musste ich an den Heimweg denken. Roberto brachte mich bis an die Haustür. Plötzlich stutzte er, blickte vor sich auf den Boden. Ich blickte ebenso auf den Boden, das einzige, was ich sah waren ein paar Pistazienschalen. Ich fragte nach, aber Roberto mochte mich nicht aufklären. Er schloss die Tür auf und wir lugten hinaus.
Die Marktfläche des Winterfeldtplatzes war leer. Die Polizei hatte sich bis an die Kirche zurückgezogen, versperrte den Durchgang und “massierte” dort ihre Kräfte, wie es wohl heißt. Die Aufrührer hatten sich hinter Barrikaden am Anfang der Maaßenstraße verschanzt. Es schien die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Roberto und ich umarmten uns und ich entschloss mich über die Maaßenstraße in großem Bogen zum Café Mitropa zurück zu laufen, um mein Fahrrad zu holen. Ich lief also auf die Barrikaden zu. Man ließ mich passieren, dahinter war sogenannter rechtsfreier Raum. Man bot mir mehrfach Flaschen an, Champagner, Whisky, aber auch schlichtes Bier. Ich trank schon aus Höflichkeit und um mich als Sympathisant zu erkennen zu geben. Ich unterhielt mich mit ein paar Leuten, um die Lage zu erkunden und merkte, wie ich langsam betrunken wurde. Drogen vermied ich zwar, aber Alkohol trank ich ab und zu.
In der Nähe vom Café Berio hatte Getränke Hoffmann eine Filiale, die Schaufensterscheibe war bis auf wenige kleine Splitter, die noch im Rahmen steckten, am Boden verteilt und ein ständiger Strom von plündernden Menschen passierte das nun offene Schaufenster. Ich blieb fasziniert stehen und beobachtete das Geschehen. Obwohl ich nicht vorhatte zu klauen, betrat ich den Laden, nur um zu wissen, wie sich das anfühlte. Vor den schon recht leeren Regalen stand ein Paar und stritt was sie mitnehmen sollten. Die Plünderer waren alt und jung, alle Schichten waren vertreten, bis auf Anzugtypen, die waren nicht dabei. Aber sonst alle, Deutsche und Ausländer, mehr Männer, aber auch Frauen, sogar ein paar Kinder sah ich. Die guten Sachen waren schon weg. Diese seltsame, fiebrige Atmosphäre beim Plündern von Getränke Hoffmann war eine einzigartige Erfahrung und es fällt mir schwer sie zu beschreiben. Es hatte etwas von Kindergeburtstag und Lottogewinn, wie ein Grinsen, das sich eigenständig in dein Gesicht schreibt, wenn die Geliebte schließlich „ja” haucht. Selbst die alte Oma, die ungläubig auf die Flasche Pfefferminzschnaps schielt, die sie eben genommen hat, hat Glück in ihren Augen, man ahnt wie schön sie als junge Frau gewesen ist. Was ich da beobachtete war „wirkliches” Leben, ungeschönt und ungefiltert. Das war eine seltene Situation, ich war gewohnt seit der Kindheit, das das Leben der Erwachsenen immer nur Schein und fast nie „Sein” bedeutete. Niemand sprach darüber, wie er sich wirklich fühlte, jeder sagte, „mir geht’s gut”, obwohl das meistens nicht stimmte. Jeder trug eine Fassade nach außen und hielt sich an ein festes Regelwerk, echte Lebensäußerungen waren darin nicht vorgesehen.
Ich riss mich los, verließ Getränke Hoffmann und rannte sofort in Richtung Nollendorfplatz, den eben versuchten die Bullen die Barrikaden am Beginn der Maaßenstraße zu stürmen. Die schwarz gekleideten Verteidiger warfen eine Ladung Steine, die den uniformierten Ansturm erst einmal stoppten. Während ich lief, hatte ich den Ohrwurm im Kopf, den ich mir in Mitropa eingefangen hatte:

Bereft in deathly bloom
Alone in a darkened room
Bela Lugosi’s dead.
Undead undead undead.”

Ich lief einen großen Bogen über die Martin-Luther-Straße zurück zum Café Mitropa. Als ich eben losfahren wollte, wurde auch die Goltzstraße von der wilden Soldateska aufgemischt. Ein Beamter erwischte mich mit seinem Knüppel, ich stürzte vom Rad, bekam noch ein einige Schläge ab, bevor sich der Schläger neuen Aufgaben zuwandte.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit heftigen Schmerzen in der rechten Schulter. Ich konsultierte einen Orthopäden am Bundesplatz, er gab mir eine Spritze, die nicht wirkte. Nicht nur die Ereignisse auf der Straße, auch das Treffen mit Roberto hatte mich nachdenklich gemacht. Irgendetwas an seiner Geschichte irritierte mich, ich wusste nur nicht was.

– wird fortgesetzt –
Illustration: Rainer Jacob – http://rainerjacob.com/

Anmerkungen:
Klaus-Jürgen Rattay war 18 als er starb. Die Polizei und der Staatsschutz versuchten Rattay als Gewalttäter zu diffamieren, auch die Behauptung, der Bus sei vor dem Überfahren Rattays angegriffen worden, stellte sich als falsch heraus. Der Ort seines Todes war für mehrere Wochen ein Blumenmeer, Zehntausende nahmen Abschied und beklagten den sinnlosen Tod. Über den Hergang des tödlichen Verbrechens wurde lange gestritten. Ein halbes Jahr später zog der Stern folgendes Fazit:

„Während Rattay einige Sekunden auf der Fahrbahn stand, um nach den nachrückenden Polizisten zu sehen, fuhr ein BVG-Bus mit Vollgas direkt auf den deutlich sichtbaren Mann zu. Der bemerkte noch kurz vor dem Aufprall den Bus, drehte sich zu ihm hin und hob abwehrend die Hände. Der Bus traf Rattay mit der linken Seite frontal. Die Scheibe zersplitterte.“
stern, 4. März 1982

“Bela Lugosi’s Dead” von Bauhaus:
http://de.wikipedia.org/wiki/Bela_Lugosi%E2%80%99s_Dead

“Helden ’81” ist zwar von tatsächlichen Geschehnissen und realen Personen inspiriert, wie das im Grunde bei jeder Form von Literatur der Fall ist, entstanden ist jedoch eine fiktive Geschichte. Trotzdem habe ich Namen verändert, ebenso wie ich Details verschlüsselt habe, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Auch der Erzähler “Marcus” hat zwar Ähnlichkeit mit mir, ist aber ein gänzlich erfundener Charakter, der nie gelebt hat.

Gast-Familienportrait – Momo lesen in Zeiten der besetzten Häuser / Eine Momentaufnahme von Cornelia Grosch

Im November 1979 saß ich an einem dämmrigen Nachmittag mutterseelenalleine auf einem Isomatten-Matratzen-Schlafsacklager in einer heruntergekommenen Wohnung. Es war nicht meine Wohnung und ich hatte den „Hausfrieden“ gebrochen, um dort zu sein.

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Es war kalt in der Wohnung und der Strom war abgeschaltet, so dass ich eine Petroleumlampe angezündet hatte. Bei diesem gelben Licht (die gesamte Lampe war gelb gestrichen, auch das Glas, sie beleuchtete mal eine Baustelle, bevor sie in meinen Besitz überging), in meinen Schlafsack eingemummelt, vertrieb ich mir die Zeit mit der Lektüre von Momo, dem Buch von Michael Ende. Ich hatte kurz zuvor das Buch als Raubdruck gekauft und mir als Notlektüre für die Überbrückung von langweiligen Zeiten eingesteckt. Das Buch war auf schlechtem Papier mit schlechter Druckfarbe in verschiedenen gelblichen Farbtönen gedruckt. Es war bei dem gelblichen Licht der Petroleumlampe extrem schwierig zu lesen. Ich mochte das Buch nicht, fand die Moral viel zu dick und direkt aufgetragen, die Guten waren nur gut und die Bösen nur böse.

Aber die Beschäftigung damit half mir, meine Unruhe und Angst zu unterdrücken.

Es war der 3. oder 4. Tag der Hausbesetzung in der Cuvrystraße. Wir waren eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Bürgerinitiative SO 36 und von Anwohnern, die konspirativ diese Besetzung geplant und vorbereitet hatten. Die Besetzung einer Wohnung und einer Gewerbeetage erfolgte stellvertretend für eine ganze Reihe von Häusern, die in der Cuvrystraße leerstanden und auf den Abriss warteten. Und diese Reihe war wiederum nur ein kleiner Teil der vielen leerstehenden und vergammelten Häuser in ganz Westberlin Ende der 70er Jahre. Große Teile von Kreuzberg sollten damals verschwinden, weil es eine Autobahnplanung quer durch den Bezirk gab. Außerdem rechneten sich, wie heute die Immobilienbesitzer aus, dass Neubauten mehr Rendite bringen als einfache Altbauwohnungen und ließen ihre Häuser verkommen. Der Standard für unsereinen war damals noch die Wohnung mit Ofenheizung, ohne Bad und womöglich mit Außenklo, dafür aber so billig, dass man nicht unbedingt dauernd arbeiten musste.

Die Besetzung erfolgte, während die Zeitung der BI SO 36, der Süd-Ost-Express, einen Preis bekam und öffentlich gefeiert wurde. Bei der Dankesrede der BI wurden die Besetzungen bekannt gegeben und wir fanden sofort eine große, überwiegend wohlwollende Öffentlichkeit. Obwohl es auch Leute gab, die direkt in diese Wohnung und Gewerbeetage einziehen wollten, war es eine politische Aktion. Die erste Besetzung der BI hatte schon im Februar 1979 stattgefunden, war gut in der Öffentlichkeit angekommen und es gab relativ schnell Mietverträge für die beiden besetzten Wohnungen, ohne dass sich aber die Gesamtlage änderte. Deswegen gab es diese zweite Aktion.

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Am 1. Abend war in der Wohnung, die ich mitbesetzt hatte, eine tolle Partystimmung und viele Leute übernachteten auch dort. Wir fühlten uns bärenstark und waren sicher, auf der absolut richtigen Seite zu stehen.

Am nächsten Tag wurde entrümpelt und ein bisschen weiße Farbe an die Wände gebracht. Zum Glück war die Bausubstanz hier noch einigermaßen gut, Fenster und Dach dicht. Leute von Funk, Fernsehen und Presse kamen vorbei und wollten Interviews und Fotos, die sie auch bekamen. Wer nicht kam, war die Polizei (a.k.a. „Bullen“), es wurde aber stark mit ihnen gerechnet. Da es erst die 2. Hausbesetzungsaktion Ende der Siebziger war, gab es noch keine Erfahrungen mit Räumung.

Nach dem ersten aufregenden Tag kehrte der Alltag bei Besetzers ein. Viele von uns studierten noch oder gingen zur Schule, manche hatten Jobs oder andere Verpflichtungen. Ich war damals mit dem Studium fertig und hatte keine feste Arbeit, außer einem Job am Wochenende als Hauspflegerin bei einer gelähmten Frau.

So kam es, dass ich an diesem Nachmittag alleine, frierend und unheimlich einsam in dieser Wohnung in der Cuvrystraße saß und die Stellung hielt. Ich kam mir vor wie der einzige Mensch auf einem leeren Planeten. Es gab auch nichts wirklich Sinnvolles zu tun. Wir mussten mit einer Räumung rechnen und damit, dass wir in dem Fall verhaftet worden wären. Davor hatte ich damals eigentlich keine Angst, ich wollte bloß nicht als Einzige verhaftet und mitgenommen werden. Schreckliche Vorstellung!

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Momo aber wollte mich nicht wirklich ablenken, ich konnte erst aufatmen, als gegen Abend wieder ein paar der anderen Besetzer auftauchten. Ich habe das Buch nie wieder gelesen, obwohl ich es mir später sogar in einer anständigen Druckversion neu gekauft habe.

Kurz danach ging es richtig los mit der Hausbesetzerbewegung. Andere Häuser, auch in anderen Bezirken, wurden besetzt. 1981 gab es fast 170 besetzte Häuser in Westberlin.

Da war ich aus der direkten Aktion aber schon wieder raus und ging nur noch zu den Demos und arbeitete noch eine Weile weiter in der BI mit. Ich brauchte damals auch keine Wohnung, ich wohnte schon in einer WG.

Ich selbst habe damals den Rest meines naiven Kinderglaubens verloren, dass wir alle nur aus edlen uneigennützigen Gründen in der Politik mitmischen… es gab in der BI zukünftige Rechtsanwälte, Architekten und Journalisten, die sich hier profilieren und auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollten und dann die, die Freunde finden wollten. Das ist ja eigentlich in Ordnung, aber es wurde nie über solche Motive gesprochen, offiziell waren wir nur an der „Sache“ interessiert. Genauso war es während meines Studiums schon mit den ganzen linken Gruppierungen und ich hatte gehofft, dass es in so einer BI anders wäre…

Wir alle haben aber damals einen erheblichen Teil mit dazu beigetragen, dass Altbauten nicht mehr automatisch abgerissen wurden, sondern saniert wurden und das damals auch noch überwiegend mit Berücksichtigung der Wünsche der Bewohner. Es gab anschließend die Internationale Bauausstellung, die das fortführte. Bis in die 90-er Jahre war das die offizielle Politik, dann wurde Berlin Haupstadt, in der Folge hip und teuer und nun wären neue Aktionen überfällig!

Ende

Wer noch etwas tiefer in das Thema eintauchen möchte, sollte Gerd Nowakowskis Empfehlung des Häuserkampf-Fotobuchs von Lothar Schmid lesen.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/werbinich/hausbesetzungen-in-berlin-als-die-chaoten-kreuzberg-retteten/9299410.html

Alle Fotos: Cornelia Grosch, mehr von ihr: http://conyberlin.blog.de/

Berlinische Leben – „Gefühl und Härte – Fleischers Trip“ / Über Volker Hauptvogels West-Berlin-Roman

Fleischers Blues“ lässt das West-Berlin der Jahre 1976 bis 1981 wiederauferstehen, als habe es den Mauerfall, die Wiedervereinigung und den ganzen Quatsch, der folgte, nie gegeben. Volker Hauptvogels Erinnerung ist quicklebendig und die Sprache scharf, wie der Punk von Volkers Band „Mekanik Destrüktiw Kommandöh“. Bei Ex-Zeitgenossen von „Fleischer“ sorgt die Lektüre für nostalgischen Lesegenuss der heiteren Art, während er Nachgeborenen Aha-Erlebnisse beschert. „Gab es das alles wirklich?“, werden sie fragen. Ja, ich kann’s bestätigen, weitgehend!

Volker Hauptvogel ist in Berlin, was die Berliner einen „bunten Hund“ nennen. Volker kennt jeden und jeder kennt ihn, den Autor, Musiker und Gastronomen. Fleischer ist bei aller Fiktion natürlich eine autobiografische Gestalt. Was authentisch ist und was fiktiv, darf spekuliert werden. Der dealende Schriftsetzer und hedonistische Lebenskünstler Fleischer kommt nach West-Berlin, auf der Flucht vor der Bundeswehr. Er zieht in eine typische Ein-Zimmer-Ofenheizungs-Wohnung in der Bürknerstraße, an der Nahtstelle zwischen Neukölln und SO 36, dem wilden Kreuzberg. Bald ist er in der verschworenen Revoluzzerszene genauso zuhause, wie bei den ersten Adressen für Stoffgroßhandel. Auch Fleischers bester Kumpel Ede zieht in die Frontstadt nach und das Geschäft expandiert gemäß Edes Devise „Ware immer nur vom Besten, sowohl als auch die besten Kunden“. Daneben beteiligen sich die beiden an der Weltrevolution, man druckt, sendet schwarz und die Bezirkskasse wird auch erleichtert zum Wohle der guten Sache.

Doch Fleischers Affäre mit der entzückenden Polizistin Claudianna treibt fast einen Keil zwischen die Freunde. Doch Claudianna ist selbst immer mehr im Zweifel über ihre „Beamtenlaufbahn“ bei der grünen Truppe. Schließlich rollt die Punkwelle in Berlin an und die das dynamische Duo ist begeistert, opfert ad hoc die Matte und gründet das „Mekanik Destrüktiw Kommandöh“. Der Rest ist Geschichte, könnte man sagen. Oder „großes Kino“, wenn das nicht so eine abgewetzte Metapher wäre.

Wir besuchen die Schauplätze der wilden Jahre, das SO 36, den Jodelkeller, das Quartier Latin oder das legendäre Risiko. Und treffen die schrägen Protagonisten dazu, Ratten-Jenny, Alex Kögler, Blixa Bargeld und einen gewissen „Kippi“, der gar nicht gut weg kommt, woran er allerdings selbst schuld ist. „Gefühl und Härte“, der Slogan jener Tage passt auf „Fleischers Blues“ wie die Faust aufs Auge, oder das Sektglas in Kippis Gesicht, der aus der Erfahrung ein Projekt machte, mit dem er endlich den heiß ersehnten Erfolg hatte. Aber das steht in einem anderen Buch …

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Fleischers Odyssee mündet in den Tag, den keiner vergessen kann, der ihn damals in West-Berlin erlebte. Der 22. September 1981 als, bei einem, von Westentaschen-Napoleon Lummer befohlenen, ultrabrutalen Polizeieinsatz, der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay getötet wird. Hauptvogel schildert das Geschehen in aller Härte + Gefühl, doch Zeitzeugen werden bestätigen, ohne Übertreibung. Selbst Fleischers unerschütterlicher Optimismus gerät ins Wanken.

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Kürzlich besuchte mich mein alter Freund Volker zu einem sonntagnachmittaglichen Gespräch über seinen ersten Roman, die Vergangenheit und das Heute, das weder er noch ich uns so düster ausgemalt hätten. Der Sieg des Kapitalismus, die elektronische Vollüberwachung und eine junge Generation, die sich fast gar nicht für Politik interessiert. Stattdessen entstehen neue braune Horden und „idiocracy“regiert allerorten. Dystopisch aber wahr …

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Wir sprachen über den 2012 verstorbenen Edgar Domin, dem Volker nun ein ewiges literarisches Denkmal gesetzt hat. Über die Polizistin Claudianna und das die „Bullen“ damals ja auch verheizt wurden für eine korrupte Baupolitik des Berliner Filzes und das die Hausbesäzza nicht die geschlossene Front bildeten, die von der Springer-Presse gern beschworen wurde. Den meisten ging es nicht um Straßenkampf, sie wollten selbstbestimmte Lebensmodelle ausprobieren und der „Krieg“ wurde ihnen aufgezwungen, auch von zugereisten, unreifen Revoluzzern aus den eigenen Reihen. Schließlich erinnern wir uns an das Interview, das ich 1983 mit ihm machte. „MDK“ hatten soeben eine USA-Tournee hingelegt und Volkers „Verweigerer-Buch“ war erschienen (siehe Anhang). Volker hatte eine Familie gegründet und schimpfte über das „dreckige“ Kreuzberg. Heute, 2016, lebt er immer noch da und ist nicht wegzudenken. Nun schon gar nicht mehr, denn man kann seinen Roman auch als Liebeserklärung an diesen Bezirk lesen. Aber in erster Linie ist er ein Trip:

Ein wilder Trip für Droogs, die ins Lesealter gekommen sind!“

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Letztlich muss man wieder mal alles selber machen und es entspricht ja auch der Punk-Philosophie, dass nur das eigene Tun und Vorwärtsgehen das Leben sinnvoll macht. Deshalb klettern ältere Herren, wie Volker und ich, wieder auf die Bühne. Volker ist auf Lesereise mit Guntbert Warns, der ja auch die Hörbuchfassung eingelesen hat. Die bei Deutsche Grammophon erschienene Hörfassung ermöglicht übrigens auch ein Wiederhören mit Stephan Remmler, der als Conferencier fungiert.

Außerdem tritt Hauptvogel wieder mit Band auf und hält die politisch-wertvolle Punkmucke lebendig. Das nächste Mal am:

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20. Mai – MDK ( 1. Musikalische Manifestation 2016)
in neuer Besetzung incl. Lesung in
der Regenbogenfabrik, Lausitzer Str. 36.

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Das Buch erschien im Martin-Schmitz-Verlag und lässt sich für 14.80€ erwerben.

Das Hörbuch von Deutsche Grammophon füllt 4 CDs  und kostet ca. 20€.

Text: Marcus Kluge

Illus aus “Verweigerer”, 1983 Karin-Kramer-Verlag.

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Illu zum Fleischer-Kapitel “Neue Bude”. Rainer Jacob porträtierte den kaisertreuen Wohnungsvermieter mit dem High-Heel-Fetisch, als ich vor zwei Jahren die Geschichte vorveröffentlichte. (Sorry, nicht mehr da.)

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Interview mit Volker Hauptvogel 1983 für Assasin.

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Berlinische Räume – “MC5 in der TU und frühe Hausbesetzung” / 15. Mai 1972 – A Day in the Life

Wann ist mir eigentlich bewusst geworden, das die Revolte der späten 1960er Jahre endgültig zu ende war und die historische Gelegenheit zu einer Chance in meiner Lebenszeit nicht kommen würde? Und wahrscheinlich nie kommen würde. Spät auf jeden Fall!

Es muss wohl der Abend des 15. Mai 1972 gewesen sein, an dem ich mit Roberto in der Alten Mensa der TU ein Konzert von MC5 besuchte, der berühmten Band aus Detroit, die später zu Recht als Wegbereiter des Punk bezeichnet wurde. Ein denkwürdiges Konzert, den obwohl die 68er Revolte eigentlich gescheitert war, kam an diesem Abend noch einmal das Gefühl von Revolution und Auflehnung in das provinzielle, verschlafene West-Berlin der 1970er Jahre.

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Vier Tage vorher hatte die RAF das alte IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main in die Luft gesprengt. Das 5. US-Korps, das dort stationiert war, beklagte einen Toten und 13 Verletzte. Ein “Kommando Schelm” bekannte sich zum Attentat. Das Ziel war geschickt gewählt, natürlich wussten wir von den Verstrickungen der IG-Farben in die Naziverbrechen, vom Zyklon B, mit dem die Gaskammern in Auschwitz betrieben wurden, genauso wie von den C-Waffen der US-Army wussten, die in Vietnam zum Einsatz kam. Wir hatten zwar begriffen, das der Krieg, den die RAF jetzt führte, falsch war und nur zu mehr Repression führen würde, doch klammheimlich hatten wir wohl doch Sympathien. “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt” hieß es angeblich im Bekennerschreiben. Dass sich der Name auf Petra Schelm* bezog, wurde von den Medien verschwiegen. Man wollte keine Märtyrerin schaffen. Erst Monate danach las ich in einem Flugblatt, dass sich das Kommando “Petra Schelm” nannte, nach dem ersten RAF-Mitglied, das durch Polizeischüsse getötet wurde.

Was wir am Abend des Konzerts nicht ahnen konnten: Die Großfahndung nach dem IG-Farben-Anschlag würde innerhalb eines Monats zur Festnahme des größten Teils der RAF führen. (Gefangennahme von Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe am 1. Juni 1972, Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972, Brigitte Mohnhaupt und Bernhard Braun am 9. Juni 1972, Ulrike Meinhof und Gerhard Müller am 15. Juni 1972.)

Ein Jahr früher hatte es das erste Todesopfer auf Seiten der RAF gegeben. Bei einer Fahndung im gesamten norddeutschen Raum nach etwa fünfzig Mitgliedern der RAF durchbrach Petra Schelm in Begleitung des RAF-Mitglieds Werner Hoppe am 15. Juli 1971 mit ihrem Wagen eine Straßensperre in der Hamburger Stresemannstraße. Nach einer Verfolgungsjagd kam es zu einem Schusswechsel. Petra Schelm wurde von einer Kugel aus einer Maschinenpistole schräg unter dem linken Auge getroffen und tödlich verletzt. Das Opfer wurde zehn Minuten lang liegen gelassen, erst danach wurde Hilfe geleistet. Zunächst wurde sie für Ulrike Meinhof gehalten, erst ein paar Stunden später korrigierte man entsprechende Falschmeldungen. Danach gab es eine Diskussion über die Qualität der Schusswaffenausbildung bei der Polizei.

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Unsere langen Haare und ausgefransten Jeans waren provozierend für die “Schultheiss-Fraktion”, wie ich die Berliner Spießbürger nannte, aber Roberto setzte dem die Krone auf, indem er einen alten Bademantel seines Vaters trug. Heute hört sich das unspektakulär an, aber damals waren die Wertvorstellungen der Bürger was Kleidung anging noch recht rigide. Zu dieser Zeit war es beispeilsweise eine sichere Sache, in der Kneipe zu wetten, man ließe sich eine Glatze schneiden. Damit konnte man immer 100 Mark oder mehr einstreichen, so stigmatisierend war es für einen gesunden jungen Mann mit einem Kahlkopf auf die Straße zu gehen. Roberto wurde auf dem Weg von der Pfalzburger zur Hardenbergstraße laufend angepöbelt. Mehr als einmal mussten wir laufen, um einem Kneipenmob zu entgehen. Wir fühlten uns als Rebellen und waren bester Laune.

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The MC5 “Seagull” poster by Gary Grimshaw. The first poster for the Grande Ballroom, Oct., 1966

MC5 war damals schon eine Legende und wir brannten darauf sie zu erleben. In der »Motor-City« Detroit bildeten weiße Jugendliche eine »White Panther Party«. Musikalisch wurden diese Jugendlichen von MC 5 angestachelt. Die Band forderte auf zur völligen Befreiung von allen hergebrachten Zwängen: Kick out the jams, motherfuckers! Die MC5-Musik fand auch ihren Weg nach Berlin. Auf Demos wurden MC5-Scheiben von Lautsprecherwagen gespielt. Ich hatte sie bei Burkhardt Seiler, dem späteren Zensor, zum ersten Mal gehört.

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Der Eingang zur “Alten Mensa” heute.

Der Eintritt in der “Alten Mensa” der TU kostete 2 Mark Solibeitrag für die Rote Hilfe, die sich um die politischen Gefangenen kümmerte. Als Vorgruppe spielten Ton, Steine, Scherben, die wir kannten, die uns aber nicht interessierten. Der “Blues”, also die aufrührerische psychedelische Rockmusik, die wir suchten und verehrten, kam nicht aus Berlin. Sie kam aus England oder den USA. MC5 spielten diesen “Blues” mit einer beispiellosen aggressiven Energie. Sie hantierten mit Gewehren herum, und Tyler der Sänger wurde scheinbar von Heckenschützen auf der Bühne exekutiert. Zwischendurch informierten politische Gruppen über ihre Arbeit. MC5 spielten “Motor-City Is Burning” von John Lee Hooker, der eigentlich mit dem Lied den Niedergang von Detroit anprangern wollte. Bei MC5 wird daraus die Aufforderung zum Widerstand. An diesem Abend war noch einmal, zum letzten Mal, die Revolution greifbar. Für einen Augenblick dachten wir, jetzt käme die Erhebung wirklich, sie hatte sich nur etwas verspätet, nun würden wir doch siegen und die bürgerlichen Regierungen und ihre bescheuerten Wähler wegfegen. Es war naiv, es war völlig falsch, aber für einen Moment fühlte es sich so an. Zum Ende wurde das Publikum aufgefordert, schwarz mit der BVG zur Lützowstraße 5 zu fahren und dieses Haus zu besetzen. Etwa 500 Konzertbesucher folgten dem Aufruf und ein Teil besetzt das Haus, während sie der Rest auf der Straße anfeuert.

MC5 live in Paris Februar 1972: https://www.youtube.com/watch?v=Y_cXU71XsKA

*http://de.wikipedia.org/wiki/Petra_Schelm

Siehe auch: http://www.riolyrics.de/artikel/id:704

Anhang: Seventies Revisited

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Illustrierte Lesung: „Passbilder“ – Ein Jahrhundert Berlin in Wort und Bild

Im Periplaneta Literaturcafé* am 15. April um 20 Uhr, der Eintritt ist frei.

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Der Autor und Blogger Marcus Kluge liest aus seinen autobiografischen Romanen und Familiengeschichten. Er schlägt einen Bogen zwischen dem Jahr 1910, in dem seine Großmutter nach Berlin kam, um als Hausmädchen zu arbeiten, und der heutigen Hauptstadt der Berliner Republik. Ihn interessiert das Leben der einfachen Leute und wie die große Politik Einfluss auf sie nimmt.

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Im seinem ersten Roman, „Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll“, schildert er den West-Berliner Underground der 70er Jahre. Der zweite Roman, „Ein Hügel voller Narren“, führt den Leser ins von Hausbesetzungen polarisierte Berlin des Jahres 1981.

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Der Illustrator und Artdirector Rainer Jacob zeigt zur Lesung historische Fotos und eigene Zeichnungen.

– Es begann zu Ostern im Jahr 2013. Das Wetter war schlecht und ich hatte einen seltenen Anfall von Langeweile. Einer Eingebung folgend ging ich in den Keller und holte einen Karton mit alten Fotos und Papieren hoch. Ich versenkte mich in die Geschichte meiner Familie und war fasziniert.
Meine Mutter hatte mir viel erzählt, andere Verwandte auch, doch die „Aktenlage” gab einiges her, über das nie gesprochen wurde.

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Die Fotos, die einen Zeitraum von 1910 bis heute abdecken, halfen auch oft meiner Erinnerung auf die Sprünge. Ich schreibe nicht als Journalist oder als Familienchronist, eher als Geschichtenerzähler. Sicher ist auch etwas Sehnsucht nach dem alten Berlin beteiligt, in dem natürlich nicht alles besser war. Doch heute, 2016, ist auch die letzte Brache bebaut, jeder Kiez mit einer auswechselbaren Mall versorgt und jeder Freiraum zum Zwecke des Gelderwerbs vernichtet. Es fehlt mir mein altes Berlin, heute mehr denn je. – M.K.

Blog: https://marcuskluge.wordpress.com/

* Periplaneta Literaturcafé, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
Tel.: 03044673433  Internet: http://www.periplaneta.com/about/cafe/

Berlinische Leben – “Ein Hügel voller Narren” / Roman von Marcus Kluge mit Illustrationen von Rainer Jacob / West-Berlin Herbst 1981

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_n– Der Text ist aktualisiert und ihr findet die Links zu 15 Kapiteln. Zwei stehen noch aus, dann ist auch dieser Roman fertig.-

Schon bevor ich “Xanadu ’73” abgeschlossen hatte, begann ich über eine Fortsetzung nachzudenken. Mitte Juli 2014 begann ich “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Wie in Xanadu steht erneut eine “Schelmen-Figur” im Zentrum und erneut ist es ein ehemaliger Schulfreund, jemand der wie Beaky nie richtig erwachsen geworden ist. Anders ist, dass Roberto unbedingt sozial aufsteigen will. Er will die kleine Welt seiner Herkunft, den winzigen Fotoladen seines Vaters in der Pfalzburger Straße, hinter sich lassen und ein Mitglied des internationalen Jetsets werden. Ein paar Stufen hat er genommen, er hat sich mit dem Schauspieler und Playboy Alex Legrand und dessen Freundin Baby Sommer angefreundet. Er hat im Hippie-Paradies Goa eine Pension aufgebaut und dort auch prominente Gäste gehabt. Aber eben bevor ihn der Leser kennenlernt, hat er einen Rückschlag erlitten. Er hat hoch gepokert, in dem er 250 Kilo Haschisch nach Kanada geschmuggelt hat und er ist erwischt worden. Zwei Jahre war er in Kanada im Knast.

Am 22. September 1981 treffe ich den Rückkehrer im Café Mitropa, es ist der Tag an dem Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Auf der Straße geraten wir in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und müssen vor der wildgewordenen Polizei flüchten. Roberto erkennt seine Heimatstadt kaum wieder.
Doch das ist nicht sein einziges Problem, Gangster sind hinter ihm her, sie wollen Geld zurück, das er mit seinem missglückten Schmuggel verloren hat. Als ich Roberto bei mir wohnen lasse, gerate auch ich in den Strudel einer atemberaubenden Geschichte mit überraschenden Wendungen, die bis zum Widerstand gegen das Nazi-Regime während des 2. Weltkriegs zurückführt. Daneben erkunden wir das legendäre Nachtleben, besuchen Klubs wie das SO 36 und die Music-Hall. Wir erleben Bands, zum Beispiel die “Einstürzenden Neubauten” und die “Goldenen Vampire” und treffen originelle Zeitgenossen.

“Ein Hügel voller Narren” ist eine spannende Kriminalerzählung vor dem Panorama von Hausbesetzerbewegung und Punkszene im West-Berlin des Jahres 1981. Weitere Themen sind Liebe, Freundschaft und der Beruf des Schriftstellers. Besonders interessiert mich die Generation, der in den 50ern Jahren Geborenen. Die Eltern sind oft noch vom Krieg traumatisiert, aber es wird nie darüber gesprochen. Wir, ihre Kinder, begreifen nur langsam, dass eine Aufarbeitung der kollektiven Schuld nie stattgefunden. Das Dritte Reich wurde nur verdrängt und alte Nazis konnten weiter Karriere machen. Der Roman ist der zweite Band meiner West-Berlin-Trilogie. Jedes Kapitel wird mit einer Bleistiftzeichnung von Rainer Jacob illustriert.

Bisher erschienen sind diese Kapitel:

Kapitel 1: http://wp.me/p3UMZB-PT

Kapitel 2: http://wp.me/p3UMZB-QA

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-R1

Kapitel 4: http://wp.me/p3UMZB-RT

Kapitel 5: http://wp.me/p3UMZB-Sl

Kapitel 6: http://wp.me/p3UMZB-T5

Kapitel 7: http://wp.me/p3UMZB-Ux

Kapitel 8: http://wp.me/p3UMZB-VH

Kapitel 9: http://wp.me/p3UMZB-Xg

Kapitel 10: http://wp.me/p3UMZB-YI

Kapitel 11: http://wp.me/p3UMZB-11h

Kapitel 12: http://wp.me/p3UMZB-13k

Kapitel 13: http://wp.me/p3UMZB-18U

Kapitel 14: http://wp.me/p3UMZB-1d8

Kapitel 15: http://wp.me/p3UMZB-1mv

Berlinische Leben – “Helden” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Sieben / von Marcus Kluge

David Bowie has left the building. Now he rocks another stage. We’ll never forget him.

Die erste Nachricht, die ich heute morgen wahrnahm, war der Tod von David Bowie. Traurig, fast schmerzhaft ist der Verlust. Ich war früh Fan von ihm, habe aber erst Jahre später verstanden, wieviel Tiefgang und Bedeutung seine Kunstfiguren hatten. Er war weit mehr als ein Musiker. Eher ein Konzeptartist, der Musik, Kostüm, Bühnenpräsenz, Film und sogar die Selbstpromotion zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen konnte.

Zur Erinnerung an ihn reblogge ich das Helden-Kapitel aus “Ein Hügel voller Narren”.

-(Was bisher geschah: Oktober 1981. Roberto kommt nach zwei Jahren Knast in Kanada zurück in ein ihm fremdes West-Berlin. Die Stadt ist polarisiert, auf der einen Seite stehen Politik, Polizei und Spießbürger, auf der anderen Hausbesetzer, Punks und ihre Unterstützer. Mit Klaus-Jürgen Rattay ist bereits ein Hausbesetzer getötet worden. Roberto versteckt sich in meinem Büro, er hat Schulden bei ein paar Gangstern. Roberto glaubt seinen Freund Ari gesehen zu haben, doch Ari soll sich umgebracht haben. Ich versuche mich als Autor und habe einen Psychiater konsultiert, weil ich unter Panikattacken und Schreibhemmungen leide. Der Arzt, Professor Philippus, behandelt auch einen geheimnisvollen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Wer ist dieser August Deter?)

Es war relativ lange warm gewesen und der Herbst ließ sich Zeit. Doch dann waren die Blätter innerhalb weniger Tage braun geworden und gefallen. Morgens war es empfindlich kühl und das leidige Heizen des Kohleofens begann. Das auch viele andere noch Kohleöfen hatten, merkte ich an meinem Asthma, die schmutzige Braunkohle, die zumeist verheizt wurde, nahm mir wie jeden Herbst die Luft weg. Das hatte angefangen, als ich ein kleines Kind war und war seitdem nicht besser geworden.
Von der Rattay-Sache hörte man in den offiziellen Medien wenig, nachdem der Versuch Rattay zum Kriminellen hochzustilisieren gescheitert war, versuchte man den Todesfall nun totzuschweigen. Es hatte sich ein unabhängiger Untersuchungsausschuss gebildet und es zeigte sich, dass viele Zeugen gesehen hatten, wie der Busfahrer in voller Absicht auf Rattay losgefahren war. Trotzdem schien nichts zu passieren, von den über 60 Zeugen vernahm die Polizei nur wenige. Es würde im Sande verlaufen, dafür würden, der nach außen weltoffen und liberal wirkende Bürgermeister von Weizäcker und sein Haudrauf-Innensenator Lummer schon sorgen. Polizei und Justiz waren in West-Berlin nicht unabhängig, dazu war der Filz zu dicht und zu weitreichend.
Das es in Deutschland auch noch eine außerparlamentarische Opposition gab, zeigte die Friedensdemo in Bonn. 300 000 Menschen waren in die kleine provisorische Hauptstadt am Rhein gekommen, um gegen die weitere Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen zu demonstrieren.
Roberto wohnte immer noch in meinem Büro, er verdiente viel Geld mit windigen Ost-West-Geschäften, die Pistaziengang hielt still und ich schob das Schreiben Tag für Tag vor mir her, bis Rittlin anrief und Druck machte.

Ich spannte einen jungfräulichen Bogen Papier in die Schreibmaschine und begann nachzudenken. Welchen der drei Filme sollte ich mir zuerst vornehmen? “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”, “Mephisto” oder “Das Kabinett des Dorktor Caligari”? Der erste war schwierig, weil ich das Buch nicht mochte und der letzte war einfach, weil ich Dr. Caligari liebte und gut kannte. Am besten ich finge mit Mephisto an, das war mittelschwierig. Ich suchte nach einer Überschrift. “Der verbotene Roman von Klaus Mann endlich verfilmt”. Ich schaute mir mein Werk an und stellte fest: viel zu lang für eine Überschrift. Ich riss den Bogen aus der Maschine, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Der Papierball fiel daneben, weil der Papierkorb voll war, meine Katze begann danach zu jagen. Fasziniert betrachtete ich Pünktchen und begann mir ihr zu spielen. Nach fünf Minuten fiel mir ein, das ich arbeiten wollte. Ich spannte erneut einen frischen Bogen ein und dachte nach.
Es fiel mir jetzt gar nichts mehr ein, mein Hirn war wie leergefegt. Ich dachte an die Ratschläge, die ich in verschiedenen Büchern gefunden hatte. “Schaffen sie sich Rituale!”. Genau, ich kochte Kaffee, drehte eine Zigarette, für Filterzigaretten fehlte mir das Geld und dann legte ich noch eine Tüte Bonbons neben die Schreibmaschine.
Ich trank den Kaffee, rauchte, lutschte Bonbons, aber nichts passierte in meinem Kopf. Gar nichts. Vielleicht hilft ein Ablenkungsmanöver? Ich fing an in der Schreibtischschublade zu kramen. Ich las alte Kontoauszüge, Rechnungen, Lohnsteuerkarten, die ich nicht benutzt hatte. Immer noch nichts. Dann fiel mir Uschis Zettel in die Hand. Ich rief sie kurzerhand an.
“Hallo, der Marcus hier, erinnerst du dich?”
“Ja, klar. Gut das du anrufst. Also, ich hab die Sache nochmal durchdacht und mit meiner Freundin Gudrun drüber geredet. Du hattest schon recht und so.”
Ich war skeptisch: “Was meinst du denn mit, und SO?”
“Na, für dich musste das ja so aussehen, als ob ich dich über den Tisch ziehen wollte.”
“Eher ja übers Bett ziehen und ja, der Gedanke kam mir. Willst du unbedingt ein Kind und ist dir egal, wer der Vater ist?”
“Das stimmt wohl, ich will ein Kind und der Vater spielt nicht so eine große Rolle, außer das er gutaussehend und intelligent sein soll.”
“Und das bin ich, ja?”, langsam macht mir das Gespräch Spaß.
“Ja, das bist du offensichtlich. Also, es tut mir Leid, wenn du dich benutzt fühltst. Als Wiedergutmachung wollte ich dich auf eine Party einladen, die wir am Wochenende hier geben.”
“Wo ist denn hier? Ich fahr nicht in alle Bezirke. Ich hoffe du wohnst in einem ordentlichen Bezirk!”, natürlich verarschte ich sie, das hatte sie verdient.
“Ich weiß nicht, Neukölln?”
“Oh je, das wird wohl nichts. Neukölln!”
Ich zierte mich ein bißchen und lies mich einladen. Danach klappte es endlich auch mit dem Schreiben. Ich kam gut voran. Mephisto fiel mir leicht, ich hatte das Gefühl es wäre “knackig”. Caligari war auch kein Problem. Ich las nochmal in der Filmliteratur nach, lobte die Athmosphäre, die expressionistische Gestaltung, ich verkaufte einen cineastischen Leckerbissen. Dann kamen “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”. Ich hatte den Kolportage-Roman immer verabscheut. Seine Gossen-Romantik machte Heroin für Teenager noch verführerischer, dachte ich. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn Roland Klick den Film mit Laien aus der Drogenszene gedreht hätte. Er war ja auf dem besten Weg dazu. Doch sein politischer Ansatz gefiel den Produzenten nicht und das Tag und Nacht Junkies in den Produktionsräumen herumhingen, oder sogar dort wohnten, gefiel ihnen noch weniger. Klick wurde ausgebootet und Uli Edel machte einen glatten, kommerziellen Streifen daraus. Ich drückte mich ziemlich vorsichtig aus, trotzdem konnte ich meine Kritik nicht verschweigen. Mit dem Ergebnis war ich zufrieden. Die drei Texte trippte ich nochmal sauber ab. Mitten im Mephisto klopfte es an meine Tür. Ein Postbote fragte mich:
“Kennen sie einen Marcus?”
Ich nickte und zeigte auf mich selbst. Der Bote fragte weiter:
“Wohnt hier ein Robert Oderberger?”
Ich wollte die Tür schon zuknallen, als mir bewusst wurde, das er Roberto meinte:
“Ja, das ist richtig.”
Der Bote schaute mich schief an, schien nachzudenken, dann gab er mir ein Telegramm. “An Robert Oderberger c/o Marcus ?, Rheinstraße 14, 1 Berlin 41.”
“dein vater liegt im albrecht-achilles-kh stop wenn du ihn nochmal sehen willst solltest du dich beeilen stop mutter stop”
Das war heftig, als ob Roberto nicht schon genug um die Ohren hatte, jetzt auch das noch. Ich ging zu REAL, kaufte sechs Dosen Hansa-Pils, zu mehr reichte mein Geld nicht und begann auf Roberto zu warten.

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(Berlin Wall Potsdamer Platz November 1975 looking east. CC BY-SA 2.0 Edward Valachovic)

Währenddessen in der Praxis von Professor Amon Philippus in der Uhlandstraße. Der Professor war etwas ratlos, was seinen neuen Patienten betraf. Er wurde nicht schlau aus diesem August Deter, schon der Name war mysteriös.
Und seine Aussage in der Gruppe, er hätte sozusagen sich selbst verloren, kam ihm auch seltsam bekannt vor. Als ob sich jemand diese Figur ausgedacht hätte? Irgendetwas störte ihn bei Deter, für das die Sonnenbrille nur ein Symbol war, sollte er möglicherweise eine Gegenübertragung entwickeln? Deter war ein Rätsel. Eine so weitgehende, retrograde Amnesie war zudem äußerst selten. Trotzdem blieb er seinen Grundsätzen treu und glaubte dem Patienten erst einmal. Aber er musste unbedingt mehr erfahren, vielleicht war dieser Deter der eine besondere Patient, an dem er Philippus, einen völlig neuen Aspekt der Psychiatrie erkennen und studieren könnte, um sich damit in die Annalen der Wissenschaft einzuschreiben. Professor Philippus war zwar ein anerkannter Fachmann, beispielsweise auf dem Gebiet der Traumabehandlung, er hatte einen Lehrstuhl, doch die große internationale Anerkennung war ihm bisher versagt geblieben. Er hatte wohl auch zu wenig veröffentlicht.
Wieder trug Deter die Pilotenbrille, aber diesmal braucht der Professor nichts zu sagen, nachdem Deter Platz genommen hatte, steckte dieser seine Augengläser in die Seitentasche seiner Lederjacke. Arzt und Patient saßen sich nun entspannt gegenüber und Philippus ergriff das Wort:
“Wie geht es ihnen heute, Herr Deter?”
“Eigentlich ganz gut. Es gibt Momente, da fühle ich mich, als ob ich hier in Berlin Urlaub machen würde. Vorhin saß ich im Café Kranzler, wie ein Tourist trank ich eine Weiße und dachte, das Leben sei gar nicht so schlecht. Aber gleich kam dann erneut die Frage, wer ich eigentlich bin und was ich hier verloren habe.”
“Wieso sind sie denn nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte so ein Gefühl, hier würde ich mehr über mich erfahren und
einen Freund treffen. Außerdem hatte ich einen Zettel in der Tasche, das einzige was man nach dem Unfall bei mir gefunden hat. Auf dem Zettel stand die Adresse einer Pension in Berlin. Da wohne ich jetzt. Pension Birth in der Rankestraße.”
“Haben sie diesen Mägdelein-Zettel dabei?”, fragte der Doktor.
Deter griff in seine Brieftasche und reichte Philippus einen kleinen, schmuddligen Zettel. Darauf stand mit Bleistift in Druckbuchstaben nur der Name und die Adresse der Pension Birth. “Birth”, das englische Wort für Geburt, merkwürdig, dachte Philippus. Doch dann riss er sich von diesem Gedanken fort und gab den Zettel zurück.
“Und einem Unfall ist ihr Gedächtnis verloren gegangen.”, stellt Philippus fest.
Deter nickte und erläuterte:
“Ja, aber ich kann mich kaum erinnern, auch die Zeit in der Klinik liegt zum Teil im Dunkeln. Wegen der Kopfverletzung hat man mich erstmal in eine künstliches Koma versetzt. Als sie mich wieder weckten, war ich immer noch sehr benommen. Man hatte mir den Kopf rasiert und ich hatte Pflaster auf der Schädeldecke. Zweimal am Tag kam ein Krankenpfleger und brachte mich in einen Behandlungsraum. Ich bekam eine Spritze, schlief ein und wurde ich in so einer merkwürdigen Maschine behandelt, die “Sieger-Maschine”, nannten sie die. Da habe ich Elekroschocks bekommen. Aber die Chefärztin meinte sie hätte diese Therapie weiterentwickelt, indem bestimmte Hirnregionen durch Elektroden angeregt werden, zum Beispiel der Hippo …, irgendwas mit Hippo?”
“Hippocampus wahrscheinlich. Die Region sieht ein wenig wie Seepferdchen aus, daher die Bezeichnung. Der Hippocampus ist für die Gedächtniskonsolidierung zuständig.”
“Die Chefärztin räumte ein, das dabei das Mittel- und Langzeit-Gedächtnis geschädigt würde, aber statt dessen würden 100-fach neue Bahnungen gebildet. Das sei in meinem Fall unbedingt nötig, damit ich nicht weiter vergesslich bleibe.”
Professor Philippus schüttelte mit dem Kopf: “Das ist eine absolut experimentelle Behandlungsweise, wobei der Terminus Behandlungsweise auch zu bezweifeln ist. Eigentlich wird die Elektrokonvulsionstherapie seit Mitte der 70er Jahre in Europa gar nicht mehr angewendet. Weniger wegen ihrer gewalthaften Natur, viele Patienten haben ja Angst davor und das ist nie gut bei einer Therapie, sondern weil sie keine sichtbaren Erfolge zeitigt. Eine höchst seltsame Klinik, in die sie da geraten sind. Wie heißt den diese Kollegin, die da Chefärztin ist?”
“Ihr Name ist Hölderlein, Doktor Viktoria Hölderlein. Sie meinte, ich hätte ein schweres Trauma erlebt und es wäre nur gut, wenn ich die Erinnerung daran verlieren würde. Sie schwärmte geradezu von ihrer Erfindung. Es wäre, als sein ein Menschheitstraum wahr geworden. Man könne, unbelastet von einer Biografie, die von Verletzung und Erfolglosigkeit geprägt war, ganz neu starten. Als ich in der Klinik war, hörte sich das für mich plausibel und tröstlich an. Vielleicht lag das aber daran, dass sie mir Medikamente gegeben haben, die meine Laune verbessert haben. Die meiste Zeit schwebte ich dort, wie auf rosa Wölkchen, keine Ahnung, was die mir gegeben haben. Die Hölderlein nannte ihre Maschine “Sieger-Maschine”, weil jeder Patient danach wie ein Sieger durchs Leben gehen würde, meinte sie. Im Nachhinein kommt mir dieses Gerede ziemlich verrückt vor, so als ob die Frau selber in eine Klapsmühle gehörte.”

Philippus untersuchte Deters Kopf und fand tatsächlich kleine Narben:
“Das ist ja eine wilde Geschichte. Sie haben nicht Schriftliches von dieser Institution?”
“Ich kann mir vorstellen, wie sich das für sie anhört. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte mir das ausgedacht. Manchmal glaube ich das selber. Weil alles in einem grauen Nebel verschwimmt, wenn ich etwas festhalten will. Aber das Schlimmste ist, ich habe das Gefühl ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben.”
“Was war das denn für ein Verbrechen, Herr Deter?”
“Eine Art Anschlag auf Menschen, eine Bombe glaube ich und irgendwie bin ich mit schuld daran. Es kommen mir jetzt auch öfter Erinnerungen hoch. Eigentlich hatte ich gehofft, dass das passiert. Nun habe ich eher Angst davor, weil ich fürchte, ich könnte eine böse Wahrheit über mich erfahren.”
“Lieber Herr Deter, ich fürchte man hat ihnen in dieser Klinik in verantwortungsloser Weise in ihrem Hirn herumgepfuscht. Hoffentlich fällt ihnen noch mehr dazu ein, dann muss man diese sogenannten Kollegen anzeigen. Und sonst werden wir mit ihren Erinnerungen arbeiten, sie brauchen da nicht allein durchzugehen. Neben mir haben sie ja auch noch die Gruppe. Außerdem werde ich ihnen angstlösendes Medikament aufschreiben und zusätzlich noch “Prager Wasser”, das regt das Gedächtnis an.”
Nein, er hatte keine Vorurteile gegen diesen Patienten, dachte der Doktor. Der Mann tat ihm ehrlich leid und er würde ihm helfen und herausbekommen, was hinter dieser rätselhaften Geschichte steckte.

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(David Bowie Meistersaal Hansa-Tonstudios 1977 CC BY-SA 3.0)

Um 18 Uhr war Roberto immer noch nicht zurück. Ich machte das Radio an und hörte SF-Beat. Juliane Bartel moderierte, meine Lieblingsstimme im Radio. Bei ihr hatten selbst die Versprecher Klasse. Einmal hatte sie, als sie Off-Kudamm-Kinos sagen wollte, “Off-Keydamm-Kunos” daraus gemacht. Der Ausdruck war für mich zum geflügelten Wort geworden. Ich bezeichnete damit West-Berlin-Touristen, die mit dem Stadtplan in der Hand durch die Nebenschauplätze der “Frontstadt” irrten, und dabei einen ängstlichen und verwirrten Eindruck machten.
Juliane Bartel schlug, mithilfe des Stichworts “Helden”, einen Bogen von der Friedensdemonstration vor ein paar Tagen im Bonner Hofgarten, zum Film “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”. Sie teilte meine Meinung, der Streifen wäre spannender geworden, wenn Klick ihn mit Laien gemacht hätte. Aber auch das den entstandenen Streifen von Uli Edel lobte sie. Irrte ich mich in meinem Urteil? War ich voreingenommen? Immerhin hatte ich den Film nicht gesehen. Ach was, ein Vorurteil war auch ein Standpunkt! Ich ging in die Küche, holte mir ein neues Bier und drehte eine Zigarette. Jetzt spielten sie “Heroes” von Bowie, die englische Fassung.

“And we kissed,
as though nothing could fall
And the shame was on the other side
Oh we can beat them, for ever and ever
Then we could be Heroes,
just for one day.”

Bowie hatte das Stück im Sommer 77 im Berliner Hansa-Studio aufgenommen. Wenn man vom Mischpult aus aus dem Fenster blickte, konnte man die Mauer und einen Wachturm sehen. Im Schatten der Mauer traf sich regelmäßig ein Liebespaar, daher hatte Bowie die Idee zu “Helden”.
Ich hatte Bowie nur einmal gesehen in seiner Berliner Zeit. Es war morgens um halb fünf in einem Klub in Charlottenburg, der DNC hieß, Damaschke-Nachtclub. Der Laden war fast leer, ich hatte es nicht geschafft rechtzeitig zu gehen, ich hatte Liebeskummer und zuviel getrunken. Bowie kam in einem Trench-Coat mit hochgestelltem Kragen herein, er marschierte zielstrebig auf den Bartender zu. Ich musste daran denken, das Trench-Coats “Grabenmäntel” hießen, weil sie ursprünglich in den Schützengräben der ersten Weltkriegs getragen wurden. Bowie fragte etwas, der Barmann zeigte auf den Billardraum. Dort konnte ich beobachten wie Bowie mit einem Langhaarigen etwas austauschte, Geld gegen Koks nahm ich an. Das der Musiker in Berlin ein orgiastisches Leben führte, hatten mir Freunde erzählt. Und morgens um fünf geht man nicht los um Downer oder Grass zu kaufen, nur Koks machte Sinn, zum weiterfeiern oder irgendeinen Termin am Morgen abzuarbeiten, ohne dass man geschlafen hatte. Ich folgte Bowie nach draußen und sah noch, wie er in ein wartendes Taxi stieg, während ich mich aufmachte zur Haltestelle des Vierer-Nachtbusses zu laufen.

Es klopfte an meine Tür in der Rheinstraße, ich ließ meinen Freund ein. Roberto begann sofort mir eine Anekdote von Puvogel zu erzählen und ich hatte Schwierigkeiten ihn zu stoppen, um ihm die Nachricht über seinen Vater zu übermitteln. Dann las er das Telegramm von seiner Mutter, ich merkte ihm keinerlei Rührung an. Ich bot ihm einen Stuhl an und holte ein Bier für ihn. Er saß da, stumm und irgendwie verloren, ich fragte ihn:
“Soll ich mitkommen, Roberto?”
Er nickte. Nachdem wir eine Zigarette gemeinsam geraucht hatten, ging er hinüber ins Büro und zog sich seinen hellblauen Anzug an, sogar eine Krawatte hatte er umgebunden. Sie war weinrot, mit einem gelben Charly Brown darauf. Eine halbe Stunde später saßen wir im Taxi, im Gegensatz zu mir hatte er, seit er für Puvogel Konterbande transportierte, immer Geld in der Tasche. Beim Pförtner fragten wir nach dem Zimmer von Herrn Oderberger, der Uniformierte teilte uns mit, dass die Besuchszeit gleich vorbei sei, schließlich verriet er uns aber doch, wo wir hinmussten. Vor dem Krankenzimmer stand Robertos bleiche, übermüdet aussehende Mutter. Caro, Robertos Schwester war beim Vater und wir beschlossen, dass Roberto und ich sie ablösten. Robertos Vater sah alt aus, viel älter als Anfang 70, das Gesicht ähnelte bereits einem Totenschädel und seine Stimme war schwach und brüchig. Der Krebs hatte seine Reserven aufgezehrt und das Terrain für Bruder Hein vorbereitet. Er schien sich sehr über Robertos Besuch zu freuen und mich begrüsste er auch sehr freundlich, ich war ja oft in der kleinen Wohnung in der Pfalzburger Straße gewesen, als wir einen Übungsraum im Keller unter dem Uhrenladen hatten. Roberto setzte sich auf die Bettkante und ich ein paar Meter weiter auf einen Stuhl. Der andere alte Mann, der noch in dem Zimmer lag, schlief.
“Ich schätze es geht nicht mehr lange mit mir und würde dir gern noch was sagen, bevor ich hier verschwinde. Dein Freund kann ruhig mithören.”
Roberto unterbrach seinen Vater:
“Sollest du dich nicht lieber schonen, Papa.”
Der Vater schüttelte den Kopf:
“Nee, das muss jetzt sein. Ich habe dir das nie gesagt, Robert, oder wegen meiner, Roberto, wenn dir das lieber ist. Aber ich war immer stolz auf dich. Als du in Indien deine Pension aufgebaut hast, vielleicht war das kein großes Geschäft, eher sowas wie mein Uhrenladen, doch du hast das allein geschafft und ich fand das toll.”
Robertos Vater machte eine Pause. Ich holte ein Glas Wasser, Roberto gab ihm zu trinken:
“Papa, das strengt dich doch zu sehr an, das kannst du mir später noch sagen.”
“Nein, nein, das muss ich jetzt sagen. Glaub mir, ich weiß das. Eins noch, die Leica. Ich hätte sie damals Legrand abschwatzen sollen, aber ich konnte nicht. Sie ist wertvoll. Wertvoller als Legrand weiß. Caro und du hättet einen besseren Start ins Leben gehabt, es war ein Fehler, es tut mir leid.”
Er musste eine Pause machen, das Sprechen strengte ihn sehr an, doch er war nicht davon abzuhalten, weiter zu sprechen:
“Du weißt ja dass ich in der Berliner Ghetto-Gruppe war, 1943 hat mich die Gestapo festgenommen und sie haben mich sechs Wochen im Keller der Prinz-Albrecht-Straße eingepfercht. Ein SS-Offizier hatte meine Leica für sich behalten. Ich dachte ich sehe sie nie wieder. Na ja, du kannst dir vorstellen, was die Gestapo mit mir gemacht hat. Ich war fast froh, als ich in ein Lager gekommen bin. Dort habe ich eben jenen Offizier wiedergetroffen. Das Lager war in der Nähe von Pressburg und der Offizier, er hieß Altmann, hat mir befohlen mit der Kamera das Lagerleben zu dokumentieren. Es war schlimm, das Schlimmste, was ich je machen musste. Heute denke ich, es wäre besser gewesen, mich umbringen zu lassen. Aber ich habe an meinem Leben gehangen, deshalb habe ich diese Arbeit gemacht und deshalb wollte ich die Leica nicht zurückhaben. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr angefasst.”
Herr Oderberger zeigte auf den Nachttisch, Roberto griff hinein und holte einen Umschlag heraus. Es war ein alter DIN-A5 Umschlag aus gräulich-verblichenem Natronpapier.
“Den sollst du haben, Roberto, da steht drin, was ich erlebt habe. Eigentlich gehört die Leica Caro und dir und …”
Er beugte sich vor und flüsterte:
“Es keine normale Schraub-Leica III, es ist eine Leica IV, ein Apparat, der nie in Serie gegangen ist. Es gab nur wenige Prototypen. Wahrscheinlich ist es die einzige, die es noch gibt. Sie ist sehr, sehr wertvoll.”
Oderberger war am Ende seiner Kräfte, er sagte nun nichts mehr. Roberto küsste ihn auf die Stirn und hielt seine Hand. Ich verlies das Krankenzimmer ohne mich zu verabschieden und wartete auf dem Flur. Eine halbe Stunde später kam Roberto heraus und nickte. Sein Vater war gestorben. Wir sprachen noch kurz mit Caro und Robertos Mutter, aber ich habe keine Ahnung, was dabei gesagt wurde. Mir war, als hätte mir jemand mit einem Brett auf den Kopf geschlagen. Ich fühlte mich heillos überfordert, Frau Oderberger fragte mich, ob ich den Toten noch einmal sehen möchte, ich schüttelte nur den Kopf. Wie mochte sich Roberto fühlen, wenn schon ich so durch den Wind war? Wir schafften es uns zu verabschieden und als wir vor dem Eingang der Klinik gierig Luft einsogen, fiel unser Blick fast synchron nach rechts, wo 50 Meter weiter, am Kudamm der Athenergrill lag. Wir nickten uns zu und stolperten in Richtung Athenergrill los.
Ohne ein Wort zu sprechen liefen wir auf den Getränke-Tresen zu. Kurz bevor wir ihn erreichten, fiel mir ein, das wir ja erst an der Kasse vorn bezahlen mussten. Dieses System war unumgänglich, die Tresenkräfte zapften erst dann Bier, wenn man ihnen einen Bon vorlegte. Roberto übernahm das Zahlen und bestellte Bier und Ouzo, weil es keine doppelten Ouzos gab, eben vier kleine. Mit unseren Getränken setzten wir uns in die letzte hinterste Ecke.
Ich musste an Beaky denken, unseren gemeinsamen Schulfreund, der 1973 an einer Überdosis Heroin gestorben war. Mit ihm hatte ich auch hier gesessen. Wir sprachen kurz über Beaky und sein kurzes, heftiges Leben. Aber ein anderes Thema stand im Raum und begehrte Aufmerksamkeit. Schließlich holte Roberto den Natronpapier-Umschlag heraus:
“Sag mal, Marcus, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich glaube, ich kann das jetzt nicht lesen, vielleicht später einmal, aber jetzt nicht. Könntest du das lesen und mir später irgendwie schonungsvoll beibringen, was drinsteht?”
Ich nahm den Umschlag aus seiner Hand und sagte:
“Ja, klar, kann ich machen.”, obwohl ich gar keine Lust hatte, mich diesem Kapitel der deutschen Geschichte auf so intime Weise zu nähern. Ich griff in den Umschlag und holte ein Heftchen im Format DIN A6 heraus. Aus dem Heftchen fielen ein paar winzige Fotos, auf denen Menschen in gestreiften Häftlingsanzügen zu sehen waren, die so dünn waren, dass es schwerfiel zu sagen, ob es Männer oder Frauen waren.
Ich steckte alles schnell wieder in den Umschlag und dann in meine Jackentasche. Dann stand ich auf, klopfte Roberto auf die Schulter und sagte:
“Ich hol mal noch zwei Ouzo.”

– wird fortgesetzt –

Hansa-Tonstudios: http://de.wikipedia.org/wiki/Hansa-Tonstudios

Bowie in Berlin: http://de.wikipedia.org/wiki/David_Bowie#Die_Berliner_Zeit

Illu: Rainer Jacob

Trailer Film “Chistiane F.”: https://www.youtube.com/watch?v=kgAfjw3Op5Q

Berlinische Leben – “Der letzte Abend der Revolution” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Drei / von Marcus Kluge / Rückblende: 1972

1972, also neun Jahre bevor ich Roberto in Schöneberg wiedertraf, lernte dieser den Schauspieler Alex Legrand kennen. Da die erstaunliche Freundschaft zu dem Mimen eine wichtige Rolle in unserer Geschichte spielt, muss ich von diesem Kennenlernen berichten. Damit untrennbar verbunden ist jedoch auch ein Gegenstand, der in der Rückblende in das Jahr 1972 ebenfalls unverzichtbar ist, nämlich die “Leica”. Das Wort “Leica” war für mich bis zum Jahr 1972 lediglich ein russischer Hundename und wurde “Laika” geschrieben. Es erinnerte mich stets an die Hündin, die genau wie ich, 1954 geboren wurde, und die am 3. November 1957 im Erdorbit starb. Ihr früher Tod überraschte die Wissenschaftler, ihre Rückkehr zur Erde war zwar nicht vorgesehen und doch hatte man nicht damit gerechnet, dass sie schon nach wenigen Stunden im All, wahrscheinlich wegen Hitze und Stress, sterben würde. Ihr für mich sinnloser Tod hatte mich schon als kleines Kind empört und gegen die Naturwissenschaften eingenommen. Als mir aber 1972, in der Wannsee-Villa des Schauspielers Legrand, Roberto einen alten Foto-Apparat zeigte, lernte ich, das “Leica” auch der Name dieser schönen Kameras ist, die als wahre Wunderwerke der deutschen Feinmechanik gelten und von denen nicht wenige gesuchte und wertvolle Sammlerstücke sind. Bleibt die Frage, wer ist Alex Legrand und wie lernte Roberto ihn kennen, so gut kennen, dass Roberto mich in Legrands herrschaftlicher Wannsee-Villa empfangen konnte?

Alex Legrand war in den 1950er Jahren der Traum-Schwiegersohn aller Schwiegermütter und ein Traummann für romantische junge Mädchen. Geboren wurde er in Berlin 1922 als Emil Alexander Czirrschenga. Er brauchte keinen Agenten, um zu wissen, dass er unter diesem Namen keinen Erfolg als Schauspieler haben würde. Er spielte nach dem Krieg in Düsseldorf unter dem Namen Alexander Schenga Theater, doch als er sein erstes Filmangebot bekam, er spielte einen Adeligen in einem Heimatfilm, dachte er sich den Künstlernamen Alex Legrand aus. In kurzer Zeit machte er mehrere Berg- und Tal-Heimatfilme und wurde zum Star im deutschsprachigen Raum. Für einige Jahre versuchte er in Hollywood sein Glück, bekam aber nur kleine Nebenrollen. Als ihm aus Deutschland die Hauptrolle in einem Abenteuerstreifen angeboten wurde, fackelte er nicht lange und kehrte zurück. “Die Liebenden von Jaipur” wurde ein sensationeller Erfolg. Es folgten fast ein halbes Dutzend ähnliche asiatische Abenteuer und Liebesschnulzen. Er war der gefragteste Junggeselle des deutschen Jet Set, nur wechslende Flirts mit Stars und Sternchen verhinderten, das man ihm eine Schwäche fürs eigene Geschlecht andichtete. Doch keine dieser Affairen hatte Bestand. Das änderte sich erst 1965, als er die freche junge Komödie “Baby Berlin” drehte. Die weibliche Haupt- und Titelrolle spielte die 25 Jahre jüngere Gaby Sommer. Legrand verliebte sich, sie wurden noch während des Drehs ein Paar und gleich danach reisten sie nach Las Vegas und heirateten dort spontan. “Alex und Baby Sommer” wurden für ein Jahr zum Lieblingspaar der deutschen Boulevardpresse. Dann legte sich die Aufregung, Legrand legte eine schöpferische Pause ein und Baby Sommer bekam nur Rollen in seichten Komödien angeboten, die sie aus Prinzip ablehnte. Legrand hatte seine Gagen klug investiert und sie konnten sich die Auszeit leisten. 1970 hatte Paul Hubschmid dann keine Lust mehr den Professor Higgins in “My Fair Lady” zu spielen, nach fast 1000 Vorstellungen hatte Hubschmid die Rolle satt. Alex Legrand bekam das Angebot ihn zu ersetzen. Baby Sommer spielte die Eliza Doolittle und Legrand hatte sich wieder einmal neu erfunden. Das Paar gab das Musical in der Komödie am Kurfürstendamm en suite, fast die ganze Spielzeit 1970/71.

Legrand hatte ein Hobby, er fotografierte und zwar recht ordentlich. 1965 hatte es sogar einmal eine Ausstellung seiner Bilder gegeben, aber Legrand hatte Angst nur wegen seines Ruhms Erfolg zu haben, deshalb blieb es bei dieser einen. Außerdem sammelte er historische Foto-Apparate, besonders die Produkte der Firma Leitz hatten es ihm angetan.
Im Sommer 1972 spielte er eine Schmuckrolle in einer TV-Serie, die an die außerordentlich beliebten Karl May-Filme anknüpfte. “Kara Ben Nemsi Effendi” wurde im diesem Sommer nicht in Jugoslawien, wie die Spielfime, sondern im tschechoslowakischen Teil der Karpaten gedreht. Man hatte ihm einen Charakter ins Skript geschrieben, der beim großen Sachsen fehlte. Viele Prominente Schauspieler sollten den Erfolg der Serie sichern, die mit weniger Budget als die filme auskommen musste. Didi Hallervorden, Lina Carstens, Ferdy Mayne und Günther Lamprecht gehörten zum Ensemble. Heinz Schubert Verkörperung des Hadschi Halef Omar wurde zum großen Erfolg des Pantoffelkinos und Legrand freute sich dabei zu sein. Legrand hatte sich zusätzlich noch Zeit genommen, das malerische Gebirge zu bereisen. Auf dem Rückweg, während eines Aufenthalts in Pressburg, fand er bei einem Trödler eine Leica. Der Besitzer wusste zwar das der Name Leica Geld bedeutete, trotzdem war der Preis eher ein Trinkgeld für den Mimen. Die Leica ähnelte seiner M3 aus dem Jahre 1935, und Legrand freute sich über den Fund, obwohl der Verschluss nicht funktionierte. Wieder in Berlin probte man für eine weitere Spielzeit “My Fair Lady”, doch diesmal wollte man nach 6 Wochen auf Tournee gehen und den Herbst und den halben Winter mit der Inszenierung reisen.

Dienstag, 15. August 1972. Eigentlich war um 10 Uhr eine Probe angesetzt, doch Baby hatte einen Kater und kam nicht aus dem Bett. Solche Eskapaden leistete sie sich ab und zu, allerdings nur während der Proben. Legrand war mit dem Regisseur frühstücken gewesen und überlegte, was er mit der freien Zeit anfangen könnte, als ihm die Leica einfiel. Er hatte sie in seiner Garderobe, weil er sie schätzen lassen wollte. Nur hatte er Vorbehalte zu einem der großen Foto-Geschäfte zu gehen, er fürchtete übers Ohr gehauen zu werden. Er schlenderte los, die Kamera in einer Fototasche. Der Zufall wollte es, dass er bei Robertos Vater in Pfalzburger Starße landete. Hermann Oderberger hatte ein winziges Foto-Geschäft, es trug sich kaum selbst. Wenn Robertos Mutter nicht als Krankenschwester gearbeitet hätte, wären sie verhungert. Aber Herr Oderberger hing an seinem Geschäft und seine Frau wusste, dass es ihn glücklich machte. Die ganze Wohnung war klein, doch störte sich niemand in der Familie daran, der Vater vermittelte seinen Kindern, dass es wichtigere werte als geld und Besitztümer im Leben gab. Über dem Verkaufsraum befand sich eine Art Hängeboden, auf dem ein Bett stand und der das eigene, kleine Reich von Roberto bildete. Oft lag er auf seinem Bett, träumte vor sich hin, las oder verfolgte die Gespräche, die sein Vater mit seinen Kunden führte. So war es auch heute der Fall.

Legrand präsentierte Herrn Oderberger sein Fundstück und Oderberger wurde von einer andächtigen Stille erfüllt. “Konnte es sein, das er hier nicht nur den heiligen Gral aller Leica-Sammler in der Hand hielt, sondern die eine Leica, die er so gut kannte wie die sprichwörtliche eigene Westentasche?” Diesen Gedanken sprach er natürlich nicht aus, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte und ob der Kunde überhaupt ein Wissender war, was Leicas anging.
Oderberg besah sich die Kamera, die, wie alle Schraub-Leicas, ein schlankes Gehäuse mit abgerundeten Seitenflächen hatte. Ein Blick in den Messsucher bestätigte seine Vermutung, tatsächlich wurde die Entfernungsmessung mittig eingespiegelt. Er hielt also tatsächlich eine Leica M IV in der Hand, von der es nur ein einziges Exemplar im Besitz von Leitz geben sollte, das nicht nur unverkäuflich, sondern auch unbezahlbar sein sollte. Man munkelte, es sei für einen sechs- oder sieben-stelligen Betrag versichert. Es hatte zwar etwa zwei Dutzend Prototypen gegeben, damals 1936, aber außer der einen, war den Leicafreunden keine weitere bekannt. Aber wie gewöhnlich unter Sammlern, nichts Genaues wusste man nicht, und wenn jemand mehr wusste, behielt er es für sich.
Nun war die Frage, ob es auch die Leica M IV war, an die er sich so gut erinnern konnte? Er schraubte das Objektiv ab, was bei Schraubleicas eine etwas umständliche Angelegenheit ist, längst nicht so praktisch wie ein Bajonettverschluss, den erst spätere Leicas hatten. Und tatsächlich im Gehäuse der Kamera fand er das von ihm selbst eingravierte H.O. Es war “seine” Leica M VI, sie hatte nicht nur den Krieg überlebt, sie hatte vier Jahrzehnte, nachdem sie “beschlagnahmt” wurde, den Weg zurück zu ihm gefunden. Eine Geschichte, die so unwahrscheinlich war, das nur das Leben sie schreiben konnte. Hermann Oderberger musste sich am Verkaufstisch festhalten, ihm war schwindlig und er hörte ein Rauschen in seinen Ohren. Vor seinen Augen sah Herr Oderberger Bilder aus jenem Jahr 1942, von der Sowjet-Union Ausstellung, von den Freunden in der Ghetto-Gruppe, vom Verhör-Keller und schließlich vom Lager.
“Der Verschluss ist kaputt, meinen sie sie können sie reparieren?”, hörte Oderberger seinen Kunden fragen. Er riss sich zusammen, unbedingt müsse der Mann die Leica bei ihm lassen, er bräuchte Zeit nachzudenken, wie er sich verhalten sollte: “Das glaube ich doch, diese M III sind ja quasi unverwüstlich. Ich werde es mir in den nächsten Tagen ankucken. Kommen sie doch nächste Woche wieder rein.” Spontan hatte Herr Oderberger entschieden nichts über die Besonderheit der Kamera zu sagen. Roberto, der oben in seinem Hängeboden-Stübchen, alles mitgehört hatte, entschied sich etwas spontanes zu tun.

Wann ist mir eigentlich bewusst geworden, das die Revolte der späten 1960er Jahre endgültig zuende war und die historische Gelegenheit zu einer neuen Chance in meiner Lebenszeit nicht kommen würde? Es musste wohl der Abend des 15. Mai 1972 gewesen sein, an dem ich mit Roberto im Audi Max der TU, ein Konzert von MC5 besuchte, der berühmten Band aus Detroit, die später zu Recht als Wegbereiter des Punk bezeichnet wurde. Ein denkwürdiges Konzert, den obwohl die 68er Revolte eigentlich gescheitert war, kam an diesem Abend noch einmal das Gefühl von Revolution und Auflehnung in das provinzielle, verschlafene West-Berlin der 1970er Jahre. Vier Tage vorher hatte die RAF das alte IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main in die Luft gesprengt. Das 5. US-Korps, das dort stationiert war, beklagte einen Toten und 13 Verletzte. Ein “Kommando Schelm” bekennt sich zum Attentat. Das Ziel war geschickt gewählt, natürlich wussten wir von den Verstrickungen der IG-Farben in die Naziverbrechen, vom Zyklon B, mit dem die Gaskammern in Auschwitz betrieben wurden, genauso wie von den C-Waffen der US-Army wussten, die in Vietnam zum Einsatz kam. Wir hatten zwar begriffen, das der Krieg, den die RAF jetzt führte, falsch war und nur zu mehr Repression führen würde, doch klammheimlich hatten wir wohl doch Sympathien. “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.” Dass sich der Name auf Petra Schelm bezog, wurde von den Medien verschwiegen. Man wollte keine Märtyrerin schaffen. Petra Schelm war 1971 das erste RAF-Mitglied, dass von der Polizei getötet wurde. Ich erfuhr den Zusammenhang erst Monate später von einem Flugblatt.

Unsere langen Haare und ausgefransten Jeans waren provozierend für die “Schultheiss-Fraktion”, wie ich die Berliner Spießbürger nannte, aber Roberto setzte dem die Krone auf, indem er einen alten Bademantel seines Vaters trug. Heute hört sich das unspektakulär an, aber damals waren die Wertvorstellungen der Bürger was Kleidung anging noch recht rigide. Zu dieser Zeit war es beispeilsweise eine sichere Sache, in der Kneipe zu wetten, man ließe sich eine Glatze schneiden. Damit konnte man immer 100 Mark oder mehr einstreichen, so stigmatisierend war es für einen gesunden jungen Mann mit einem Kahlkopf auf die Straße zu gehen. Roberto wurde auf dem Weg von der Pfalzburger zur Hardenbergstraße laufend angepöbelt. Mehr als einmal mussten wir laufen, um einem Kneipenmob zu entgehen. Wir fühlten uns als Rebellen und waren bester Laune.
MC5 war damals schon eine Legende und wir brannten darauf sie zu erleben. In der »Motor-City« Detroit bildeten weiße Jugendliche eine »White Panther Party«. Musikalisch wurden diese Jugendlichen von MC 5 angestachelt. Die Band forderte auf zur völligen Befreiung von allen hergebrachten Zwängen: Kick out the jams, motherfuckers! Die MC5-Musik fand auch ihren Weg nach Berlin. Auf Demos wurden MC5-Scheiben von Lautsprecherwagen gespielt. Da hatten wir sie zum ersten Mal gehört.
Der Eintritt im Audi Max der TU kostete 2 Mark Solibeitrag für die Rote Hilfe, die sich um die politischen Gefangenen kümmerte. Als Vorgruppe spielten Ton, Steine, Scherben, die wir kannten, die uns aber nicht interessierten. Der “Blues”, also die aufrührerische psychedelische Rockmusik, die wir suchten und verehrten, kam nicht aus Berlin. Sie kam aus England oder den USA. MC5 spielten diesen “Blues” mit einer beispiellosen aggressiven Energie. Sie hantierten mit Gewehren herum, und Tyler der Sänger wurde scheinbar von Heckenschützen auf der Bühne exekutiert. Zwischendurch informierten politische Gruppen über ihre Arbeit. MC5 spielten “Motor-City Is Burning” von John Lee Hooker, der eigentlich mit dem Lied den Niedergang von Detroit anprangern wollte. Bei MC5 wird daraus die Aufforderung zum Widerstand. An diesem Abend war noch einmal, zum letzten Mal, die Revolution greifbar. Für einen Augenblick dachten wir, jetzt käme die Erhebung wirklich, sie hatte sich nur etwas verspätet, nun würden wir doch siegen und die bürgerlichen Regierungen und ihre bescheuerten Wähler wegfegen. Es war naiv, es war völlig falsch, aber für einen Moment fühlte es sich so an. Zum Ende wurde das Publikum aufgefordert, schwarz mit der BVG zur Lützowstraße 5 zu fahren und dieses Haus zu besetzen. Etwa 500 Konzertbesucher folgten dem Aufruf und besetzten das Haus.

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Roberto und ich waren bei dieser Besetzung nicht dabei, Roberto hatte schon während des Konzertes Bauchschmerzen gehabt, aber danach wurden sie unerträglich, zudem war ihm schwindlig und er sah totenblass aus. Ich brachte ihn ins Krankenhaus, ich wartete, aber die Schwestern weigerten sich mir irgendetwas zu sagen, weil ich ja kein Verwandter war. Erst als Robertos Mutter kam, die ich angerufen hatte, erfuhr ich Roberto hatte einen Darmverschluss. Er war soweit fortgeschritten, dass sofort operiert werden musste, eigentlich hätte er schon seit Tagen unerträgliche Schmerzen haben müssen, wunderten sich die Ärzte. Ein paar Tage später rief mich Robertos Mutter an, er hatte die OP gut überstanden. Eigentlich hätte ich ihn besuchen sollen, aber, wieso auch immer, tat ich es nicht. Doch er rief mich an, als er wieder zu Hause war. Wir sprachen über das Ende unserer Schulkarriere und was wir mit unserem Leben machen wollten. Roberto war nachdenklich: “Jetzt nach dem MC5 Konzert wäre ich fast gestorben. Ich war selber Schuld, ich hatte mehrere Tage Opium gegessen, viel zu viel, und das hat den Darm lahmgelegt. Durch die Droge habe den Schmerz nicht bemerkt, bis es fast zu spät war. Danach habe beschlossen, ich muss irgendwas aus meinem Leben machen, die Drogen allein bringens nicht, du musst auch ein Ziel haben.”
“Wahrscheinlich hast du Recht!”, antwortete ich ihm, “aber ich hänge völlig in der Luft. Eigentlich wollte ich studieren, einen anderen Plan gab es nie. Als die Schweine mich dann vom Gymnasium geschmissen haben, konnte ich das vergessen. Ich will mich einfach nicht mit diesem Scheiß-System einlassen, ich kann nicht wie ein Schultheiss-Prolo malochen gehen. Ich halte schon die Kollegen nicht aus. Selbst Buchhändler kann ich ohne Abi nicht werden” Ich beendete das Gespräch recht schnell und verlor Roberto eine Zeitlang aus den Augen.
Anfang des Jahres war mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst geworden, dass auch ich so etwas wie Sehnsucht in mir trug. Sehnsucht nach echtem Leben, was immer das war, Sehnsucht nach echter Liebe und auch Sehnsucht nach einer guten Arbeit, etwas worin ich gut wäre und wo man mich bräuchte. Ich konnte sogar sagen wann das Gefühl zum ersten Mal in mir aufstieg. Es war am 2. Februar 1972 gewesen, ich merkte mir fast immer die Daten der Tage, an denen wichtiges passiert war. An diesem Tag lief “Rocker” der Film von Klaus Lemke im Fernsehen und plötzlich fühlte ich was. Als der Abspann lief, unterlegt mit Van Morrisons Stimme, die “It’s All Over Now, Baby Blue” sang, löste sich ein Kloß im meinem Hals, mir war traurig und fröhlich gleichzeitig zumute und eine Sehnsucht stieg in mir auf, eine Sehnsucht, fast wie eine Gier und plötzlich wusste ich, das mein Leben doch nicht so sinnlos und traurig war, wie ich es normalerweise empfand.

“Leave your stepping stones behind
There’s something that calls for you
Forget the debt you left that will not follow you.”

“Your lover who has just walked through the door
Has taken all his blankets from the floor
The carpet too is foldin’ over you
And it’s all over now baby blue.”

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Im Spätsommer 1972 besorgte mir meine Mutter einen Job in einer Buchhandlung, obwohl ich kein Buchhändler war, wollten sie mich als Aushilfe beschäftigen, allerdings nur 16 Stunden in der Woche, im Einzelfall auch mehr. Eine Wohnung konnte ich nicht davon bezahlen, es war mir peinlich noch bei meiner Mutter zu wohnen. Trotz des Jobs erinnerte mich die Wohnsituation regelmäßig an die ungeklärte Frage, was ich mit meiner Zukunft machen sollte, denn so ein Job war ja keine Dauerlösung.

Dienstag, 15. August 1972. Alex Legrand war schon auf der Uhlandstraße, als er jemand hinter sich rufen hörte. Ein großer junger Mann lief hinter ihm her und wedelte mit den Armen: “Herr Legrand, Herr Legrand!” Amüsiert blieb Legrand stehen und wartete was der aufgeregte Junge wollte.
Roberto kämpfte noch mit seinem Atem: “Können sie mir vielleicht ein Autogramm geben?” Legrand konnte. Er zog eine seiner Fotografien aus dem Jackett, die er für diesen Zweck stets bei sich trug: “Für wenn soll es denn sein?”
“Ich heiße Roberto, ich bin der Sohn von Herren Oderberger vom Foto-Geschäft, aber Roberto reicht.”
Legrand schmunzelte, irgendwie gefiel ihm dieser schlacksige Junge. Er reichte ihm das Bild und Roberto erklärte: “Wissen sie, ich interessiere mich fürs Theater. Sie spielen doch am Kudamm, oder?”
“Ja, in der Komödie, “My Fair Lady”. Am 24. ist Premiere, jetzt proben wir.”
“Meinen sie, ich könnte mir mal das Theater ansehen, auch hinter den Kulissen und so?”
Legrand schaute Roberto an, er dachte nicht lange nach, fast spontan entschied er: “Warum nicht? Hast du Zeit? Dann machen wir mal ne kleine Führung.”
Roberto war begeistert, er freute sich wie ein kleines Kind und Legrand spielte die Rolle des Fremdenführers: “Vor 90 Jahren war der Kudamm ja noch ein Reitweg!”, legte er los, ” Da wird hier, wo heute das Kudamm-Karree steht, eine Villa gebaut und bald gibt es auch Kultur an diesem Ort. Max Liebermann, der Maler und seine Kollegen von der berliner Sezession, zeigen hier Bilder, 1907 wird dann bereits ein kleines Theater eingeweiht. Aber erst 1921 baut ein Architekt, Kaufmann hieß er, ein richtiges Theater. Du musst dir vorstellen, nachdem 1920 Berlin Dörfer wie Wilmersdorf und Charlottenburg eingemeindete, wurde Berlin zur drittgrößten Stadt der Welt. Kannst du dir das vorstellen?” Roberto schüttelte den Kopf, wieso haben sie ihm in der Schule nichts davon erzählt? Das wäre interessant gewesen. Sie betreten das Kudamm-Karree von hinten, das erst im letzten Jahr eröffnet wurde. Inzwischen haben die den Bühneneingang erreicht, Legrand grüßt den Pförtner: “Tach, Herr Schulz, das ist ein junger Theater-Enthusiast, Roberto war es, oder?”
“Ja, Roberto!”
Legrand zeigte ihm erst das Foyer und den Zuschauerraum, dann betraten sie die Bühne. Legrand wieß auf Kulissen, Beleuchter-Brücken, Drehbühne und die kleine Muschel hin, in der jeden Abend die Souffleuse den Schauspielern hilft, wen sie “hängen”.
“Kommt denn das öfter vor?”, will Roberto wissen.
“Ja, natürlich. Meine Frau hat ständig Hänger!”, bemerkt Legrand etwas uncharmant. Es kriselt gerade etwas in der nun sechs Jahre alten Ehe, das “verflixte siebente Jahr”.
Wieso sind das eigentlich immer Frauen, die Souffleusen, könnte das nicht auch ain Mann machen?”
“Nein, Männerstimmen sind tiefer, das bedeutet, ihre Wellen sind länger und erreichen leicht den Zuschauersaal. Frauenstimmen sind ideal, auch durch bauliche Ausrichtung des Souffleur-Kastens sind sie für das Publikum fast unhörbar. Im Musiktheater, also bei der Oper zum Beispiel wird ständig souffliert, weil sie die Sänger so viel mehr zu merken haben und es häufig nur drei Proben gibt.”
Legrand zeigt Roberto was Gassen sind und wie jede Gasse ihre eigenen Hub-Projekte hat, mit denen man Kulissen herunterlassen kann. Er erklärt was Gassenlicht bedeutet und wie es den Schauspieler dreidimensional erscheinen lässt. Roberto ist begeistert, hier würde er gern arbeiten.
Nachdem sie auch “backstage” waren und die Bühnentechnik angeguckt haben, beendet Legrand die Führung. Er hat Hunger und er lädt den jungen Mann zu einem mittäglichen Imbiss im schickem Restaurant “Kopenhagen” ein. Noch lange wirkt dieser schöne Tag bei Roberto nach und er wünscht sich nichts sehnlicher, als das das Theater bei ihm anruft und ihm tatsächlich einen Job als Bühnenhelfer anbietet. Das wäre dann ein noch schönerer Tag.

wird fortgesetzt –

IMG_20140824_0001Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet. (Zum Vergrößern auf das Bild klicken)

“Hony soit qui mal y pense.”, “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.”, ist die Devise des englischen Hosenbandordens und erscheint auf dem Wappen des Vereinigten Königsreichs.

RAF-Kommando “Schelm”: Erst Monate danach las ich in einem Flugblatt, dass sich das Kommando “Petra Schelm” nannte, nach dem ersten RAF-Mitglied, das durch Polizeischüsse getötet wurde. Das Opfer wurde zehn Minuten lang liegen gelassen, erst danach wurde Hilfe geleistet. Zunächst wurde sie für Ulrike Meinhof gehalten, erst ein paar Stunden später korrigierte man entsprechende Falschmeldungen. Danach gab es eine Diskussion über die Qualität der Schusswaffenausbildung bei der Polizei.

http://de.wikipedia.org/wiki/Petra_Schelm

Leica:
http://de.wikipedia.org/wiki/Leica_Camera

“It’s All Over Now, Baby Blue”, wurde 1965 von Bob Dylan geschrieben, hier wird allerdings die Fassung der Band “Them” zitiert, der Van Morrison seine unverwechselbare Stimme lieh. Viele andere Bands haben das Lied gecovert, unter anderem:

Hole
Matthew Sweet & Susanna Hoffs
Nena
Roger Chapman
Joan Baez
The Animals
The 13th Floor Elevators
The Chocolate Watchband
Joni Mitchell
Manfred Mann’s Earth Band
Marianne Faithfull
The Byrds
Grateful Dead
Falco
Bryan Ferry
Bad Religion

Gast-Familienportrait – Momo lesen in Zeiten der besetzten Häuser / Eine Momentaufnahme von Cornelia Grosch

Im November 1979 saß ich an einem dämmrigen Nachmittag mutterseelenalleine auf einem Isomatten-Matratzen-Schlafsacklager in einer heruntergekommenen Wohnung. Es war nicht meine Wohnung und ich hatte den „Hausfrieden“ gebrochen, um dort zu sein.

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Es war kalt in der Wohnung und der Strom war abgeschaltet, so dass ich eine Petroleumlampe angezündet hatte. Bei diesem gelben Licht (die gesamte Lampe war gelb gestrichen, auch das Glas, sie beleuchtete mal eine Baustelle, bevor sie in meinen Besitz überging), in meinen Schlafsack eingemummelt, vertrieb ich mir die Zeit mit der Lektüre von Momo, dem Buch von Michael Ende. Ich hatte kurz zuvor das Buch als Raubdruck gekauft und mir als Notlektüre für die Überbrückung von langweiligen Zeiten eingesteckt. Das Buch war auf schlechtem Papier mit schlechter Druckfarbe in verschiedenen gelblichen Farbtönen gedruckt. Es war bei dem gelblichen Licht der Petroleumlampe extrem schwierig zu lesen. Ich mochte das Buch nicht, fand die Moral viel zu dick und direkt aufgetragen, die Guten waren nur gut und die Bösen nur böse.

Aber die Beschäftigung damit half mir, meine Unruhe und Angst zu unterdrücken.

Es war der 3. oder 4. Tag der Hausbesetzung in der Cuvrystraße. Wir waren eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Bürgerinitiative SO 36 und von Anwohnern, die konspirativ diese Besetzung geplant und vorbereitet hatten. Die Besetzung einer Wohnung und einer Gewerbeetage erfolgte stellvertretend für eine ganze Reihe von Häusern, die in der Cuvrystraße leerstanden und auf den Abriss warteten. Und diese Reihe war wiederum nur ein kleiner Teil der vielen leerstehenden und vergammelten Häuser in ganz Westberlin Ende der 70er Jahre. Große Teile von Kreuzberg sollten damals verschwinden, weil es eine Autobahnplanung quer durch den Bezirk gab. Außerdem rechneten sich, wie heute die Immobilienbesitzer aus, dass Neubauten mehr Rendite bringen als einfache Altbauwohnungen und ließen ihre Häuser verkommen. Der Standard für unsereinen war damals noch die Wohnung mit Ofenheizung, ohne Bad und womöglich mit Außenklo, dafür aber so billig, dass man nicht unbedingt dauernd arbeiten musste.

Die Besetzung erfolgte, während die Zeitung der BI SO 36, der Süd-Ost-Express, einen Preis bekam und öffentlich gefeiert wurde. Bei der Dankesrede der BI wurden die Besetzungen bekannt gegeben und wir fanden sofort eine große, überwiegend wohlwollende Öffentlichkeit. Obwohl es auch Leute gab, die direkt in diese Wohnung und Gewerbeetage einziehen wollten, war es eine politische Aktion. Die erste Besetzung der BI hatte schon im Februar 1979 stattgefunden, war gut in der Öffentlichkeit angekommen und es gab relativ schnell Mietverträge für die beiden besetzten Wohnungen, ohne dass sich aber die Gesamtlage änderte. Deswegen gab es diese zweite Aktion.

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Am 1. Abend war in der Wohnung, die ich mitbesetzt hatte, eine tolle Partystimmung und viele Leute übernachteten auch dort. Wir fühlten uns bärenstark und waren sicher, auf der absolut richtigen Seite zu stehen.

Am nächsten Tag wurde entrümpelt und ein bisschen weiße Farbe an die Wände gebracht. Zum Glück war die Bausubstanz hier noch einigermaßen gut, Fenster und Dach dicht. Leute von Funk, Fernsehen und Presse kamen vorbei und wollten Interviews und Fotos, die sie auch bekamen. Wer nicht kam, war die Polizei (a.k.a. „Bullen“), es wurde aber stark mit ihnen gerechnet. Da es erst die 2. Hausbesetzungsaktion Ende der Siebziger war, gab es noch keine Erfahrungen mit Räumung.

Nach dem ersten aufregenden Tag kehrte der Alltag bei Besetzers ein. Viele von uns studierten noch oder gingen zur Schule, manche hatten Jobs oder andere Verpflichtungen. Ich war damals mit dem Studium fertig und hatte keine feste Arbeit, außer einem Job am Wochenende als Hauspflegerin bei einer gelähmten Frau.

So kam es, dass ich an diesem Nachmittag alleine, frierend und unheimlich einsam in dieser Wohnung in der Cuvrystraße saß und die Stellung hielt. Ich kam mir vor wie der einzige Mensch auf einem leeren Planeten. Es gab auch nichts wirklich Sinnvolles zu tun. Wir mussten mit einer Räumung rechnen und damit, dass wir in dem Fall verhaftet worden wären. Davor hatte ich damals eigentlich keine Angst, ich wollte bloß nicht als Einzige verhaftet und mitgenommen werden. Schreckliche Vorstellung!

Bild

Momo aber wollte mich nicht wirklich ablenken, ich konnte erst aufatmen, als gegen Abend wieder ein paar der anderen Besetzer auftauchten. Ich habe das Buch nie wieder gelesen, obwohl ich es mir später sogar in einer anständigen Druckversion neu gekauft habe.

Kurz danach ging es richtig los mit der Hausbesetzerbewegung. Andere Häuser, auch in anderen Bezirken, wurden besetzt. 1981 gab es fast 170 besetzte Häuser in Westberlin.

Da war ich aus der direkten Aktion aber schon wieder raus und ging nur noch zu den Demos und arbeitete noch eine Weile weiter in der BI mit. Ich brauchte damals auch keine Wohnung, ich wohnte schon in einer WG.

Ich selbst habe damals den Rest meines naiven Kinderglaubens verloren, dass wir alle nur aus edlen uneigennützigen Gründen in der Politik mitmischen… es gab in der BI zukünftige Rechtsanwälte, Architekten und Journalisten, die sich hier profilieren und auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollten und dann die, die Freunde finden wollten. Das ist ja eigentlich in Ordnung, aber es wurde nie über solche Motive gesprochen, offiziell waren wir nur an der „Sache“ interessiert. Genauso war es während meines Studiums schon mit den ganzen linken Gruppierungen und ich hatte gehofft, dass es in so einer BI anders wäre…

Wir alle haben aber damals einen erheblichen Teil mit dazu beigetragen, dass Altbauten nicht mehr automatisch abgerissen wurden, sondern saniert wurden und das damals auch noch überwiegend mit Berücksichtigung der Wünsche der Bewohner. Es gab anschließend die Internationale Bauausstellung, die das fortführte. Bis in die 90-er Jahre war das die offizielle Politik, dann wurde Berlin Haupstadt, in der Folge hip und teuer und nun wären neue Aktionen überfällig!

Ende

Wer noch etwas tiefer in das Thema eintauchen möchte, sollte Gerd Nowakowskis Empfehlung des Häuserkampf-Fotobuchs von Lothar Schmid lesen.

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/werbinich/hausbesetzungen-in-berlin-als-die-chaoten-kreuzberg-retteten/9299410.html

Mehr von Cornelia Grosch: http://conyberlin.blog.de/

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