Familienportrait – “Sonntagsspaziergang” / Momentaufnahme eines Rituals / 1961
Später behauptete meine Mutter gern, sie hätte die “antiautoritäre Erziehung” quasi erfunden. Was natürlich nicht stimmte. Zum einen hatte sie nur eine sehr vage, wie auch falsche, Vorstellung von antiautoritärer Erziehung. Für sie war das lediglich eine Erziehung, die ohne Schläge und Brüllerei auskam. Zum anderen kann man ihren Erziehungsstil überwiegend mit dem Begriff “Laisser-Faire Erziehung” beschreiben. Sie liebte uns innig und zog Harmonie dem Streit vor. Hin und wieder aber sollte ihre Familie bürgerliche Geschlossenheit und Normalität demonstrieren. Ideal dafür war der Sonntagnachmittag und sein Ritual, der Sonntagsspaziergang.
Mein Bruder und ich sind mit identischen, uniformähnlichen Mänteln ausgestattet. Ich, als der Kleinere, muss zusätzlich eine hässliche, über die Ohren gezogene Mütze tragen, was ich gewiss nicht gern tat. Mein Bruder als der Ältere trägt eine wenig kleidsame Herrenhandtasche, sicher auch nicht zu seinem Vergnügen. Die fahle Berliner Wintersonne beleuchtet die Szene von hinten, unsere Schatten sind lang, vermutlich stehen wir unter Zeitdruck, weil wir irgendwo zum Sonntagskaffee erwartet werden und die Uniformierung der Kinder viel Zeit gekostet hat. Meine Mutter mustert den Fortgang der Unternehmung mit einem prüfenden Seitenblick. Cousine Notburga, von meinem Bruder fast verdeckt, trägt ein Kopftuch, was damals auch für nicht-muslimische Frauen normal war. Meine Mutter hat eine formlose, schwarze Mütze auf dem Kopf. Diese Mütze und die drei mit Gürteln geschlossenen Mäntel verleihen der kleinen Familie einen fast militärischen Eindruck. Man demonstrierte Solidität und mein Vater hielt die Demonstration, vor dem Hintergrund einer tristen Brandmauer, mit der Kamera fest.
M.K.