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Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

Käte Kluge, meine Mutter, war Jahrgang 1922 , sie wurde Zeugin fast des ganzen 20. Jahrhunderts. Das Kriegsende vor 72 Jahren empfand sie als Befreiung. Sie war 22, nun konnte ihr Leben erst wirklich beginnen. Nur war der Mann, den sie liebte, verschwunden. Erst 1948 erfuhr sie, was mit ihm geschehen war.

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

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Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

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Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

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Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

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Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

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Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

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Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

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Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

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Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

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Marcus Kluge

Die ganze Serie findet Ihr hier:

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Familienportrait Spezial: Weihnachten – „Bauchpinseln am Boxing Day” / 1922-1968

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Allen Freunden, Lesern und Bilderguckern ein frohes Weihnachtsfest und Guten Rutsch in ein hoffentlich gutes Jahr 2018.

Foto oben: Vater und Mutter Anfang der 1950er Jahre

Käte, meine Mutter, hatte das Pech, denn als solches empfand sie es, am zweiten Weihnachtsfeiertag geboren worden zu sein. Die englischsprechenden Menschen nennen diesen Tag häufig noch Boxing Day. Denn früher beschenkten die Reichen ihre armen Nachbarn und die “Herrschaften” ihre Dienerschaft am 26.12. Man gab Essen, Kleidung, Spielzeug für die Kinder oder einfach Geld. Da man die Gaben verpacken musste und auch nicht jeder Unbeteiligte sehen sollte, was geschenkt wurde, tat man sie in Schachteln.

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Mutter Weihnachten 1928

 

Als Kind bekam meine Mutter nie irgendwelche Schachteln zum Geburtstag. Meine Oma legte einfach alle Geschenke unter den Weihnachtsbaum, sie dachte praktisch. Doch meine Mutter hatte das Gefühl, anderen Kindern gegenüber im Nachteil zu sein. Nicht nur bekam Käte keine Geschenke an ihrem Ehrentag, auch die Gratulation in der Schule verpasste sie, den es waren ja immer Ferien. Am schlimmsten war es aber für sie, dass sie keine Blumen bekam. Wenn sie reklamierte, antwortete die nüchtern denkende Oma: “Kind, du hast einen Weihnachtsbaum”, worauf meine Mutter regelmäßig in Tränen ausbrach. Obwohl Käte, wie man auf dem Kinderfoto sieht, reich beschenkt wurde, entwickelte sie ein kleines Geburtstagstrauma.

Ich kann mich gut daran erinnern, dass mein Vater Anfang der 1960er Jahre, an jedem 25.12. mit dem Auto quer durch die Stadt fuhr, um irgendwo einen schönen Blumenstrauß zu erstehen. Damals konnte man ja noch nicht an jeder Tanke Blumen kaufen. Meistens nahm er mich mit, wenn er sich auf diese Expeditionen aufmachte. Wir fuhren zum Bahnhof Zoo, da hatten immer alle Geschäfte zu, wir klapperten die großen Krankenhäuser ab, dort hatte manchmal ein Florist offen, wenn garnichts funktionierte, probierten wir es am Flughafen Tempelhof. Zwischendurch machten wir Rast in einer “Arweiterkneipe”, wie es mein Vater nannte. Papa trank ein kleines Bier und einen Schnaps und ich bekam Limo oder Eis. Mir machten diese Akquisitionstouren Spaß, meinem Vater auch. Er hätte natürlich am Vormittag des Heiligen Abends Blumen kaufen und sie verstecken können, aber das hätte jeder Dramatik und einer großen Geste entbehrt. Und mein Vater war schließlich ein Schauspieler mit ausgeprägten dramaturgischen Ambitionen.

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Mutter, gebauchpinselt

Meine Mutter war auch glücklich, sie fühlte sich “gewertschätzt”, würden wir heute sagen, sie hätte wahrscheinlich “gebauchpinselt” gesagt. Ihr ganzes Leben achteten wir immer darauf, ihr mehrere Geschenke zu besorgen, am besten 3 oder 4 und sie sorgsam in Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke aufzuteilen und Blumen durften auch nie fehlen, bis sie zu Weihnachten und ihrem Geburtstag 2004 ein letztes Mal gebauchpinselt wurde. Marcus Kluge.

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Brüder, eingestimmt

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Bruder, glücklich mit neuem Roller

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Mutter, stimmungsvoll vorlesend

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Vater, glücklich mit meinem Bruder und (u.) glücklich mit neuer Fototechnik

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Kurz vor Weihnachten 1990 stirbt meine/unsere Katze Pünktchen. Meine Tochter malt es, zusammen mit Kater Dieter winkt sie Pünktchen im Himmel zu. Merke: auch im Katzenhimmel gibt kleine Weihnachtsbäume und natürlich für jede Katze einen Freßnapf mit dem eigenen Namen.

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„Athener Grill, Far-Out und Uhrwerk Orange” / Mendelsohn-Bau Lehniner Platz – Lost and Found

1969 schleppte mich ein Schulfreund mit zur Roten Garde, einer maoistischen Jugendorganisation. Als er die Adresse nannte, fragte ich nach, gab es wirklich einen Platz in West-Berlin, der nach dem russischen Revolutionär benannt war: Leniner Platz? Nein, natürlich nicht, Lehnin bei Brandenburg war der Ursprung, doch das Umland hatte man nicht auf dem Schirm in den Mauerjahren.

Die Rote Garde hatte Räume im Mendelsohn-Bau, der in den 1920er Jahren als Woga-Komplex erbaut wurde. Doch die drögen Schulungen und humorfreien Diskussionen bei den Gardisten konnten mich nicht begeistern. Eher begeisterte mich die Architektur der Neuen Sachlichkeit und die Blechpizza, die ich am Lehniner Platz zum ersten Mal aß. Das schicke Restaurant “Ciao” hatte eine gehobene, häufig prominente Klientele. Neben dem Eingang war ein Fenster, dort konnte man für eine Mark ein Stück der äußerst leckeren, neuen Backware “Mark-Pizza” erwerben. Man kannte zwar Spaghetti und Makkaroni, aber Pizza war noch eine seltene Spezialität, es würde viele Jahre dauern, bis man Pizza im Supermarkt kaufen können würde. Inzwischen werde ich von jungen Menschen gefragt was denn “Mark-Pizza” gewesen wäre. So schnell vergeht die Zeit.

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Oben: Das Ciao in den 70er Jahren, im November 2016 fand ich dort ein Kebap-Grillhaus namens Black&White Istanbul.

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Der WOGA-Komplex (https://de.wikipedia.org/wiki/WOGA-Komplex_am_Lehniner_Platz) wurde von Erich Mendelsohn zwischen 1925 und 1931 erbaut. Er stellt eine Verbindung aus Kulturstätten, Einkaufsmöglichkeiten und Wohngebäuden dar. Der Komplex wird stilistisch der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Begibt man sich am Ende des Kurfürstendammes auf den Lehniner Platz, fallen einem zwei ausladende Kopfbauten auf, in deren Mitte sich eine kleine Ladenstraße befindet, die auf ein querstehendes Gebäude zuläuft. Hieran schließt sich eine Wohnanlage mit Grünflächen und Tennisplätzen. In einem der beiden Kopf-Bauten ist aktuell die Schaubühne untergebracht. Der WOGA-Komplex steht unter Denkmalschutz. (Nach WiKi)

Mich zog es immer wieder zum Mendelsohn-Bau. 1970 gab es neben den Kinos noch einen Theatersaal, in dem ich eine Aufführung des Musicals “Hair” sah. Im “Ciao” ging ich mit meiner Cousine Ingrid essen, weil wir keine Promis waren und auch keinen teuren Wein bestellen wollten, behandelte man uns ziemlich von oben herab. In meinem ersten Roman “Xanadu ’73” verarbeite ich das Erlebnis:

Sie laufen den Kudamm in Richtung Halensee und Hanna fragt, halb besorgt, halb scherzhaft:“Du willst mich aber nicht in den Athenergrill ausführen?“ Er schüttelt den Kopf, tatsächlich ist ihm die Frage peinlich, er wird sogar ein wenig rot. Wenige Meter hinter dem Athenergrill, hält er ihr eine Tür auf. Ins “Ciao” lädt er sie ein. Einen schicken Italiener, wo man manchmal sogar Schauspieler oder andere Prominente sieht. Schon ist der Kellner da, wieselt um die beiden, radebrecht, „Einen Tisch, a due?“ Beaky nickt und der Kellner will sie ganz hinten im Lokal platzieren, Hanna stoppt ihn souverän. Sie will am Fenster sitzen, was auch kein Problem ist, der Laden ist fast leer.
Hanna hat nur eine rosafarbene Weste und nichts zum Ablegen an, Beakys Fransenlederjacke will ihm der Kellner abnehmen, es gibt etwas Gezerre und Beaky gewinnt das Match. Einen Freund haben sie in ihrem Kellner nicht gewonnen mit diesem Entrée.
Jetzt bringt der Kellner Beaky die Weinkarte, davon lässt er sich nicht irritieren, man hat ihn vorgewarnt. Weltmännisch sucht er einen bezahlbaren Wein aus, auch das probieren und freundlich Nicken bekommt er hin. Aber er fühlt sich überhaupt nicht wohl und schließlich gesteht er sein Missempfinden Hanna, die sieht es ähnlich. Als sie Beaky darauf hinweist, dass der Kellner einen ganz anderen, teureren Wein gebracht hat, kommt Beaky eine spontane Eingebung, Er bedeutet Hanna ihr Glas auf Ex zu trinken, dann zerrt er sie hoch, greift seine Jacke, schleust sie durch den Eingang auf den Gehsteig. Sie rennen los, er hat sich vorher versichert, das sie keine Absätze trägt. So jagen sie den Kudamm hoch zurück in Richtung Leibnizstraße und kichern. Als sie an der Ecke Eisenzahnstraße sind, blicken sie zurück und sehen den gestikulierenden Kellner, worauf sie einen erneuten Lachanfall bekommen. Sie halten sich die Bäuche und lachen bis es wehtut.

Im Studio-Kino sah ich Zappas “200 Motels” und “Clockwork Orange”. Bei letzterem erlitt ein Freund, Connie, einen Panikanfall, den ich im Roman, als eine Drogenüberdosis schildere:

Der ausgezeichnete Film fesselt mich erneut. Ich verfolge die bösen Taten des Helden und leide mit ihm, als er in den Knast kommt. Als Alex schließlich eine Aversionen erzeugende Droge gespritzt bekommt und festgeschnallt stundenlang “horrorschaumäßige” Filme ansehen muss, fällt mir auf, dass Beaky neben mir mit schreckgeweiteten Augen auf die Leinwand starrt und seine Fingernägel in die Oberschenkel drückt. Er wirkt wie ein Spiegelbild von Alex. Ich frage ihn und erst später wird mir bewusst, dass das eine ziemlich blöde Frage war: “Bist du OK?” Statt zu antworten schüttelt er den Kopf. Ich zerre ihn aus der Stuhlreihe, wir verlassen den Saal und finden uns in einem der runden Gänge, die um die Säle herum führen. Beaky ist noch bleicher geworden und mir fällt auf, dass er Stecknadelpupillen hat.
Ich verwerfe meine erste Theorie, nach der Beaky eine Panikattacke erlitten hat. Ganz offensichtlich hat er auf dem Klo noch weitere Drogen genommen, wahrscheinlich hat er ein Opiat gespritzt. In den frühen 70er Jahren dachte man relativ schnell an Heroin, weil es in Berlin billig und leicht zu beschaffen war.

Nina Hagen scheint den Lehniner Platz auch zu mögen, nach ihrer Übersiedlung in den Westen gab sie hier ein Konzert, umsonst und draußen. Ich glaube, es müsste 1978 gewesen sein, dass ich sie dort live, mit der Nina Hagen Band, gesehen habe.

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Oben: Postkarte aus den 50er Jahren. Unten: Illu zum Kapitel “Uhrwerk” aus “Xanadu ’73” von Rainer Jacob.

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In den 70er und 80er Jahren besuchte ich häufig, wie alle Nachtschwärmer dieser Zeit, den “Athener Grill”. Die Berliner sprachen den Namen aus, als ob es ein Wort wäre, Athenergrill, betont auf der zweiten Silbe: A-THÉ-nergrill! Auch diesem Etablissement widme ich einen Abschnitt im Xanadu-Roman.

Beaky und ich laufen zurück in Richtung Lehniner Platz, um im Athenergrill, dem wahrscheinlich beliebtesten Selbstbedienungsrestaurant dieser Jahre, einzukehren. Ich bin dort immer wieder gewesen bis in die 90er Jahre, als ich eine Kakerlake in aller Ruhe durch die Vorspeisenvitrine laufen sah. 1973 habe ich noch Vertrauen in die Restauration und hole mir zwei von den kleinen Mimis Dönern in Pita-Brot, die damals 1.50 kosteten. Beaky isst eine quietschsüße, griechische Angelegenheit aus Joghurt und Honig, auch das bestätigt meine Idee, das er vor allem dem Heroin zugetan war. Denn alle Heroin-Junkies, die ich kennenlernte waren Süßschnäbel, wieso auch immer. Ich trinke Fanta dazu und Beaky schwarzen Kaffee, von dem er im Lauf des Abends vier oder fünf Tassen trinkt, denn wir sitzen lange im Athenergrill. Das war ja das Gute an diesem Etablissement, es schloss nie. Irgendwann gegen morgen kamen zwei mürrische Putzfrauen und vertrieben die Gäste, aber nur für eine kurze Weile, dann kehrten die üblichen Gestalten zurück und man hatte den Eindruck, sie seien nie weg gewesen.

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Es muss um 1960 gewesen sein, als wir meinen Vater ins Albrecht-Achilles-Krankenhaus brachten, der sich einer Operation unterziehen musste. Die Klinik gibt es nicht mehr, heute residiert hier das Finanzamt Wilmersdorf.

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1983 fotografieren Rainer Jacob und ich die Band “Dreidimensional” am Mendelsohn-Bau für meine Zeitschrift “Assasin”. Sie kommen sogar auf das Cover des zweiten Heftes. Obwohl die Spandauer Musiker sehr jung, fast kindlich wirken, erinnern mich die Bilder regelmäßig an “Uhrwerk Orange” und den Panikanfall meines Freundes in den 70er Jahren.

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Diverse Kneipen und Clubs haben den Lehniner Platz zum Anziehungspunkt für die wechselnde Klientele der Jugendgruppierungen gemacht. Mitte der 70er Jahre trafen sich die ersten Berliner Punks im PunkHouse neben dem Athener Grill, wo heute ein öder Spielsalon zum Geld verlieren einlädt.

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In der ehemaligen Ladenstraße gab es Berlins einziges Rollschuh-Diner “Mendelsohns”, davor war es ein “Treibhaus”, sowie eine Version des umtriebigen Tolstefanz und dann lange, die bei Bagwan-Jüngern beliebte Disco “Far-Out”.

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In den 90er Jahren war ich noch ein paar mal am Lehniner Platz. Ich besuchte eine Botho Strauss-Inszenierung in der Schaubühne.  Die Gesellschaftselite, die Strauss vorführt und als langweilig und uninspiriert kritisiert, war als Inszenierung genau das: langweilig und uninspiriert. Die Zeiten, da die Schaubühne mich begeisterte schien vorbei und auch der Athener Grill wurde nie wieder mein Ziel, nachdem ich das erwähnte Krabbeltier in der Vorspeisenvitrine beobachtete.

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Inmitten der Wohnanlage befinden sich Tennisplätze, auf denen Prominente, wie Erich Kästner, der in der Nähe wohnte, oder Willy Brandt, als er Regierender Bürgermeister war, spielten. 2007 musste der letzte Pächter die Plätze aufgeben, nachdem ein Investor unrealistische Summen für die Pacht verlangt hatte. Das Bauvorhaben des Investors ist dieses Jahr vom Bezirk abgelehnt worden, so dass wieder Hoffnung besteht, die charmante Sportanlage wieder nutzbar zu machen. In ebenfalls bedauerlichem Zustand ist das Postamt Nestorstraße, 1930-32 von Willy Hoffmann erbaut. Der verputzte Stahlbetonriegel in Stil der Neuen Sachlichkeit mit Bezügen zur Wohnbebauung der östlich anschließenden Cicerostraße (WOGA-Komplex), bildet den nördlichen Abschluss des Hochmeisterplatzes.

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Ansonsten ist der gesamte Komplex in ausgezeichnetem Zustand, unten die Wohnanlage Cicerostraße und darunter das Apartmenthaus in der Mitte des WOGA-Komplexes.

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Oben: Der Ausführungsplan des Woga-Komplexes von 1927.  Quelle: – Von SL1974 (S.Lucht) – von ihm selbst erstellt; Original-Ausführungsplan von 1927 ist im Besitz der Kunstbibliothek, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin; abgelichtet in Pitz, Helge: Der Mendelsohn-Bau am Lehniner Platz, Berlin 1981, S. 42., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3292680


Text und Fotos: Marcus Kluge (s.u.)

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Von der Erstausgabe des Romans “Xanadu ’73” gibt es noch einige Restexemplare. Bestellbar bei mir, unter marcusklugeberlin@yahoo.de für 13€ inkl. Versand in Deutschland.

Familienportrait – “Berliner Winter” / Fotos 1930er – 1970er Jahre

Krumme Lanke 1937.

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Volkspark Wilmersdorf 1962

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Brandenburger Tor 1937

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Krumme Lanke 1937

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Oben: Theodor-Heuss-Platz, 1950, damals noch Reichskanzlerplatz. Unten: Funkhaus Masurenallee, 1950.

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Rankestraße 1959

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Weihnachten 1957.

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Volkspark Wilmersdorf 1959

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Leider auch Berlin, 1975

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Hohenzollerdamm 1955

Familienportrait: „High Society“ / Biografie eines Berliner Hippies / 1954 – 2023

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1967 wechsle ich von der Grundschule auf die Friedrich-Ebert-Oberschule und lerne Richard kennen. Bis zu seinen Tod 2023 war er mein ältester noch lebender Freund. Zusammen mit ihm schaute ich 2016 auf sein abwechslungsreiches Leben zurück. Er wollte ganz hoch hinaus, fiel aber mehrfach tief. Sein Leben war wie eine Achterbahnfahrt, nur länger, steiler und breiter.

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1967 sehe ich die Beach Boys im Sportpalast an der Potsdamer Straße, an dessen Stelle heute der Sozialpalast steht. Es ist mein erstes Rockkonzert, ich bin zwölf. Dennis und Brian Wilson haben Übergewicht, ich auch. Ich träume davon selbst auf der Bühne zu stehen. 22 Jahre vorher fragte ein Rheinländer namens Joseph Goebbels die im Sportpalast anwesenden Deutschen, ob sie den totalen Krieg wollten und alle brüllten: “Ja.”

Foto oben: Von links Marcus, Andi, Richard 1970. Unten: Pariser Straße 15, heute übt hier ein Buchbinder sein Handwerk aus.

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Zwei Jahre danach gründen meine Freunde und ich unsere erste Band. Einen Übungsraum haben wir in der Pariser Straße 15. Richards Vater hat dort einen winzigen Uhrenladen. Heute übt ein Buchbinder hier sein Handwerk aus. Über dem Laden gibt es 1970 eine Art Hochbett, dort schläft der Uhrmacher mit seiner Frau, einer Krankenschwester. Unter dem Laden ist ein Keller, dort steht unsere kleine Anlage, dort können wir spielen oder einfach nur zusammen hocken und quatschen. Wenn wir Hunger haben, macht uns Richards Mutter Schmalzstullen.

Wir spielen Blues, den Blues der 60er Jahre, wie Cream oder die frühen Pink Floyd. Richard ist unser Drummer, dünn und blass wie er ist, sieht er dem Trommler Ginger Baker ähnlich. Ich spiele Bass, ich habe einen weißen Höfner-Bass zu Geburtstag und Weihnachten bekommen. Andy ist nicht nur der Leadgitarrist, er schreibt auch die Songs und ist die treibende Kraft. Rolf, der vierte Mann, ist älter. Schon 18, während wir um die 15 sind. Rolf hat einen Bart und kann Auto fahren. Außerdem spielt er klaglos Rhythmusgitarre, während sich Andy in langen Solos verliert. Andy ist der Schönling unter uns, ein echter Mädchenschwarm, mit seinen dunklen langen Haaren sieht er ein bisschen wie Paul McCartney aus.

Spoiled Saturn”, den Gruppennamen habe ich erfunden. Der Unglücksstern und spoiled davor hört sich irgendwie groovy und erdig an. Meist spielen wir vor Freunden und Verwandten, viel mehr gibt unsere kleine zusammengesuchte Anlage nicht her. Den Uhrmacher nervt der Krach bald und wir ziehen kurzfristig in einen Keller gegenüber, unter einer Apotheke, aber auch da fliegen wir schnell raus, zu laut!2016-07-22-0008 (2)

Oben: Richard 1970, unten: Andi und Marcus 1973.

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Unseren größten Auftritt tritt haben wir vor den Schülern der Otto von Guericke-Schule. Es ist ein Wandertag, im Tegeler Forst hat die Schule einen Saal gemietet. Wir borgen uns ein paar Verstärker und Boxen und rocken das Haus. Vier lange Songs haben wir, als wir damit durch sind, fangen wir nochmal von vorn an, “Live at Tegel”. Die Schülerschaft ist begeistert. Abends feiern wir unsern Erfolg im Piccola Taormina, der Mini-Pizzeria neben der Market-Boutique in der Uhlandstraße, wo man damals die schärfsten Klamotten kaufen konnte.

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Die Pizzeria in der wir 1970 unser Konzert feierten gibt es heute noch.

Kurz danach wird uns die Anlage geklaut. Damit ist die Luft raus, wir haben einfach nicht die Kraft und die Geduld, noch einmal Geld zu sparen und uns gebrauchte Teile zusammen zu kaufen. Mit Andy bleibe ich eng befreundet, Richard und Rolf sehe ich eine Weile nicht wieder.

1971 beschließe ich, da mir das Gymnasium verschlossen ist, wenigstens meine Mittlere Reife zu machen. Dafür gehe ich auf die Alfred Wegener Schule im schicken Dahlem. Richard wohnt in der Nähe, Im Dol, in der Villa von Paul Hubschmid und Eva Renzi. Richard hat einen Kumpel, der viele Leute in der Theater- und Film-Branche kennt, Peter Brandes.

Peter gehörte zur Clique um den Regisseur Rainer Werner Fassbinder. Nach einer handfesten Prügelei mit dem exzentrischen Schauspieler Kurt Raab, verstößt ihn Fassbinder aus seiner Umgebung. Peter hat Richard, der zuhause herausgeflogen ist, weil er nicht mehr zur Schule gehen wollte, den Job besorgt auf Haus und Garten des prominenten Paares aufzupassen, während diese in St. Tropez leben.

Daher gehe ich nach der Schule oft in die luxuriöse Villa, um Richard zu besuchen und im Pool zu schwimmen. Ich führe lange Gespräche mit ihm, nach unserem Rauswurf aus dem Gymnasium und dem Ende unseres politischen Engagements sind wir beide ziellos. Er möchte gern irgendwo dazugehören, er will von Leuten wie Hubschmid und Renzi akzeptiert werden und er träumt davon um die Welt zu reisen. Er wird sein Ziel erreichen, doch er muss einen hohen Preis dafür zahlen. Ich neige zur Verweigerung, auch mir sind Beruf und Karriere egal. Ich möchte schreiben und als Bohemien leben. Das letztere ist ziemlich einfach zu erreichen, aber bis sich für meine Schreiberei irgendjemand interessiert werden zehn lange Jahre vergehen.

Eines Tages sitzen wir mit ein paar Bekannten am Swimming-Pool, auch die fünfjährige Anouschka Renzi mit ihrer Nanny ist dabei. Außer mir haben sich alle aus der Hubschmidschen Hausbar bedient und Joints geraucht. Daher bin ich der einzige der bemerkt, wie das Kind in den Pool fällt und zu ertrinken droht. Ich springe in Jeans und T-Shirt hinterher und ziehe Anouschka an den sicheren Rand.

Richard arbeitet bei einer Tournee des Schauspielers Hannes Messemer, ein guter Mime, leider aber ein Alkoholiker. Zu Richards Pflichten gehört es, aufzupassen, dass der Star vor der Vorstellung nicht zu viel trinkt. Er lernt viel, Peter zeigt ihm wie man Licht setzt. Anschließend trampt Richard nach St. Tropez, wo sich seit den 60er Jahren die Reichen und die Schönen treffen. Er schickt mir eine Karte, er ist enttäuscht, was er dort gesucht hat, findet er nicht.

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Die Postkarte aus St. Tropez.

Terry Melcher, ein Sohn von Doris Day, ist Songwriter und Musikproduzent. 1968 stellt ihm Dennis Wilson von den Beach Boys einen Musiker namens Charles Manson vor. Aber Melcher gefällt das Demo nicht das Wilson von Charles Manson aufgenommen hat. In der Folge besucht Manson Melcher mehrfach in dessen Haus 10050 Cielo Drive. Genervt zieht Melcher aus und das Haus wird an Roman Polanski und Sharon Tate vermietet. Am 8. August 1969 ermorden Mitglieder von Mansons Gefolgschaft, unter ihnen Susan Atkins, drei Freunde von Tate und einen zufälligen Zeugen. Anschließend ersticht Atkins die hochschwangere, um Gnade flehende Sharon Tate mit 16 Messerstichen. Danach schmiert sie das Wort PIG mit Tates Blut an die Hauswand.

Im provinziellen Berlin gibt es auch danach noch Beziehungen zwischen Promis wie Eva Renzi und „Hippies“ wie Richard und Peter. In St. Tropez hat sich die High Society aber bereits hermetisch vor Außenseitern abgeschlossen.

1975 wohne ich mit einer Freundin in der Joachimsthaler Straße. Richard besucht uns und schwärmt von Goa. Dort würden Hippie-Träume noch wahr und der Jet-Set schaut auch vorbei. Er will dort den Winter verbringen und uns mitnehmen. Ich kann mich mit der Idee nicht anfreunden, aber Ulrike überredet er. Beide werden viele Winter in Indien verbringen. Ulrike macht dort ein Restaurant auf, hat Erfolg, heiratet einen einheimischen Rechtsanwalt und bekommt zwei Töchter. Sie ist 2021 gestorben. Richard mietet die Villa Nunes und betreibt dort eine Pension.

Der Reiseschriftsteller Gavin Young besucht ihn in der “Villa Nunes”, dem ehemaligen Haus eines portugiesischen Beamten von 1904. In “Slow Boats to China” findet er, das Haus hätte einen mysteriös-verwunschenes Aussehen. Richard beschreibt er als “youngish, tall, blond with a pale moustashe. He was dressed like a mississippi gambler with a three-piece-suit in a film, very elegant.” Gavin portraitiert Richard auf mehreren Seiten und zeichnet ihn auch in der Villa Nunes. Richard ist sehr stolz darauf. In Berlin schenkt er mir das Buch.

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Oben: Richard mit Sohn und Freunden in Goa 1983. Unten: Gavin beschreibt sein Treffen mit Richard.

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Unten: Gavin Youngs Zeichnung und Beschreibung der Villa Nunes.

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Unten: Richard bei den Dreharbeiten zum Film “Jaipur Junction”.

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Trotz Filmprojekten, irgendwann reicht Richard das beschauliche Hippieleben in Goa nicht mehr und er plant mit drei engen Freunden einen wirklich großen lukrativen Schmuggel durchzuziehen. Einmal richtig absahnen und sich dann mit einem kleinen Hotel zur Ruhe zu setzen. Sie kaufen eine Segelyacht, schippern nach Kerala in Südindien. Dort werden 250 Kilo bestes Haschisch im Boot versteckt. Anschließend lassen sie die Yacht per Schiffsfracht nach Kanada bringen.

Zwei Monate später sind sie in Toronto um das Geschäft über die Bühne zu bringen. Einen Vorschuss haben sie bekommen, sie wohnen in einem Luxushotel und beschließen sich die Haare schneiden zu lassen. Dazu gehen sie zum exklusiven Friseur Howard Barr, der die Rolling Stones für Videodrehs frisiert hat. Als sie sich nach der Kopfwäsche aufrichten, sehen sie sich von schwerbewaffneten Polizisten umringt.

Zum Prozess reist Richards Mutter nach Toronto, am Urteil kann sie nichts ändern. Sieben Jahre Haft, das ist mehr als er erwartet hat. Zuerst denkt er an Selbstmord, dann arrangiert er sich irgendwie. In den 70er Jahren sind kanadische Gefängnisse nicht ganz so übel, zu Weihnachten gibt es Seafood Salad. Richard schreibt mir, ihm ist wichtig, dass ich ihn auch jetzt noch akzeptiere.

Nach zwei Jahren wird er abgeschoben. Er bekommt einen Anzug aus der Gefängnis-Schneiderei, der phänomenal schlecht sitzt und 200.- Dollar. In Berlin arbeitet er in einem Kaufhaus und versucht sein Leben wieder auf die Reihe zu bringen. Doch bald führt Richard wieder sein altes „Highlife“, im Sommer in Berlin, im Winter in Goa.

Es ist 1983, ich habe mit Herbert die Cut-Up-Swingers gegründet, eine experimentelle Band, der Chorgesang erinnert an David Peel & The Lower Eastside. Metall-Percussion und Küchenmaschinen ergänzen den Sound. Ich lade Richard ein, mitzuspielen. Wir machen Band-Fotos, aber zu den Proben kommt er nicht. Wiedereinmal höre ich fast zwei Jahre nichts von ihm.

Unten: Cut-Up-Swingers (ich, Mirko, Richard, Herbert.)

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Als ich 1986 mein erstes Filmprojekt verwirkliche, fällt mir Richard ein und ich engagiere ihn als Gaffer, also Beleuchter. Tatsächlich hilft er viel, nicht nur beim Licht, er spielt auch den Hippie Deli. Auch sein Kumpel Peter spielt eine Rolle. Nach einer Japanreise haben beide asiatische Freundinnen, die furchtbar nett sind und auch helfen beim Film. Wovon die vier leben, bleibt mir ein Rätsel.

Im Frühjahr drehen wir den Piloten für “Bum Bum Peng Peng”, die Parodie einer Krimiserie. Wir drehen auf Umatic Lowband, einem inzwischen historischen semiprofessionellen Videoformat. Die Geräte bekommen wir zum Teil vom Offenen Kanal Berlin, der auch die Ergebnisse ausstrahlt.

Kurz danach nimmt mich Richard auf eine exklusive Geburtstagsparty mit. Es ist seine Art sich für den Job zu bedanken. Wir feiern mit diversen Promis, an der langen Tafel sitzt neben mir Christoph Eichhorn, den ich sehr schätze. Ich freue mich sehr über die Gelegenheit mit dem Schauspieler zu sprechen. Immerhin spielte er in der Verfilmung meines Lieblingsromans “Der Zauberberg”, den Helden, Hans Castorp.

1988 erinnert sich der Musikproduzent Terry Melcher an die Beach Boys. Er braucht Geld und produziert mit den Jungs “Kokomo”, den penetrant süßlichen und wahrscheinlich schlimmsten Hit der Band. Brian Wilson ist an dieser Aufnahme nicht beteiligt.

Zehn Jahre später meldet Richard sich wieder. Inzwischen mache ich die Disposition für den Offenen Kanal Berlin und er besucht mich 1996 im Sender. Wieder hat er ein paar Jahre im Knast verbracht, wieder waren Drogen der Grund. Nach Feierabend nehme ich ihn mit vom Wedding in die City West, damals gab es noch Taxi-Coupons für die Spätschicht. Als wir an der Haftanstalt Moabit vorbeifahren, zeigt er auf sein “ehemaliges Zimmer”. Ich registriere, dass es mir vor dem Taxifahrer peinlich ist, mit einem Knastbruder befreundet zu sein und wundere mich, dass ich so bürgerlich denke.

2008 besuche ich Ulrike, ihre Töchter sind inzwischen erwachsen, eine ist ein bekanntes Model geworden. Ulrike erzählt mir, das Richard in Berlin lebt und Hartz 4 bezieht.

Mit Andy war ich immer eng befreundet, wir sind öfter verreist und haben den Kontakt nie abreißen lassen. Nach dem Fall der Mauer haben wir Ausflüge in die ehemalige DDR gemacht. Ende der 90er Jahre stirbt Andy an einem mysteriösen Pilz, der in kürzester Zeit seine Lunge zerfrisst. Ich vermisse ihn immer noch sehr.

Rolf habe ich nur einmal wiedergetroffen, er hat eine Familie gegründet und ist Versicherungsvertreter geworden.

Als ich 2014 anfing meinen zweiten Roman „Ein Hügel voller Narren“ zu schreiben, brauchte ich ein reales Vorbild für meine fiktive Hauptfigur. Mein alter Schulfreund Richard passte hervorragend und so erfand ich „Roberto“. Roberto hatte auch eine Pension in Goa, er war wegen 250 Kilo Haschisch in Kanada im Knast und Robertos Vater war, wie der von Richard, im dritten Reich im jüdischen Widerstand. Schon in den 80er Jahren hatte ich mit Richard den Plan entwickelt eines Tages ein Buch über ihn zu schreiben. Also fühlte ich mich bevollmächtigt dies nun auch zu tun. Allerdings erzählte ich jetzt eine wilde, erfundene Geschichte, in der Roberto und sein Vater Dinge tun, von denen ich nicht wusste, ob sie Richard gefallen würden. Leider hatte ich seit den 90er Jahren keinen Kontakt mehr zu Richard gehabt. Also begann ich ihn zu suchen, auf Facebook wurde ich fündig. Er hatte sich gerade erst angemeldet und freute sich sehr und fand mein Buchprojekt toll und spannend. Er kam zu meiner ersten Lesung im März 2014, zufällig wohnt er direkt neben der Kulturwerkstatt, in der ich als lesender Schriftsteller debutierte. Ich war froh, dass er den Drogenhandel aufgegeben hatte., nachdem er Anfang des neuen Jahrtausends eine letzte Haftstrafe abgesessen hatte. Es wäre „die verbindlichste“ gewesen, drückt er sich aus. Danach arbeitete er viele Jahre in einem Tonstudio. Er kam mir entspannt und gereift vor. Wir trafen uns, er unterstützte mich beim Roberto-Roman und wir hielten Kontakt über Facebook.

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Zwei Illustrationen von Rainer Jacob zum “Helden ’81”-Roman.

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Im Frühjahr 2016 ist er dann plötzlich von der digitalen Bildfläche verschwunden. Über sechs Wochen höre ich nichts von ihm und er antwortet nicht auf Mails und Nachrichten, dann ein Gruß auf Facebook. Er spricht von einer schweren Krankheit … Dann steht er unvermittelt eines Tages vor meiner Tür. Sofort wird mir klar, schwere Krankheit bedeutet Krebs. Er sieht krank und unglaublich dünn aus. Man hat den Krebs zufällig entdeckt, er hat Glück gehabt. Doch obwohl der Krebs noch klein war, hatte er schon gestreut. Nun hat Richard keinen Magen mehr und ihm steht eine viermonatige Chemo bevor. Trotz einer Bronchitis hält er durch, wenn er mich besucht merke ich ihm die Strapaze an. Was ihn besonders ärgert, er hat seine Arbeit verloren, viele Jahre hat er ein Tonstudio geleitet, aber als er krank wurde, hat man ihn herausgeworfen. Ich beginne diese Geschichte mit ihm zu bearbeiten, wir suchen Fotos aus, die Ablenkung tut ihm gut. Realistischerweise rechnet er damit, dass seine ihm verbleibende Lebensspanne unkalkulierbar, aber möglicherweise nicht lang, ist. Meinen zweiten Roman, dessen Hauptfigur Roberto, auf seiner Biografie beruht, würde er gern noch einmal in den Händen halten. Etwa 230 Seiten sind fertig, dann habe ich, obwohl nur drei Kapitel fehlen, aufgehört zu schreiben. Ich hatte mir viel vorgenommen, für meinen zweites Buch. Vielleicht zu viel? Ein West-Berliner Schelmenroman ist es, aber auch ein Panorama der Stadt 1981, auf dem Höhepunkt der Hausbesetzerbewegung. Außerdem ergründe ich das Lebensgefühl meiner Generation, der in den Nifty-Fifties Geborenen. Über ihren Eltern lag der Schatten des Dritten Reichs, doch das Wirtschaftwunder drückt scheinbar alle Widersprüche ins Unbewusste. Über die Zukunft machte sich meine Generation keine Gedanken, bis wir in den 1970ern in das Arbeitsleben drängen, um unseren Teil des Wirtschaftwunders zu ernten. Da stellen wir erstaunt fest, dass die fetten Jahre vorbei sind. Und schließlich reicht die Vorgeschichte des Romans ins düsterste Kapitel der deutschen Geschichte zurück, die Nazizeit und ihre Gräuel. Dass Richards Vater im jüdischen Widerstand gegen Hitler war, wusste ich vorher nicht. Nicht zuletzt ist es ein Buch über Väter und Söhne. Und am Ende soll alles stimmig sein, jedes Klötzchen soll an seinen speziellen Platz fallen und dabei natürlich aussehen. Vor diesem Ende habe ich Respekt, vielleicht sogar Angst zu versagen. Respekt habe ich vor meinem Freund, der, um sein Leben kämpft und dabei nicht den Humor und nicht seinen lebensbejahenden Charakter verliert. Nach einem Leben voller Höhen und Tiefen gibt er nicht auf. 2023 ist Richard gestorben, er ist wieder Heroin-rückfällig geworden. Den Roman habe ich auch noch nicht zu Ende geschrieben. Nicht jeder unserer Träume verwirklicht sich, aber es ist wichtig Träume zu haben.

Unten: Richard  im November 2016.

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Brian Wilson lässt mich über Facebook an seinem Leben teilhaben. Auch er hatte großartige Erfolge, aber tiefe Depressionen. Jetzt ist er wieder kreativ und gibt Konzerte. Es ist eben nie zu spät, das Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Die Flinte ins Korn zu werfen, ist immer noch Zeit.

Wird fortgesetzt.

Die Geschichte von Andi, unserem viel zu früh gestorbenen Freund:

Berlinische Leben – “Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999

Das erste Kapitel des Roberto-Romans „Helden ’81“:

Berlinische Leben – „Bela Rattay’s Dead“ / „Helden ’81” – Kapitel Eins / von Marcus Kluge / 1981

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

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“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

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Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

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Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

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Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

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Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

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Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

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Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

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Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

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Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

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Marcus Kluge

Obwohl wir hier schon etwas weiter in die Zukunft geblickt haben, weil es mir wichtig war die Scheidung als Kriegsfolge nicht zu verschweigen, wird die Reihe fortgesetzt. Die nächste Geschichte handelt von meiner Geburt und meinem Kindermädchen, die zu “My Fair Lady” wurde.

Die ganze Serie findet Ihr hier:

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Familienportrait – “A Day in the Life 1978” / West-Berlin in Schwarz-Weiß

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Zahnschmerzen führen nicht zu kreativen Einfällen, doch es scheint Ausnahmen zu geben. Gestern morgen merkte ich schnell, dass die Konzentration nicht zum Schreiben reichte. Also begann ich, meinem “Das Beste in Schwarz-Weiß-Woche” Motto folgend, mit den Kontaktbögen aus den späten 70er und frühen 80er Jahren zu spielen, die Rainer kürzlich mitbrachte. Als man noch mit Negativfilm arbeitete, legte man die Filmstreifen auf ein DIN A4 Fotopapier und belichtete sie dann. Somit hatte man ca. 30 Positivbilder im Format 24×36 Millimeter und konnte auswählen, was sich zu vergrößern lohnte. Ein Bogen gefiel mir besonders gut, Rainer hatte offensichtlich einen Sommertag mit der Kamera dokumentiert. Rainer streifte durch die Stadt, ging mit Freunden essen und abends schaut man sich Fassbinders “Despair” im Delphi an. Gute Unterhaltung bei der Rekonstruktion eines West-Berliner Tages, 38 Jahre danach.

Update: Rainer Jacob kommentiert: “Das war so eine Zeit wo ich Negativ-Film vom Meter auf Filmrollen zog und ein Foto-Tagebuch führte. Ich habe dann auch die 18×24 Abzüge mit Negativrahmen und eineinhalb Bildern in die Mittelformat-Bühne des Vergößerungsapparats gelegt. Daraus ist dann mein Stil entstanden, fast filmisch, Lebensssituationen miteinander zu verbinden.”

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Photographer: Rainer Jacob

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Arranged an edited by Marcus Kluge

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Familienportrait – “Rund um die Bundesallee” / Lost and Found-Spezial

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An einem trüben Oktobertag war ich in Wilmersdorf, um historische Fotos rund um die Bundesallee nachzufotografieren. Die Idee ergab sich durch ein Bild von Ilona, meiner ersten großen Liebe, die ich 1975 in der Bundesallee Ecke Badensche Straße fotografierte, nachdem wir meine Oma in der Prinzregentenstraße besucht hatten. Die Gegend rund um die Bundesallee ist meine Heimat und dieser Kiez hat in der Geschichte meiner Familie eine entscheidende Rolle gespielt.

1960 wurde ich eingeschult, jeden Morgen musste ich die Bundesallee überqueren. Mein Weg führte mich von der Livländischen Straße zur Grundschule in der Prinzregentenstraße. Ich kam an der Weinhandlung Mitscher & Caspary vorbei, die mysteriöserweise immer geschlossen war. Ich überlegte mir wilde Geschichten, was dort tatsächlich passierte. Es waren Detektiv- oder Spionage-Geschichten, ich war ein Kind mit viel Fantasie. Dann kam ich am nackten Speerwerfer vorbei. Auch darüber musste ich grübeln, Nacktheit war damals verpönt, wieso stand dann, mitten im Park, ein nackter Mann? Die Welt der Erwachsenen war kompliziert. Noch merkwürdiger war, dass in den Büschen rund um den Speerwerfer oft Exhibitionisten um die Aufmerksamkeit von uns Schulkindern buhlten. Meine Eltern hatten mir das Phänomen erklärt, ich hielt die Vorzeiger für arme Würstchen. In der Waghäuslerstraße kauften wir nach Schule Kaugummi und später Zigaretten, die wir heimlich rauchten. Weil meine Mutter arbeitete, verbrachte ich den Nachmittag bei Oma und lief dann über die Bundesallee heim. Mit anderen Kindern spielte ich in der Ruine der Schwedischen Botschaft. Es lagen Papiere mit Hakenkreuzen herum und wir dachten uns “Kriegsspiele” aus. Das Gebäude war baufällig, wahrscheinlich hatten wir Glück, dass uns nichts passierte. Manchmal holte ich meine Mutter an der Haltestelle ab, auf der Bundesallee fuhren noch Busse, die U 9 wurde hier erst 1971 eröffnet.

Es gibt schönere Straßen in Berlin, aber die Bundesallee ist mir besonders ans Herz gewachsen, wegen ihrer sind wir Wilmersdorfer geworden und das kam so. Nach der Kapitulation können meine Großmutter und meine Mutter den Bunker an der Schumannstraße verlassen. Was sie draußen erwartet hat apokalyptisches Ausmaß. Überall lodern noch Brände, der Rauch beißt in den Augen. Es riecht nach verbranntem Fleisch, nicht nur Leichen liegen auf den Straßen, auch viele Pferdekadaver sind der Verwesung preisgegeben. An Laternenmasten hängen Tote, die Schilder um den Hals haben. Darauf stehen Sätze wie: ” Ich war zu feige mein Vaterland zu verteidigen”, oder ähnliches. Auf dem Weg in die Perleberger Straße sehen sie mehr Ruinen als bewohnbare Häuser. Ihre Wohnung hat einen Bombenschaden, sie werden sich eine andere behausung suchen müssen. Meine Familie befand das Kriegsende als Befreiung, aber meine Großmutter hatte Angst vor der Roten Armee. Die Nazi-Propaganda hatte funktioniert, doch die Gefahr war real, es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Moabit war wie ganz Berlin in diesen Tagen in der Hand der Roten Armee, die anderen Alliierten würden erst später Berlin erreichen, wann, wusste niemand genau. In der Nacht zum 10. Mai 1945 drangen russische Soldaten in das Vorderhaus ein und meine Oma schwante Übles, die Geräusche, die ins Hinterhaus drangen, waren beängstigend, meine Mutter war 22, hübsch und blond. Und Oma überlegte sich einem Trick, wie sie die trunkenen Sieger abhalten konnte, meine Mutter zu vergewaltigen. Käte bekam rote Punkte aufgemalt und Ofenasche ließ ihre blonden Locken ergrauen. Glücklicherweise wurde die Verkleidung nicht getestet, Militärpolizei griff vorher ein. Aber Großmutter beschloss umzuziehen.

Als meine Großmutter Elisabeth wenige Tage nach Ende des Krieges, im Mai 1945, beschloss nach Wilmersdorf zu ziehen, kannte sie die Bundesallee, die damals natürlich noch Kaiserallee hieß, bereits seit 35 Jahren. 1910, sie war 15, musste sie allein in die große Stadt Berlin fahren, um hier als Hausmädchen “in Stellung” zu gehen. Sie wurde schlecht behandelt und hatte schreckliches Heimweh. Jeden zweiten Sonntag hatte sie frei. Dann lief sie zu Fuß von Steglitz, über die Bundesallee, zum Bahnhof Zoo, wo sie sich bei Aschinger eine Erbsensuppe gönnte. Auf dem Weg bewunderte sie die schönen Bauten an der Kaiserallee, Bauten wie die Schwedische Botschaft oder das Joachimsthalsche Gymnasium, wo ich 75 Jahre später, zwei Jahre arbeiten sollte. Nun, nach zwei Weltkriegen, wollte sie selbst hier wohnen. Sie fand, sie hatte es sich verdient. Außerdem würde Wilmersdorf “amerikanisch” werden, während Moabit in russischer Hand bleiben sollte. Es muss um den 12. Mai herum gewesen sein, als Elisabeth und Käte mit einem Handwagen durch den Tiergarten und die Kaiserallee zogen, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Die erste Nacht verbringen sie unter freiem Himmel, in einem der Regenhäuschen im Volkspark Wilmersdorf. Am nächsten Morgen hören sie sich um. Neben der Ruine der Schwedischen Botschaft ist eine Hinterhauswohnung frei. Sie brechen ein und besetzen die Wohnung. Später behaupten sie, der Mietvertrag wäre verbrannt. Es sind wilde Zeiten und sie haben Glück, man glaubt ihnen. Omas Mann Werner kommt aus dem Krieg und findet sie, aber erst 1948 kommt mein Vater aus russischer Gefangenschaft. Jetzt ist die Familie wieder vereint und meine Eltern heiraten und ziehen in den Hohenzollerndamm.

Anfang der 1960er Jahre wird Oma Elisabeth von einem Auto angefahren. Ihr Wahlspruch zum Straßenverkehr: “Der sieht mich doch!” hat versagt. Sie zieht mit Werner in eine Neubauwohnung in der Prinzregentenstraße. Werner stirbt früh und danach siedelt Omas Schwester Lotte aus Ost-Berlin um und zieht in die Prinzregentenstraße. Nach Lottes Tod wird Oma dement, wir versuchen sie allein zu versorgen, doch nach einem halben Jahr müssen wir sie in ein Pflegeheim geben. Die Zwei-Zimmerwohnung in der Prinzregentenstraße wird eine Zeitlang zum Heim für meine spätere Frau, meine Stieftochter und mich, bevor wir heiraten und nach Schöneberg ziehen. Meine Mutter wohnte bis zu ihrem Tod 2005 am Volkspark Wilmersdorf.

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Oben: Oma, Opa und meine Mutter Ende 1920er Jahre. Unten: Oma um 1940.

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img_20131009_0001 Meine schöne, blonde Mutter Anfang der 1940er Jahre. Unten: Mein Vater mit meinem Bruder in der Bundesallee um 1952.

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img_20150204_0001 Mit Oma ca. 1975 in der Prinzregentenstraße.

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In der Wilhelmsaue, um 1961 und heute.

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Auf dem Weg zum Sonntagskaffee bei Oma in der Prinzregentenstraße (ca. 1963).

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Oben: Die Ruine der Schwedischen Botschaft auf einem Foto von H. Noack aus den frühen 1960er Jahren. Unten der prosaische Neubau, der heute an der Stelle steht.

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Die Kreuzung Berliner Straße Bundesallee um 1960 und heute.

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1960, bei meiner Einschulung gibt es den “Volksparksteg” (unten) noch nicht. Ich soll eigentlich bis zur Ampel laufen, aber meist renne ich verbotenerweise über die Bundesallee.

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Auf dem Volksparksteg etwa 1975 und heute.

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Blick vom Steg in Richtung Norden.

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Die geheimnisvolle Weinhandlung 1960 und unten zeigt sich die Ecke heute, weniger mysteriös, aber ebenso verschlossen.

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Am Regenhäuschen, mit Nazi-Grafitto um 1975 und heute.

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Oben: Um 1940 beginnt die Badensche Straße noch in Höhe der Nassauischen Straße.

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Oma, Tante Lotte, Cousine (v.r.) mit dem kleinen Johannes im Hof der Prinzregentenstraße um 1966.

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Um 1975, mein Zimmer in der elterlichen Wohnung, kurz bevor ich ausgezogen bin. Unten: Im Volkspark mit Freunden um 1989.

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M.K.

 


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Familienportrait: „Passierschein nach Pankow “/ 1957 – heute / Lost and Found

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Wollankstraße, ca. 1957 und heute.

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Als ich ein kleiner Junge war, fuhren wir sonntags meist in den Osten und besuchten Tante Lotte in Pankow.  In Pankow wohnte auch die Staatsführung der DDR, im Westen sagten Kommentatoren deshalb gern “Pankoff”, dass klang so schön russisch-martialisch. Wir fuhren mit der S-Bahn oder dem Auto bis Wollankstraße und liefen dort unter der Brücke durch in den Osten. Wenn Tante Lotte uns besuchte, kam sie auf gleichem Weg in den Westen. Unter ihrem Hut hatte sie meist geschmuggeltes Schnitzelfleisch. Tante Lotte, die Witwe war, bewohnte eine Einzimmer-Wohnung in einer Villa in der Tschaikowskistraße. Im Sommer saßen wir bei Kaffee und Kuchen im Garten hinter dem Haus und im Winter servierte uns Tante Lotte ihre berühmten Schnitzel in ihrem Zimmer neben dem molligwarmen Ofen. Am 13. August 1961, wir waren in Dänemark in einer Ferienwohnung, lauschten wir ungläubig den Nachrichten aus Berlin. Die DDR, so nannte man sie damals aber nicht, man sagte “Osten” oder “Zone”, hatte eine Mauer mitten durch die Stadt gezogen. Damit war Schluss mit unseren Sonntagsausflügen nach Pankow.

Erst als Ende 1963 die Passierscheingespräche erfolgreich waren, konnten wir erstmals wieder nach Pankow, meine Großtante besuchen. Allerdings hatte der Besuch etwas Konspiratives, denn wir sollten auch Lottes Schwester Martha und ihren Mann Adolf treffen, die, verbotenerweise, extra aus Bad Liebenwerda angereist waren. Und hinter jedem Busch wurde die Stasi vermutet, immerhin war man ja in Pankoff. Lotte, Martha und Adolf erwarteten uns an der Straßenbahnhaltestelle Grabbeallee und mein Bruder hielt unser Wiedertreffen mit der Kamera fest. In unseren Gesichtern spiegeln sich Freunde über das Treffen, aber auch Angst vor möglichen Repressalien. Ein verbotener Besuch in der Hauptstadt der DDR scheint uns heute ein nichtiger Anlass zu sein. Doch die Generation meiner Großeltern hatte ihre im Dritten Reich erworbene Furcht vor einer unberechenbaren, zuweilen hysterisch reagierenden Staatsmacht auch in der DDR beibehalten. Wahrscheinlich zu Recht. Als wir in konspirativer Manier das Haus betraten, überwachte uns Onkel Adolf und trieb uns zur Eile an. Was dann passierte war unspektakulär, es gab Kassler und Kuchen für die Kinder, während die Erwachsenen Ente aßen und sich anschließend mit Schnaps stärkten. Schließlich war es eine heimliche Familien-Weihnachts-Nachfeier, da passte Schnitzel nicht. Mein Vater war zur dieser Zeit in Westdeutschland in einem Krankenhaus, also fuhren wir auf dem Heimweg mit der S-Bahn. Yorckstraße stiegen wir aus, es war schon spät, also beschloss meine Mutter ein Taxi zu nehmen. Der Taxifahrer erkannte sofort woher wir kamen und kommentierte: “Na, zurück aus dem jelobten Land? Iss ooch nich allet Jold watt jlänzt!” Mich beeindruckte der Ost-Berlin-Besuch nachhaltig, ich schrieb an meinen Vater (siehe unten). Doch irrte ich mich mit dem Datum, ich hatte übersehen, dass das Jahr 1963 Vergangenheit war und ein frisches 1964 soeben begonnen hatte.

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Tante Lotte konnte 1965, als Rentnerin, ausreisen und zog zu meiner Oma in die Prinzregentenstraße nach Wilmersdorf. Doch davor wurde der Kontakt nach Pankow über meine südamerikanischen Verwandten gehalten, die 1961 nach West-Berlin kamen. Wolfgang Kluge und seine Frau hatten venezolanische Pässe und konnten jederzeit in den Ostteil fahren. Auch schmuggelten sie Schmuck und Papiere in den Westen. Hilfreich wurde auch mein 1964 geborener Cousin Johannes, in seinem Kinderwagen war viel Platz für Konterbande. Johannes W. Kluge (Sohn von Notburga und Wolfgang Kluge) erinnert sich: “Da wir Venezolaner waren wurden wir nicht so sehr gefilzt. Aber beim letzten Mal ist ihnen doch das Herz in die Hose gesunken als ein Vopo “Halt, stehenbleiben” schrie und hinterher lief. Als er sie erreicht hat, sagte er ‘Dem Kleinen ist der Schuh heruntergefallen, das wäre doch schade wenn’s verlorengeht’…”.

Anfang September 2016 fuhr ich mit der S-Bahn bis Wollankstraße und ging den Weg in die Tschaikowskistraße zu Fuß, um Fotos zu machen. Auf der Westseite der Brücke hat mein Vater meinen Bruder etwa 1957 abgelichtet. Heute ist hier viel Verkehr, aber es gibt kaum Passanten, die die ehemalige Grenze passieren. In Pankow ist es ruhiger als im Wedding, selbst die Ausfallstraße Grabbeallee ist nicht stark frequentiert. Ich fotografiere Kneipen, verfallenen Villen und zwei Botschaften. Den Neubau der Botschaft von Togo und die heruntergekommene ehemalige australische Vertretung. Ich finde sie architektonisch reizvoll, später recherchiere ich. Die ehemalige Botschaft ist deshalb etwas besonderes, weil ihre Fassade mit Keramikwänden aus der Werkstatt von Hedwig Bollhagen geschmückt ist. Der Plattenbau ist eins von mehreren Gebäuden, der Baureihe IHB.  Der Typ IHB wurde von einem Kollektiv des Bau- und Montagekombinats Ingenieurhochbau Berlin (IHB) unter Leitung von Horst Bauer entworfen. Das Gebäude wurde in Stahlbeton-Skelettbauweise ausgeführt. Typisch für die Gebäude war die Fassade aus Carrara – Waschbeton, die vorkragenden Brüstungselemente und die große Terrasse über dem Erdgeschoss. Für DDR-Verhältnisse sind repräsentable, elegante Bauten entstanden. Der Architekt Horst Bauer hat auch das denkmalgeschützte Café Moskau an der Karl-Marx-Allee entworfen. In der Tschaikowskistraße entdecke ich weitere Botschaften der IHB-Baureihe. Zwei werden genutzt, eine Projektgesellschaft für Innovationen hat sich hier eingeigelt, angeblich ist sie für die Bundesregierung tätig. Hohe Zäune, keine Klingel, Boten werden gebeten, eine Handynummer anzurufen. Es macht einen konspirativen Eindruck, hat hier Frau Merkel ihren heimlichen Thinktank? Recht verfallen und in hohe Zäune vom “bauzaun-discount” eingefriedet ist Saddam Husseins ehemalige Botschaft in DDR. Generationen von Plünderern und Ravern bei illegalen Parties haben der Irakischen Vertretung den Rest gegeben. Im Gegensatz zur ehemaligen Australischen Botschaft wird die Ruine wohl abgerissen. Doch für den Bau in der Grabbeallee scheint eine Rettung in Sicht. http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/pankow/pankow-frohe-botschaft-der-denkmalschuetzer/12459148.html

50 Jahre nach meinem nachweihnachtlichen Erlebnis in Pankow besuchten mich am 4. Dezember 2013 drei Journalisten vom Daily Telegraph, um mich zu meinen Erinnerungen an das erste Passierscheinabkommen zu befragen. Tom Rowley, der Magazinartikel für das Blatt schreibt, der ausgezeichnete Fotograf Geoff  Pugh und der sympathische junge Dolmetscher William Pimlott, der mein Blog im Internet fand und den Kontakt hergestellt hatte. Aus dem 90 Minuten langen Gespräch kondensiert Tom Rowley neun Zeilen:

-Another Berliner who was a boy at the time, Marcus Kluge, likewise recalls the impact of that Christmas, when, as a nine-year-old, he went to visit his great aunt, Lotte, with his parents. “I can remember feeling that it was fantastic that somewhere in this great wall there was now a hole,” he says. “There were cakes, schnitzel, coffee, and lemonade for me.” Still, he was saddened not to reprise his pre-wall gardening job. “I was disappointed because I thought there would be some tomatoes ready to pick in the garden. It hadn’t occurred to me they wouldn’t be there in winter; we did go out briefly, but it was just too cold to stay.”

All three recall how quickly their hours together passed, and their distress at leaving their relatives behind in time to cross back to the West before the deadline.-

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Das Treffen in der Grabbeallee am 5.1. 1964. So sieht es hier heute aus:

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Die Villa um 1950.

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Konspirativ betraten wir das Haus.

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Sonntagskaffee im Garten ca. 1960, unten: Garten und Remise heute.

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Der ehemalige Grenzübergang Wollankstraße heute.

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Oben: Übergabe von Schmuggelware. Unten: Lotte, Martha und der kleine Johannes Kluge.

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Oben: Die Villa 1962. Unten: Heute.

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Oben: Der Neubau der Botschaft von Togo. Unten: Die Villa “Haus Horridöh”.

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Die ehemalige australische Botschaft in der Grabbeallee, die nun doch erhalten bleibt.

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Die DDR-Vertretung von Saddam Hussein in der Tschaikowskistraße. Ein Artikel über das Schicksal des Gebäudes aus dem Jahre 2010: http://www.tip-berlin.de/saddams-letzte-botschaft/

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Alle bisher veröffentlichten Familienportraits:

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Tante Lotte und Onkel Paul, ihre Geschichte und Pauls tragisches Ende:

http://wp.me/p3UMZB-3W

Der Artikel zum Passierscheinabkommen:

http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/germany/10520726/The-time-the-Berlin-Wall-came-down-for-Christmas.html

 

Berlinische Leben: “Kneipe mit Bewusstsein”/ von H.P. Daniels / West-Berlin 1972

Schlaff saß zwischen den Schränken, nein, zwischen Schrank und Kachelofen: eingeklemmt.
“Hahaha Klaustro-Klause, Schlaff, sitzt du gut in deinem Eckchen. Mann, hast du n Glück, dass der Winter vorbei ist, dass der Ofen nicht mehr geheizt werden muss. Sonst würdest du da jetzt schön schmoren, in deiner Klaustro-Klause, was, Schlaff? Wie heizt man überhaupt son Ding, son Kachelofen?”

“Keine Ahnung. Mit Kohlen, oder? Hab ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht. Iss ja noch ne Weile hin…”
“Ach ja, Richard, denn sehn wir uns ja öfter jetzt, wa? Vielleicht hilft DER dir ja mit dem Ofen. Warum sagen die Berliner eigentlich immer ‘wa’?”

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“Weeß ick doch nich, warum die wa sagen, wa?”

“Omi hat auch immer wa gesagt. Omi am Büdchen.”
“Welche Omi? An was für nem Büdchen denn?”
“Omi am Büdchen in Kelkheim. Bei unserer Schule, gleich um die Ecke. Wir haben sie Omi genannt, weil sie schon ein bisschen älter war und was Omihaftes hatte. Zu Omi sind wir immer in der Pause. Ans Büdchen. Eine rauchen. Ne Cola trinken, oder so was. So ne typische Bude, mit Zeitungen, Zigaretten, Getränken, Süßigkeiten, kleine Sachen zum Essen, Brötchen, und ich glaube sogar auch Würstchen … heiß gemacht. Die Arbeiter von der Möbelfabrik und den Schreinereien sind da auch immer hin. Omi war Berlinerin. Und sie hat immer wa gesagt. An jeden Satz hinten dran gehängt. Daher kannte ich das schon. Habta wieda Pause, wa? Kommta wieda roochn, wa? Omi war immer nett mit uns Schülern…”

“Aha, ist ja sehr interessant! Spannende Geschichte. Kelkheim … KELK-HEIM, dieses Furzkaff, diese Provinzler da. Da kann man ja nichts Spannenderes erwarten!”

“Jetzt bist du ja in Berlin, Richard, was für ein Glück, da sehn wir uns ja jetzt öfter, Richard, wa?”
“Jaaaa, iss ja gut! Überlegt euch lieber mal, was wir heute Abend machen wollen.”
“Quasimodo!” schlägt Schlaff vor. “Wir könnten ins Quasimodo gehen.”

“Nee, also ins Quasimodo geh ich heute nicht mehr. Das ist doch ein scheißbürgerlicher Spießerladen. Touristenkneipe. Wenn ihr da hingehen wollt, bitte, dann geht da von mir aus hin, passt ja auch irgendwie zu euch Spießern. Aber ich komm da nicht mit, mir ist das zu blöd. Ich geh woanders hin?”
“Und, wo gehst du hin, Rikki?”
“Ich will in eine richtige Kneipe. Ne linke Kneipe mit dem richtigen Bewusstsein. Was Politisches…”
“Und wie soll diese Kneipe aussehen? Mit dem richtigen Bewusstein. Kneipe mit Bewusstsein? Wo soll die sein? Wir fanden das Quasimodo ganz gut…”
“Das ist doch was für Kleinbürger. Macht, was ihr wollt, ich such mir ne ideologisch einwandfreie Kneipe.”
Petty lachte laut. “Haha, Rikki, eine ideologisch einwandfreie Kneipe! Hast du das gehört, Schlaff? In eine ideologisch einwandfreie Kneipe will Rikki, ideologisch einwandfrei … das würde mich ja dann auch mal interessieren. Was eine ideologisch einwandfreie Kneipe ist. Da kommen wir mit, das will ich sehen. Komm Schlaff, kommt Verdammte dieser Erde, Rikki führt uns an, ihm nach. Rikki, unser großer Steuermann. Avanti Populo, Rikki, zeig uns den Weg zur ideologisch einwandfreien Kneipe! Führ uns an, Genosse, auf dem langen Marsch!”

“Redet doch nicht son Unsinn”, sagte Rikki, “ich weiß was, ich weiß wirklich was. Ich weiß, wo wir hingehen.”

Er kramte in einer Kiste, in einem Stapel alter Zeitschriften. “Agit 883” hieß die Zeitung die er hervorzog. Komischer Name. So eine typische Alternativzeitung mit wilder Aufmachung, Schreibmaschinen-Layout.

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“Schaut mal, hier sind ein paar Annoncen. Er blätterte und suchte.
“Black Korner … das klingt doch schon mal ganz gut … Nassauische Straße? Wo issn die Nassauische Straße?”
“Zeig mal her, Rikki. Korner mit K? Haben die sich nach Alexis Korner benannt? Den Vater des englischen Blues?”
“Das denkst auch wieder nur du, in deiner halb verblödeten Kiffer-Birne … dass alle sich nach irgendwelchen Bands und Musikern benennen müssten. Blues, ha Blues, was fürn langweiliger Scheiß. Wenn du mich fragst, ich stehe nur auf Tyrannosaurus Rex. Das ist ne Band. Das ist die Musik der Zukunft. Aber du und Schlaff, ihr mit eurem öden Blues, mit eurem Ten Years-After-Langweiler-Zeugs…”
“Ja, genau, Rikki … Klickelwutt Glien … die fandst du doch auch immer gut?”

“Ja, okay, Klickelwutt Gliehn, aber auch nur wegen des chinesischen Titels. Klicklwutt Gliehn. Nur das Wortspiel fand ich gut, nicht die Musik. Und ‘Zehn Jahre Arsch’ finde ich auch immer noch ganz lustig … für Ten Years After. Aber musikalisch ist für mich nur noch Tyrannosaurus Rex relevant.”
“Ne, Rikki, wirklich nicht. Ich will nur noch ideologisch einwandfreie Bands hören. Aber was ist jetzt mit der ideologisch einwandfreien Kneipe?”
“Na ja, Black Korner ist wohl doch nicht so. Schau mal hier, was hier steht: ‘Psychothek’ steht hier. Was solln das sein? Das klingt doch wieder nach so nem Kifferscheiß. Eher was für euch. Unpolitischer Kifferscheiß.”
“Schau mal, hier ist noch was. Was ist das denn? ‘Tina Putt – Brutstätte für Farbeierablage von Blauhelmen. Zur Wanne’. Heißt das jetzt Tina Putt? Oder Zur Wanne? Holsteinische Straße? Wo issn die?”

“Keine Ahnung, aber klingt doch schon besser als dieser Psycho-Scheiß. Psychedelic-Scheiß. Das wäre eher was für den Nowak: noch drei Trips bis Wochenende! Wisst ihr noch: der Nowak … Immer LSD. Aber hier ist noch was. Schaut mal: Das wäre doch was? ‘Drehscheibe. Undogmatische Kneipe für linke Leute’. Das ist’s doch genau das, was wir suchen. Und hört mal: 20 in- und ausländische Tageszeitungen, 40 Zeitschriften, 7 verschiedenen Biere, 7 Wodka-Sorten, 4 Fernsehprogramme. Das ist doch wirklich was, da gehen wir hin. Pfalzburger Straße 20. Gib mal den Stadtplan.”

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Sie suchten die Pfalzburger Straße.
“Schau mal hier. Die is ziemlich lang. Wo isn die Nummer?”
“Die 12 ist hier. Aber da auf der anderen Seite ist schon die 71. Wie kann das denn sein? Ist der Plan falsch?”
“Weißt du das nicht? Hier in Berlin ist doch alles anders. Hier haben sie ein völlig bescheuertes System, die Straßen zu nummerieren. Da gibt’s nicht die geraden Nummern auf der einen Straßenseite und die ungeraden auf der anderen. Nee, da zählen sie auf der einen Seite die ganze Länge lang rauf, und dann am Ende auf der anderen Seite weiter, also wieder zurück.
“Wie jetzt? Weiter? Oder zurück?”
“Na ja auf der einen Seite rauf und die andere Seite wieder runter.”
“Versteh ich nicht.”
“Mann, Petty, du kapierst auch wieder überhaupt nichts. Das kommt von eurer bescheuerten Kifferei. Also ich erklär’s dir nochmal.” Er deutete auf den Stadtplan. Pfalzburger Straße. “Schau, hier fängt sie an zu zählen, an der Lietzenburger Straße, da fängt sie an. Also hier auf der linken Seite ist die Nummer 1. Das heißt: eigentlih ist es ja die rechte Straßenseite. Dann zählt sie 1,2,3,4,5,6 und so weiter. Hier ist die 17, da die 26, da die 28, siehst du? Und hier am Ende, wie heißt die Straße da? Fechnerstraße, ja, da geht’s dann auf der anderen Seite weiter. Schau, hier ist die 44, da die 55, 79 und wieder bis rauf zur Lietzenburger Straße. Da liegt dann das Haus mit der höchsten Nummer dem mit der 1 gegenüber.”
“Seltsames System! Warum machen die das?”
“Sag ich dir doch: weil sie bescheuert sind. Da kann man sich dumm und dämlich suchen nach einer Hausnummer.”
“Und wo ist jetzt die Pfalzburger 20?”
“Hier ist die 17 und da ist die 26. Müsste also ungefähr dazwischen sein. Hier vielleicht. Da fahren wir am besten genauso wie gestern, steigen aber schon am U-Bahnhof Spichernstraße aus. Von da können wir dann zu Fuß rüber laufen.”

“Aaah … nicht so viel laufen!”
“Hör auf, Schlaff, du wirst doch wohl mal ein paar hundert Meter laufen können! Wenn die Revolution kommt, wirst du schon auch mal rennen müssen. Kannst ja jetzt schon mal ein bisschen trainieren!”

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Spichernstraße steigen sie aus.
“Komische Gegend. Schau mal da oben, auf diesem hässlichen Betonneubau. Was ist das denn? Soll das der Kopf von Jimi Hendrix sein?”

Sie schauen hoch auf den langgestreckten Neubau, da ist der Kopf eines Langhaarigen, schwarz wie ein Scherenschnitt auf transparentem roten Hintergrund, von hinten beleuchtet. Das hat etwas Ikonenhaftes, wie das berühmte Bild von Che Guevara mit Bart und Baskenmütze. Das Rikki in seiner neuen Wohnung, dieser Rumpelbude, über dem Sofa hängen hat.
“Ist das Hendrix?”
“Nee, Frank Zappa, oder?”
“Quatsch, das ist nicht Zappa! Zappa sieht anders aus. Zappa hat doch auch den Bart!”
“Hat der da oben doch auch!
“Nee, hat er nicht. Schau doch mal hin.”
“Aber Hendrix? Ein bisschen sieht er schon aus wie Hendrix. Hmm … vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es auch gar niemand. Jedenfalls niemand Spezielles. Einfach nur ein Langhaariger. Ein Freak.”
“Weißt du, Zappa oder Hendrix, mir ist das völlig egal. Das nimmt sich doch sowieso nichts. Ist doch alles das Selbe. Alter Mist von gestern. Tyrannosaurus Rex, das ist was. Das ist die Musik der Zukunft. Ihr werdet sehen. Ich sag’s euch. In ein paar Jahren werdet ihr an mich denken.”
“Mann Rikki, ich weiß gar nicht, ob es so gut ist … wenn wir uns jetzt öfter sehen.”
“Das ist ne Werbung für diesen Laden da oben. Ist der da oben drin? In diesem hässlichen Haus? Schau mal, diese riesigen bunten Buchstaben da am Haus: B-I-G-A-P-P-L-E. Big Apple? Ist das ne Disco?”

“Big Apple gibt’s in München auch. Auf der Leopoldstraße. Gleich neben dem PN. Das PN war immer beliebter, weil da meistens die besseren Bands gespielt haben. Kinks, Pretty Things, Boots, Renegades. Hendrix hat da auch mal gespielt. Ganz am Anfang seiner Karriere, als ihn noch keiner kannte. Oder hat der im Big Apple gespielt? Das weiß ich jetzt gar nicht mehr genau. Jedenfalls hab ich zuletzt im Big Apple Golden Earring und Man gesehen. Ist noch gar nicht so lange her…”
“Mann, Petty, das interessiert doch keine Sau, deine öden Kifferbands.”
“Ja, ich weiß, Rikki, Tyrannosaurus Rex … aber die gibt’s ja eigentlich schon gar nicht mehr … heißen die nicht inzwischen T.Rex? Und wo geht’s jetzt hier eigentlich zur ideologisch einwandfreien Kneipe?”

Sie liefen ein Stück, suchten ein bisschen, und gerade als Schlaff zu maulen anfing: “Wo issn das jetzt … ist das noch weit?” … fanden sie die Drehscheibe.

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Sie setzten sich rechts hinter der Tür an einen runden Tisch. Und bestellten Bier. Schlaff rauchte eine Gauloise, Rikki und Petty rauchten Reval. Ein paar Freaks liefen herum, rauchten Selbstgedrehte, ein paar langhaarige Gestalten. Und ein paar ältere Typen, die nach schwerer politischer Diskussion aussahen. Links neben der Tür stand ein großes Regal, mit unzähligen Zeitungen und Zeitschriften. Rikki wühlte da ein bisschen herum, schaute, blätterte.

“Ah, die Agit 883 gibt’s hier auch. Und was ist denn das hier für ein Blättchen?” “Berliner Extra-Dienst”, ein einfach hergestelltes Heftchen im winzigen DIN A 5 Format.
“Das ist doch interessant”, fand Rikki, “Obwohl die Aufmachung ja auch nicht gerade der Hit ist, ein bisschen mickrig, oder? Das könnte man doch besser machen. Und haben sie dieses Logo hier absichtlich ein bisschen an die Bild-Zeitung angelehnt? Ja, das ist gut, das ist ironisch gemeint. Das ist ganz gut!”
Schlaff und Petty fanden die ganze Kneipe ein bisschen muffig, eher öde. Langweilig.

“Und? Bist du jetzt zufrieden, Rikki? Ist die Kneipe ideologisch einwandfrei genug? Diese undogmatische Kneipe für linke Leute? Ist doch irgendwie langweilig, oder?
“Jetzt spielt euch mal nicht so auf. Immerhin haben sie Zeitungen hier. Viele Zeitungen Und vor allem linke Zeitungen. Das ist doch was.”
“Wie weit ist es denn von hier zum Quasimodo?” wollte Schlaff wissen, “das kann doch nicht so weit sein?”
“Ja, da können wir zu Fuß gehen. Wir haben ja einen Plan dabei!”

Schlaff maulte: “Zu Fuß? Wie weit denn?”

Rikki war einverstanden. Kein leichter Weg für beide.
“Ideologisch einwandfreie Kneipe, hahahah, Rikki. Das war also die ideologisch einwandfreie Kneipe. Sehr schön. Wunderbar. Ideologisch einwandfrei … aber total langweilig. Keine Musik, keine Zeichentrickfilme und keine Frauen. Was ist Rikki, fandst du die ideologisch einwandfreien Frauen hier besser als gestern im Quasimodo?”
“Immerhin gab es Zeitungen!”
“Ja, ja, Richard, vielleicht sehn wir uns ja jetzt öfter. In einer ideologisch einwandfreien Kneipe! Da könn wa denn so manche Molle zischen miteinanda, wa?”

“Ach Petty, hör doch auf!”


Agit 883 56 51, später zum geläufigeren Agit 883 verkürzt, war eine anarchistisch-libertäre Zeitschrift aus der Linken Szene West-Berlins, die mit wechselnden Untertiteln und in wechselnder Zusammensetzung der Redaktion von Februar 1969 bis Februar 1972 erschien. Sie gilt in Bezug auf die gewählten Themen, ihre Sprache und die Aufmachung (Illustrationen mit Fotomontagen und Comics, libertäre Agitation) als typisches Blatt der späten Studentenbewegung. Die Zahl im Titel der Zeitschrift war die Telefonnummer der Redaktion bzw. der Wohngemeinschaft und des Mitherausgebers Dirk Schneider in der Uhlandstraße 52 in Berlin-Wilmersdorf. (Quelle: WiKi)

Die Titelbilder stammen von dieser Website mit Scans aller Ausgaben:

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Neue Seite: „Gammler, Jeans und lange Haare” Fotos und Geschichten 1965-77

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„Gammler, Jeans und lange Haare” / Farbfotos West-Berlin Sommer 1970

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“Geht doch in den Osten!” / Andi, Richard, Gabi und die anderen / Ein virtuelles Fotoalbum / 1965 – 77

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“Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999

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Leseprobe: Drei Uhr am Nachmittag, trotz der Sonnenstrahlen ist es eiskalt im Tiergarten. Wir drücken uns um eine Bank herum und rauchen. Das Kino fängt erst um halb vier an. “Easy Rider” läuft im Kino Bellevue am Hansaplatz. Zuerst ist es im Kino auch noch kalt, doch dann wird uns fast so warm, wie den beiden Bikern im Film, auf der Leinwand vor uns. Trotz des traurigen Endes, die von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson gespielten Figuren sterben, haben wir gute Laune. Der Film hat uns Kraft gegeben. Andi, Richard und ich spinnen herum, wie wir durch Amerika biken, Geld verdienen und uns als Rockband feiern lassen. Das meiste davon ist utopisch, doch die Geschichte mit der Band verfolgen wir weiter. Es ist der 11. März 1970.

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“Mao, Kollektiv und Schulverweis” / 1968-70

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Leseprobe: 1968 lernte ich Burkhardt Seiler, der später als der Zensor bekannt werden sollte, in der Schule kennen. Burkhardt sprach mich auf meinen Mao-Badge an: “Ob ich denn überhaupt schon mal was von organisiertem Klassenkampf gehört hätte?” Hatte ich natürlich nicht. Ich trug das Ding nur, um zu provozieren.

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“Pseudo-Schule, ein Pferd ohne Namen und innere Emigration” / Nach der Revolte 1970-77

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Leseprobe: Connie nimmt mich in einen kleinen Club in Halensee mit, in dem ich Natascha kennenlerne. Natascha ist Stripteasetänzerin, sie arbeitet in der Dorett-Bar, einem Animierschuppen in der Fasanenstraße. Mit Natascha habe ich eine kurze Affäre. Sie sieht wie Marylin Monroe aus und hat immer gute Laune.

“Geht doch in den Osten!” / Andi, Richard, Gabi und die anderen / Ein virtuelles Fotoalbum / 1965 – 77

Marcus Bambus

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“Gann die junge Dame mal das linke Ohr freimachen?”, der DDR-Grenzer hat meinen Ausweis in der Hand und weiß es besser. Fast jedesmal, wenn wir über die Transitstrecke fahren, bin ich Ziel des Spottes der spießbürgerlichen Grenztruppen des realen Sozialismus. Im Westen heißt es: “Geht doch rüber in den Osten!” Das wird mir und meinen Freunden mit langen Haaren im Westen oft geraten. Es wäre also keine wirkliche Alternative in den Osten zu gehen. Denn auf beiden Seiten meines Vaterlands sind junge Männer mit langen Haaren  in den 60er Jahren verpönt. Mädchen geht es nicht wirklich besser, mit Miniröcken ecken sie an, oder wenn sie auf der Straße rauchen. “Eine deutsche Frau raucht nicht!”, hieß es im Dritten Reich und diese Einschätzung lebt fort. Und Nackte am Halensee, die regen den Spießer erst recht auf. Natürlich wissen wir, dass wir provozieren und wir tun es bewusst. Trotzdem nervt es manchmal, immer wieder angepöbelt zu werden.

1965 beginne ich, meine Haare lang wachsen zu lassen. Meine Strategie ist einfach, ich verweigere den Friseur. Zunächst entsteht eine Art frühe “Beach Boys-Frisur”, die ist verhältnismäßig brav.

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Dann gehe ich in die Breite und nicht mehr in die Länge, ich sehe dick aus und die Frisur im Übergangsbereich ist peinlich. Trotzdem halte ich durch und schließlich wachse ich wieder, strecke mich und werde doch noch ein cooler Langhaariger. Damals war es noch selten, einem anderen Langhaarigen auf der Straße zu begegnen, meist grinste man sich an. Im Gymnasium lernte ich dann langhaarige Freunde kennen, Andi Behrendt, Richard Wesse und den subkulturell gebildeten Burkhardt Seiler, der später als Musikguru “Zensor” bekannt wurde. Besonders wenn wir gemeinsam unterwegs waren, wurden wir beschimpft. Die Prolls und Mittelschichtler, die uns nachriefen erkannten sehr genau den politischen Gehalt, den unser Protest hatte. Nicht wo der Pfeffer wächst sollten wir hingehen, nein, in den Osten zu den “anderen Kommunisten” wurden wir geschickt.

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Oben: Andi im Konfirmationsanzug.

Am 3. Mai 1965 sitze ich mit meinem Bruder vor dem Fernseher, wir warten auf den UFA-Film, der Montags normalerweise vom DDR-Fernsehfunk gesendet wird; ein Format, das auch in West-Berlin sehr beliebt ist. Aber unvermittelt trifft uns das Material, das US-Soldaten bei der Befreiung der Konzentrationslager gedreht haben. Es schockiert uns, im westdeutschen Fernsehen ist soetwas damals noch nie gezeigt worden. Ich stelle mir vor, selbst im Dritten Reich gelebt zu haben. Dieses Foto fällt mir ein. Es ist von 1938, man feiert die Annektion Österreichs, jeder hier am Kranzler-Eck zeigt den Hitlergruß, was hätte ich getan?

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Wir werden politisch aktiv, gehen auf Demos, Burkhardt nimmt mich mit zur Roten Garde. Wir gründen ein “Kollektiv”, agitieren unsere Mitschüler und fliegen schließlich von der Schule. In der Folge zerstreuen sich unsere Wege. Mit Andi und Richard bleibe ich befreundet, wir gründen eine Band und fotografieren uns häufig, angezogen, nackt, aber immer mit Matte.

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“Rainy Day Woman” kam aus Heidelberg und viele Berliner wussten 1970 noch nicht, was sie da rauchte.

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Mein Freund Rainer macht mit einem Querflötenkasten Mafiastimmung und Gitarrero Fecke klampft akustisch dazu. Fecke wird ein Opfer des “Club 27”, er erstickt 1975 an Erbrochenem. Unten sehen wir ihn mit seiner geliebten Stratocaster.

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Oben: Richard 1970, unten ca. 1977 mit Freunden und Familie in Goa.

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1975 lasse ich mir die langen Haare abschneiden. Inzwischen hat fast jeder eine Matte und meine kurze stoppelige Frisur nimmt die Punkästhetik voraus, ohne das ich es ahne. Bald ecke ich mit raspelkurzen Haaren und schwarzer Lederjacke an. Die gleichen Spießbürger, die mich fünf Jahre früher wegen meiner langen Haare beschimpft haben, haben nun selbst Vokuhilas und lange Koteletten. Und wieder wünscht man mich in den Osten ….

Marcus Kluge


Für die Unterstützung bei der Restauration der historischen Fotos danke ich Rainer Jacob.

 

 

Lost and Found-Marathon 6: „EVA-Lichtspiele, Monheim, Karstadt “ / Wilmersdorf

Als Kind in den 60er Jahren in Wilmersdorf aufzuwachsen hatte tatsächlich etwas dörfliches. Der Autoverkehr war kaum zu merken, insbesondere die Jahre nach dem Mauerbau waren still. So still, dass manche Berliner an einer Zukunft von West-Berlin als freier Stadt zweifelten. In der Wilhelmsaue gab es noch einen Viehbauern, bei dem man frisch gemolkene Milch kaufen konnte. Das großstädtische Leben spielte sich, wenn überhaupt, am Kudamm ab. Unsere Verbindung zur großen Welt war das kleine Karstadt-Kaufhaus zwischen der Berliner und der Badenschen Straße. Dort gab es Delikatessen, Spielzeug und billige Exportartikel aus aller Welt, wie Blumenbänkchen aus Bambus oder exotische Fische und Vögel in der Zooabteilung. Nachdem auch meine Eltern einen Fernseher anschafften, erhielten wir Freitags unsere Dosis Krimi. Um 20.15 Uhr guckte die Familie gemeinsam “Seventy-Seven Sunset-Strip” oder die unendliche Geschichte von Dr. Kimble, der “Auf der Flucht” nach dem einarmigen Mörder seiner Frau suchte. Am Sonnabend Nachmittag wurde ich mit einer Schüssel zum Eiscafé Monheim geschickt und immer gab es Rum-Traube, ob der darin enthaltene Alkohol schädlich für Kinder gewesen sei, war nie ein Thema. Nach dem meist etwas zähen Sonntagsbraten ließen sich die Kinder gern in die Jugendvorstellung im “Eva” schicken, während sich die Eltern einer, mehr oder weniger, faulen Siesta hingaben.

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EVA-Lichtspiele, 1938.

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U-Bahnhof Blissestraße, 1960.

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“Land unter” in den 1970er Jahren.

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Eiscafé Monheim.

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Mannheimer Straße am Alten Fenn, 1960.

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Am Alten Fenn liegt auch die Friedrich-Ebert-Oberschule, die ich zwei Jahre besuchte. Dann flog ich vom Gymnasium, wie andere aus meiner, im Jargon der 68er “Kollektiv” genannten Clique, auch. Wir hatten einen Schulstreik angezettelt und waren auch sonst höchst gefährlich. Einige von uns kifften und man befürchtete, wir wären Proselytensuche. Einmal ließ man uns zu acht, in der großen Pause, von der Polizei verhaften. Die Anekdote erzähle ich in meinem Roman “Xanadu ’73″*.

“An einem Montag im Herbst stehe ich wieder in der Raucherecke und ich drehe mir mit Drum eine filterlose Zigarette. Beaky steht ein paar Meter weg mit einem Mädchen und einem Jungen aus der Oberstufe. Die Drei rauchen eine Purpfeife. Irgendetwas geht vor, ich kann es nur noch nicht einordnen. Im rechten Augenwinkel sehe ich zwei Lehrer, ich blicke nach links, von dort nähern sich auch einige Lehrer. Als die Glocke die Pause beendet, hindern die Pauker mich, Beaky und sechs weitere Schüler, die Raucherecke zu verlassen. Als wir die Pädagogen fragen, was das soll, bekommen wir keine Antwort. Sie haben wohl Funkstille vereinbart. Die anderen Schüler hängen aus den Fenstern und glotzen. Als nach einer knappen Viertelstunde Polizisten den Schulhof betreten, bin ich nicht wirklich erstaunt.

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Wir acht werden also wie Verbrecher abgeführt, die restlichen Zöglinge in den Fenstern johlen und pfeifen. Wofür oder wogegen sich diese Akklamation richtet ist nicht völlig klar. Meiner Einschätzung nach richtet sich der lautstarke Protest gegen unsere polizeiliche Festnahme. Wir, die Delinquenten, finden uns in einer Arrestzelle in der Polizeiwache Rudolstätter Straße wieder. Wir werden erstmal in Ruhe gelassen, man wartet wohl auf Spezialisten aus dem Rauschgiftdezernat. Beaky hat noch die Pfeife und ein klelnes Stück Haschisch dabei. Die Fenster sind zwar vergittert, aber man kann sie öffnen und Beaky kann die Konterbande in einer Regenrinne verstecken, so das niemand von uns etwas Belastendes bei sich trägt.”

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Hildegardstraße 1961.

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Das Karstadt-Kaufhaus (Berliner Straße 150), 1960 von der Gerdauer Straße aus gesehen. Es wurde Ende der 1920er Jahre als “Kepa”-Kaufhaus gebaut.

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Die Inneneinrichtung der 60er Jahre.

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M.K.

*”Xanadu ’73 – der Roman”: http://wp.me/P3UMZB-Rw

Das historische Foto vom Eva stammt von der Website des Kinos: http://www.eva-lichtspiele.de/

Das Wolkenbruch-Foto von der Seite des Eiscafés Monheim: http://www.eiscafe-monheim.de/

Lost and Found-Marathon 5: „Volkspark und Schramm-Block” / Wilmersdorf

1960 zogen wir in den Schramm-Block direkt am Volkspark Wilmersdorf. Der etwas düstere, expressionistisch angehauchte Bau, aus den 1920er Jahren, hatte mir schon als Kind gut gefallen. Im gleichen Jahr wurde ich eingeschult. Auf dem Schulweg zur Prinzregentenstraße sollte ich die Bundesallee an der Ampel überqueren. Natürlich ersparte ich mir den Umweg und rannte über die Bundesallee, wenn keine Autos in Sicht waren. Der “Volksparksteg” wurde erst 1971 gebaut. Seit den 1920ern steht hier, am Beginn des östlichen Parkteils, der Speerwerfer”, eine Bronzeplastik von Karl Möbius. 1944 wurde das Standbild eingeschmolzen und 1954 neu gegossen.

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Bis zum Jahr 1915 gab es noch einen See (unten) im mittleren Teil des Parks. Es war ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner, Schramms Tanzpalast war legendär. “Komm, Karlineken wat meenste, morjen jehn wa bei Schramm, een danzen?“, hieß es dann. Aber nicht nur die Gastronomie brachte Geld ins “Seebad Wilmersdorf”, auch die Spekulation mit Bauland machte manche Bauern zu Millionären. Der See begann zu versanden und um den Verkehr nach Berlin zu erleichtern, wurde er 1915-20 zugeschüttet. Als ich klein war bildete sich oft am Ende des Winters ein kleiner Tümpel aus Schmelzwasser auf der Wiese und ich hoffte stets, dass wieder ein See entstehen würde. Heute gibt es an dieser Stelle ein kleines Feuchtbiotop.

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Der Block im Zustand nach dem Bau ca. 1930 (oben).

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In den Nuller-Jahren wurde der Schramm-Block neu gestaltet und dabei oberhalb der 1. Etage heller verputzt (oben), wobei er etwas von seinem morbiden Charme eingebüßt hat. Wir wohnten im Eckhaus in der 2. Etage. Das Foto unten zeigt meine Großmutter vor dem Block 1960. Aus den 1960er Jahren stammen auch die meisten der älteren Fotos.

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Gleich im ersten Winter 1960/61 gab es reichlich Schnee und mein Bruder und ich bekamen Skier.

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Heute befindet sich in unserem ehemaligen Wohnhaus ein Café. In den 70er und 80er Jahren war in den Räumen ein Geschäft von “Lautsprecher Teufel”.

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Straße Am Volkspark.

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Die mittlere Parkanlage zwischen Bundesallee und Blissestraße wurde in den Jahren 1933 bis 36 angelegt. In den 60er Jahren wirkte sie noch recht streng, Rasen betreten und freilaufende Hunde waren verboten. Heute wirkt der Park freundlicher.

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Oben: Sicht in Richtung Schoeler-Park.

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Der Fußballplatz im Bereich des früheren Sees mit Blick auf die Auenkirche (oben 1960)

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Meine Mutter konnte sich ihren Wunsch erfüllen, bis zu ihrem Tod im Jahre 2005, in der Wohnung am Park zu leben. Wenn meiner Tochter und mir nostalgisch zu Mute ist, besuchen wir mit der Enkelin Neala das Café im Haus Livländische Straße 2.

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M.K.

Der nächste Teil der Serie beschäftigt sich unter anderem mit dem Eva-Kino und der Eisdiele Monheim.

Volkspark: https://de.wikipedia.org/wiki/Volkspark_Wilmersdorf

Wilmersdorfer See: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilmersdorfer_See

Lost and Found-Spezial: „Gammler, Jeans und lange Haare” / Farbfotos West-Berlin Sommer 1970

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Im Sommer 1970 legen mein Freund Andi und ich ein Fotoalbum an. Zusammen mit seiner damaligen Freundin Martina gehen wir im Tiergarten und in der City West Aufnahmen dafür fotografieren. Andi hat zu Weihnachten 1969 eine alte 6×6-Kamera geschenkt bekommen, die noch recht gut funktionierte. Heute allerdings, 46 Jahre später, beginnen die Abzüge auszubleichen und haben teilweise einen Farbstich bekommen. Das Album haben wir uns oft angeschaut und nachdem Andi Ende der 90er Jahre plötzlich und völlig unerwartet stirbt, wird es für mich zum besonders wertvollen Erinnerungsstück. Inzwischen geht es langsam aus dem Leim, einzelne Seiten haben sich schon gelöst.

Vor ein paar Tagen bin ich mit der Kamera unterwegs gewesen, um den Farben des Sommers 1970 nachzuspüren und zu dokumentieren, wie sich die Orte verändert haben, an denen wir uns vor 46 Jahren in Szene gesetzt haben.

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In der Augsburger Straße machen wir die ersten Aufnahmen, im Hintergrund befindet sich ein C&A-Kaufhaus, dass es heute nicht mehr gibt. Stattdessen steht dort ein Neubau mit dem Sofitel-Hotel und einem VAPIANO-Restaurant. Diese Gegend hat sich besonders stark verändert, C&A hat einen neuen Standort, wo vorher das Kudamm-Eck stand und noch früher, in den 50er und 60er Jahren das Berlin-Office von Pan American Airways. 1965 zog das Pan Am-Büro ins Europa-Center.

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Oben: Blick in die Augsburger Straße, rechts Sofitel und VAPIANO. Unten: Das ehemalige Kudamm-Eck heute, auch das neue Gebäude hat eine Großbildleinwand.

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Oben: Das unscharfe, seltene Bild vom Pan Am-Büro wurde 1959 gemacht. Unten sehen wir das Office links am Rand. Das Bild muss aus den frühen 50er Jahren sein, denn man sieht das 14-stöckige Allianz-Gebäude, Joachimsthaler Straße 12, noch im Bau. Das heute denkmalgeschützte Gebäude war das erste Hochhaus am Kurfürstendamm und gilt als besonders schönes Beispiel der 50er-Jahre-Architektur in West-Berlin. https://www.berlin.de/sehenswuerdigkeiten/3561534-3558930-allianzbuerohaus.html

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Unten: Neues C&A-Haus und das Allianz-Bürogebäude heute.

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Oben: Kudamm Eck 1996, Foto: Beek100 ©CC BY-SA 3.0

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Im Hinterhof von Bilka fotografiert Andi mich. Heute ist das Kaufhaus eine Karstadt-Sport-Filiale. Im Hof wurde eine große Voliere angelegt und zur Zeit baut man um.

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Am Hardenbergplatz treffen wir Martina und einen Bekannten von Andi, der Musiker (unten) arbeitet im Big Eden als Dics-Jockey.

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Parallel zur Stadtbahntrasse verbindet ein kleiner Weg den Hardenbergplatz mit dem Tiergarten. Auf einem Mäuerchen spiele ich den Bürgerschreck, aber die zeitunglesenden Berliner lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Heute gibt es die Bänke nicht mehr und das Mäuerchen ist ganzflächig besprüht.

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1970 posierten Andi und ich auf der Skulptur “Germanische Büffeljagd” von Fritz Schaper. 2016 wird diese gerade von Grafitti befreit.

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Insgesamt stehen in der Fasanerieallee vier Jagdskulpturen. Oben “Eberjagd um 1500” von Karl Begas, unten: “Zeitgenössische Fuchsjgd” von Wilhelm Haverkamp und “Hasenhatz zur Rokokozeit” von Max Baumbach. Alle Skulpturen wurde 1904 im Zuge des Baus des Hubertusbrunnen am Großen Stern angefertigt. 1938 wurde die Siegessäule vom Königsplatz an den Großen Stern versetzt und der Brunnen zerstört. Die Figuren wurden daraufhin im Großen Tiergarten verteilt.

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Die denkmalgeschützte “Löwenbrücke” war 1970 noch intakt und tragfähig. 2008 wurde sie wegen Baufälligkeit zunächst gesperrt und sollte 2014 restauriert werden. Stattdessen ist sie dann komplett demontiert worden und muss wohl heute “ehemalige Löwenbrücke” genannt werden.  Die traurige Geschichte haben Frank und Ulli in ihrem Blog dokumentiert: https://www.2mecs.de/wp/2014/08/loewenbruecke-berlin-tiergarten/   Unten: So habe ich sie im Juli 2016 vorgefunden.

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Oben: Andi mit Gitarre. Die Geschichte unserer Freundschaft erzähle ich hier: http://wp.me/p3UMZB-1cj

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Danke an Rainer Jacob für Hilfe bei den digitalen Farbkorrekturen.


 

Lost and Found-Marathon 4: „Preußenpark, Fehrbelliner- und Hohenzollern-Platz” / Fotografische Spurensuche

U-Bahnhof Blissestraße, ca. 1977.

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Der Preußenpark wurde in den Jahren 1920 bis 1925 angelegt. Bei schönem Wetter waren wir in den Fifties fast jeden Nachmittag dort. Wir hörten Musik mit dem Kofferradio und ich interessierte mich für Abfallkörbe (unten). 1960 (oben) ist das Bausenat-Hochhaus noch gut zu erkennen. Es entstand 1954-55 nach Plänen von Roth und Schuberth und wird heute von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung genutzt.

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Den Fehrbelliner Platz dominieren bis heute die Bauten aus der Nazi-Zeit. Die Planung für eine großangelegte, hufeisenförmige Bebauung begann allerdings schon vorher. Ursprünglich sollte auf der Fläche des heutigen Flohmarkts ein Rathaus für “Deutsch-Wilmersdorf” entstehen. Mit der Höhe des Turms wollte die Wilmersdorfer die Schöneberger übertreffen. Das Schöneberger Rathaus wurde 1911-14 verwirklicht. Die Wilmersdorfer waren zu langsam, der Weltkrieg beendete ihre Träume und 1920 verlor “Deutsch-Wilmersdorf” das Stadtrecht. Es wurde Bezirk des neugebildeten Groß-Berlin. Das bis 2014 als Rathaus genutzte Gebäude (Architekt: Helmut Remmelmann) wurde von 1941 bis 1943 am Fehrbelliner Platz 4 (oben) als letzter Gebäudekomplex der NS-Zeit im neoklassizistischen Stil zur Erweiterung des benachbarten Sitzes der Nazi-Arbeitsfront errichtet. Der einstöckige Bau einer Schultheiss-Destille war wohl ein Nachkriegs-Provisorium und wurde schon in den 70er Jahren wieder abgerissen. Die heutige Lösung, ein roter Flachbau mit Bio-Company-Werbung, stellt ästhetisch keine Verbesserung dar.

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Der rote Eingangspavillon des U-Bahnhofs (oben) wird, wohl wegen des Uhrenturms, im Volksmund “Bohrinsel” genannt. Der 1968-72 errichtete Zweckbau soll in Farbgebung und Gestaltung einen Kontrast zur umgebenden Nazi-Architektur bilden, Architekt war Rainer W. Rümmler. 1960 (unten) stand an seiner Stelle noch ein Flachbau im 50er Jahre-Stil.

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Fehrbelliner Platz 2, Detail: Greif. (Für die Nordstern-Versicherung im NS-Stil gebaut. Architekt: Otto Firle, 1934-35)

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Brandenburgische Straße.

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Bis 1960 wohnten wir am Hohenzollerndamm 17. Mein Bruder ist offensichtlich vom fotografierenden Vater genervt. Vom Balkon hatte man einen guten Blick auf den Hohenzollenplatz und die gleichnamige Kirche. Der U-Bahnhof wurde 1913 eingeweiht, den westlichen Eingang (oben) schmücken Pylone mit dem Adler der Hohenzollern. Die Kirche am Hohenzollernplatz gilt als Hauptwerk deutscher expressionistischer Baukunst. 1930-34 nach Entwürfen von Ossip Klarwein, vom Architekturbüro Fritz Höger erbaut, war der Bau umstritten. Klarwein zog nach Baubeginn in die Nähe und hat die Arbeiten überwacht. 1934 musste er wegen seiner jüdischen Herkunft nach Palästina emigrieren. Von den Berliner wird die Kirche auch “Kraftwerk Jesu” genannt. Das Bild ganz unten zeigt sie von der Fasanenstraße aus gesehen.

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M.K.

 – wird fortgesetzt –

Die historischen Fotos stammen von meinem Vater, meinem Bruder und mir. Den Wachmann mit MG hat Rainer Jacob beigesteuert.

Fehrbelliner Platz: https://de.wikipedia.org/wiki/Fehrbelliner_Platz

Kirche am Hohenzollernplatz: https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_am_Hohenzollernplatz

Berlinische Leben – „Rainer Works Art Marcus Writes“ / Portrait einer Freundschaft / 1973-2016

Es gibt Freundschaften die Bestand haben, auch wenn uns das Leben für viele Jahre von unseren Freunden trennt. Wir treffen uns wieder und sprechen wieder miteinander, als ob es nur Tage oder Stunden der Trennung waren. Sofort finden wir die gemeinsame Sprache und wir verstehen uns.

So geht es mir mit Rainer Jacob, den ich vor über 40 Jahren kennenlernte. Wie genau haben wir beide vergessen. Er wuchs in der West-Berliner Blissestraße und ich einen Katzensprung entfernt am Volkspark Wilmersdorf auf. Es war Freundschaft auf den ersten Blick. Damals waren wir beide knapp 20, politisch links und mit großem Interesse an Film, Literatur und Kunst. Wir verstanden uns auf Anhieb, obwohl wir häufig unterschiedlicher Meinung waren. Ohnehin war Rainer immer besonders vom Bild und ich eher von Sprache begeistert.

img_20140705_0001Ca. 1975.

Rainer ist sowas wie ein Sonntagskind, obwohl er nicht an einem geboren wurde (12 Minuten zu spät) und er ist mit einem kritischen Geist ausgestattet. Für beides ist er dankbar. Wieso er ein Glückskind wurde, kann er sich erklären. Er hatte eben Glück mit seinen Eltern, die eine 59 Jahre lange, harmonische Ehe bis in den Herbst 2008 führten. Dann starb Martha und Günter folgte ihr im Februar 2009.Kennen lernten sich seine Eltern durch eine Art Lotterie. Während des 2. Weltkriegs bemühte sich die Nazipropaganda jedem unverheirateten Soldaten im „Felde“ ein Mädel an der „Heimatfront“ zu vermitteln. Das klappte wohl ganz gut, auf jeden Fall bei Rainers Eltern, die sich so kennen und lieben lernten. Auch bei der Kriegsgefangenschaft hatte Günter Glück. Er machte kein Kreuz an der Stelle wo dies 80% seiner Kameraden taten, „War Hitler ein guter Mann. Ja oder Nein?”. Er kam auf einen britischen Flughafen, wo er sich frei bewegen konnte, in der Offiziers-Messe bediente und Reifen vulkanisierte. Nebenher bastelte Rainers Vater noch Modelle von Lancaster-Bombern, die begehrt bei den Offizieren waren, zusätzlich Geld brachten und er hatte nicht die prägende traumatische Internierung, wie mein Vater zu erleiden, der nach vier Jahren in Sibirien als gebrochener Mann zurückkam.
10703682_752608828129097_6250639662470188336_nRainers Großeltern

Rainer hat noch Liebesbriefe und ein Kriegstagebuch bis zum Ende der Gefangenschaft, versehen mit Zeichnungen und Fotos und inspiriert durch meine Familiengeschichten spielt er mit dem Gedanken, diese Fundgrube auch einmal in ein Blog zu stellen. Die Eltern heirateten und 1955 wurde Rainer als Wunschkind geboren. Wieso Rainer einen überaus kritischen Verstand entwickelte, kann er nicht genau klären. Voraussetzung um eigene Gedanken entfalten zu können war, dass beide Eltern beschlossen hatten etwas anders zu machen bei der Erziehung. Selbst hatten sie Wilhelminische Strenge kennengelernt, künstlerische Ambitionen mussten sie begraben. Mutter wollte Modezeichnerin werden, doch mit dem Argument, sie heirate ja sowieso, verbrannte die Mutter ihre Zeichnungen. Der Vater fotografierte, zeichnete und baute Schiffs-und Flugzeugmodelle, lernen musste er etwas Praktisches.IMG_20140720_0003Rainer 1973img_20140706_0002Marcus

Mir fallen mir zwei Aspekte auf, die Rainer und mich zu kritischem Denken inspiriert haben könnten. Zunächst war in den 1960er Jahren in Deutschland noch der Nachhall von zwölf Jahren Naziherrschaft, Verbrechen und Kriegsschuld zu spüren. Wir merkten schon im Grundschulalter, dass uns in vielem eine beschönigende Version vermittelt wurde. Rainer erlebte Gechichtslehrer mit Schmissen, die prahlerisch und menschenverachtend von Kriegserlebnissen erzählten, oder die Kinder beim Sport als “Dreibeinige Synagogenzwerge” beschimpften.

Kaum jemand bekannte sich zu seiner Mitschuld, aber wir wussten doch, das eine Mehrheit Hitler gewählt und mitgemacht hatte bei den beispiellosen Verbrechen. Oder man schwieg gänzlich über das 3. Reich, wie in den meisten Schulen. Glücklicherweise war Rainers Vater kein schweigender Despot und in der Familie herrschte eine muntere Streitkultur. Viele in unserer Generation hatten schweigende Väter, fast war es eine vaterlose Generation.

Durch das Leben in Westen Berlins machten wir noch eine weitere augenöffnende Erfahrung. Wir wuchsen mit zwei Versionen der Wahrheit auf, die im Westen und im Osten in den Medien, vor allem im Rundfunk und Fernsehen verbreitet wurde. Zunächst werden wir den Westmedien geglaubt haben, aber spätestens nach dem Besuch des Schah von Persien und dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 merkten wir, das auch die Westmedien logen. Rainer beobachtete als Dreizehnjähriger bei einem Klassenkameraden zu Besuch, wie im Rohbau des Nebenhauses eine wilde Schießerei zwischen der Polizei und dem Attentäter von Rudi Dutschke stattfand. Später gingen wir auf Demos und erlebten Knüppelorgien der Polizei, in den Westmedien waren die Studenten und Gammler schuld und plötzlich stimmte die Version der Ostmedien mit unserer Beobachtung überein. Also wurde klar, was Medien berichten muss nicht wahr sein, alles ist kritisch zu hinterfragen. Langhaarigen wurden auf offener Straße “Mädchen” hinterhergerufen und die Boulevard-Presse hetzte so sehr, daß ein “Doppelgänger”, der Dutschke änlich sah, beinahe vom Mob gelyncht worden wäre.

Rainer sah sich verschiedenste linke Gruppierungen an und bei keiner, ausser den Trotzkisten, fand er einen Arbeiter. Überhaupt war alles sehr merkwürdig, wenn linke Gruppierungen (SEW, DKP) von Errungenschaften sprachen, während man den “realen” Sozialismus für 25 Mark Eintrittsgebühr besuchen konnte und das heruntergedimmte Licht in Straßen voller verkommener Altbauten den wirklichen Sozialismus zeigte. Bei uns wiederum wurde Kritik am Westen mit dem einfachen Satz, “Geh doch ‘rüber” plattgebügelt.

Während mich das Scheitern der 68er Revolte ins Abseits schickte. Abitur und Studium war mir verwehrt und ich habe mich wohl auch freiwillig für einige Zeit in den Schmollwinkel zurück gezogen, begann Rainer eine Lehre in einer Siebdruckerei. Aber er wollte doch noch sein bildnerisches Talent zum blühen bringen und bemühte sich um ein Studium an der Hochschule der Künste (heute UdK).

Es war ein Abend im Jahr 1973, als er mir seine Mappe zeigte, er hatte den Tag im Zoo verbracht und Tiere gezeichnet, in Vorbereitung auf seine Aufnahmeprüfung. Zum ersten Mal sah ich sein Talent und war beeindruckt. Er studierte dann mit dem kleinen Matrikel. Er startete mit freier Malerei, wechselte zu experimenteller Grafik, dann zu Grafik Design. Während er sich zuerst ernsthaft mit den realistischen Details von Reflexen auf Wasserhähnen malerisch herumschlug wollen seine Jahrgangskommilitonen, die Jungen Wilden, mit der Attitüde von Frühvollendeten Party feiern. Maler die den Habitus von Rockstars imitierten und sich anschickten das Niveau von Werbung glatt zu unterbieten. Damals, vor der Verschulung des Studiums konnte man noch vielseitig und selbstbestimmt Seminare auswählen und Rainer belegte einige der Film-und Fernseh Akademie und bei den Architekten.

Der Kunsthistoriker Freiherr von Löhneysen, der Schopenhauer textkritisch bearbeitete, beeindruckt Rainer. Er ist Führer bei einer Studienreise durch die norditalienischen Städte, wo man die Entstehung der Perspektive studiert. Gern hätte ich ihn begleitet, wenn meine Reiseunlust mich nicht zurückgehalten hätte. Am liebsten fahre ich dorthin, wo ich schon mal war. Zum Beispiel Bretignolles-sur-mer, wo ich schon öfter war. So verbringen wir 1975 vier Wochen in Frankreich, hören Pink Floyd, kucken auf Kühe und feiern den 14. Juli mit den Dörflern.

Zurück in Berlin macht Rainer Multimedia, ich kann mich noch an einen unendlich schweren portablen U-Matic Videorekorder erinnern, mit dem man schwarz-weiße Bilder aufzeichnen konnte. Wir filmten im Tiergarten in den Ruinen des Diplomatenviertels zur Musik von Django Reinhardt. Vielleicht hat mich diese Erfahrung auf eine Schiene gesetzt, die mich später zu 20 Jahren professioneller TV-Produktion gebracht hat.

In dieser Zeit ziehen wir oft um die Häuser, um am Morgen noch lange Gespräche zu führen. Manchmal zeichnet Rainer, z. B. mich während ich englischsprachige Songtexte schreibe, passend garniert mit USA-Attributen. Deutsch zu singen kann ich mir damals nur schwer vorstellen. Überhaupt prägte uns amerikanische Popkultur, die im West-Berlin der Nachkriegsjahrzehnte omnipräsent war. Wir gehen gemeinsam in die Off-Kudamm-Kinos, schauen uns Orginalfassungen mit und ohne Untertitel an. Schwarze Serie und andere Hollywoodstreifen, aber auch anspruchsvolle europäische Filme. Video gibt es noch nicht für Normalsterbliche und im Fernsehen regiert dröges Mittelmaß, das vom Dritten Programm manchmal durchbrochen wird.

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Zu Beginn der Uni-Zeit lernte Rainer seine erste Partnerin, die elf Jahre ältere Ingeborg kennen, die selbst Grafik studiert hatte und damals im Mediterranea griechische Möbel und Flokatis verkaufte, zu der er in eine WG einzog. Dort hatte er ein kleines Fotolabor im Gästeklo, auch von mir gern genutzt. Während des Studiums arbeitete er in den Semesterferien als Praktikant bei der Werbeagentur Dorland oder macht Illustrationen für den Tip, diese Erfahrungen brachten Rainer nach dem Studium zu einer Karriere als Art Director in der Werbung. Er arbeitete für namhafte Agenturen, wechselnd zwischen Freelancer und fest, wir bleiben im Kontakt. Er arbeitet um zu leben, am Wochenende bin ich häufig bei dem Paar zu Gast. Eine WG direkt über der Galerie Natubs und dem Engel Gabriel im Kiez nah am Olivaer Platz. Unter ihnen wohnten die Architekten, die das Märkische Viertel verbrochen hatten in feinstem Bauhaus-Dekor.

1982 beschließe ich soetwas wie ein Fanzine zu gründen. Es ist die Zeit, als drei Akkorde reichen, um als Band Karriere zu machen und ich denke, mit drei Fingern tippen zu können, müsste reichen, um ein kleines Subkultur-Magazin herauszugeben. Und es reicht tatsächlich… Dieses Lebensgefühl der Punkjahre, der Fotograf Richard Gleim drückte es kürzlich in einem Interview mit dem Satz „Das machen wir jetzt“ aus, dieses Lebensgefühl half mir, mich selbst am Schopf aus meinem selbstgewählten „Tunix-Sumpf“ zu ziehen.

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Mit der Hilfe von einigen Freunden gebe ich den „Assasin“ heraus. Rainer entwirft das Markenzeichen mit dem Fadenkreuz, Logos für Rubriken, er weckt mein Interesse an Typografie und er bringt mir bei, das Layout selbst zu gestalten. Mit Letraset, Fixogum und Skalpell werde ich ziemlich gut. Acht Hefte und drei Musikkassetten wird es geben. Dann stehe ich journalistisch auf eigenen Beinen, schreibe für die Taz und Rock-Publikationen.

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1988 fange ich beim OKB an, dem Lokalsender, der heute ALEX heißt. Erst disponiere ich den Sender, dann leite ich Produktionen und Sendeabwicklung, auch wenn auf meiner Visitenkarte etwas diffus „Beratung und Betreuung“ steht. Rainer hat inzwischen sein Atelier im Hofgarten gegründet, um mit einem kleinen Team feines Design für Hotels der Luxus-Klasse zu gestalten. Bevor ihn auch hier in Rhiemers Hofgarten die Arbeit auffrisst, übernimmt er die Leitung des Ateliers bei einer Netzwerkagentur und nach dem Mauerfall geht Rainer für ein Jahr nach Leipzig um die Messe zu re-launchen und schließlich als freier Kreativer konzipiert er die Gesamtkampagne und den Werbespot für die Einführung von Melitta Kaffee in den polnischen Markt. Deshalb castet er eine bekannte polnische Schauspielerin, Ewa Ziętek.

In Polen kennt sie jeder, seit sie mit 18 Jahren die Braut in Andrzej Wajdas “Hochzeit” spielte. In sie verliebt er sich, wie vom Blitz getroffen, während des Drehs in Hamburg. Sie lebt in Berlin und spielt Theater mit akzentfreiem Deutsch. Die ostdeutschen Schauspieler drängen auf den wiedervereinigten deutschen Markt und da will sie wieder in die Heimat und Rainer entscheidet sich spontan mit nach Warschau zu gehen und findet auch gleich eine Stelle als, Head of Art, bei Ogilvy&Mather eine spannende Aufgabe, wo er aus Dramaturgen Werbetexter und aus Architekten Art Direktoren macht. Einige Jahre sehen wir uns nicht. Das Kunden-Portfolio der amerikanischen Agentur ist international, die Etats sind groß, er kann großes Kino inszenieren für Schokoriegel, Pharmakonzerne und der, dem Spiegelmagazin vergleichbaren Wprost, Mode, Kosmetik, Bier. Nach drei Jahren fasst auch Ewa wieder Fuß und neben Boulevard-Theater spielt sie in der dortigen TV-Spitzensoap, “Goldenes Polen” vergleichbar mit unserer Lindenstraße. Reisen nach Indien und Italien zwischen beruflichen Reisen nach Bulgarien, Rumänien, Prag, Wien und häufig zur Postproduction nach London. Sie heiraten nach acht Jahren “wilder Ehe” 2000, fast eine Jet-Set Hochzeit, mit Strech-Limo und begleitet von der Regenbogen-Presse mit illustren Gästen aus Film, Funk und Fernsehen. Ich kann leider nicht kommen, ich muss arbeiten. Nachdem ich fast 15 Jahre Fernsehen gemacht habe, merke ich das der Job mich immer mehr Kraft kostet. Ich habe kaum noch ein Privatleben, selbst im Urlaub verreise ich nicht, irgendwie ist mir nicht danach. Wahrscheinlich leide ich schon damals an einer nicht diagnostizierten Depression.

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Nur einmal besuche ich Rainer in Polen, er bewohnt eine nette Villa in einer bewachten Siedlung bei Warschau, er braust mit einem noblen Citroën durch die Stadt und zeigt mir seine neue Heimat. Dann herrscht Funkstille bis 2004, ich besuche Rainer in einer kleinen Wohnung im Hansaviertel, er ist arbeitslos. Was war passiert?

Nachdem er drei Geschäftsführerwechsel “überlebt” hat, war jemand scharf auf seinen Job und hat ihn herausgeekelt. Doch Rainer scheint Glück zu haben, findet eine neue Agentur. Die Firma schwimmt im Geld, es gibt Kunst an den Wänden eines edlen Jugendstilhauses und mit der Zeit fallen meinem Freund Merkwürdigkeiten auf. Man will nicht wirklich große Etats gewinnen und nur ein großer Kunde kann nicht soviel Profit abwerfen, ihm ist schleierhaft woher das Geld kommt. Dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, er arbeitet ohne es gemerkt zu haben für den legalen Arm einer Mafia-ähnlichen Organisation. Income gering, Gewinne groß, hier wird Geld gewaschen, bei einer Teilhaberversammlung wird es augenscheinlich. So schnell er kann, kündigt er. Nun wird es prekär für ihn in Warschau, es rächt sich, das er kein Pole ist und auch nicht perfekt polnisch spricht, außerdem ist er mit 42 schon ziemlich alt für eine dem Jugend-Wahn verfallene Branche. Rainer hat eine Depression aus gutem Grund und lässt sich in der Berliner Charite einen kirschgroßen Gallenstein entfernen. In solchen Situationen überdenkt man sein Leben. Der Stress, über den er sich erhaben glaubte, verlangt eine Entschleunigung des Lebens. Er wird in Berlin wieder bei seiner “alten” Agentur stellvertretender Geschäftsführer, nur um sich bei einem der großen Energie-Konzerne von Atomkraftwerken umstellt zu fühlen, während nur noch Praktikanten und Rookies, die nur mit dem Computer umgehen können, als Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Sein Job ist moralisch nicht mehr vertretbar für ihn.

Nur Monate später endet die nur zweijährige Ehe. Die weitergehenden unschönen Details vertraut er nur mir und einem anderen langjährigen Freund an. Seltsam, ein paar Jahre vorher hatte ich nach sieben Jahren Beziehung eine Ehe, die nach nur zweieinhalb Jahren auseinander brach. So unterschiedlich unsere Charaktere und Biografien waren, manches ähnelt sich. So auch der Karriere-Knick, der uns beide ereilt.

Auf eine neue Spitzenposition besteht für Rainer keine Aussicht, auch hier ist er zu alt und zu teuer für potentielle Arbeitgeber. Das Praktikanten-Unwesen hat begonnen, er konkurriert genau wie ich in meinem Job mit Twens, die für nichts oder fast nichts schuften. Und die den Begriff Twen wahrscheinlich nicht kennen, das tun nur „Opas“ wie Rainer und ich. Und sicher, „Twen“ war für uns auch ein legendäres Periodikum, das die Magazin-Gestaltung insgesamt bahnbrechend veränderte.

Rainer bekocht mich im Hansaviertel, er hat 1000 Pläne, wieder ist es so, als ob wir uns nie getrennt hätten. Aber dann habe ich eine längere Phase der Krise und Krankheit. 2003 höre ich beim Sender auf, das wurde mir in der Reha geraten. Ich mache eine Umschulung, habe zwei Jahre eine Fernbeziehung, während ich die Wochenende bei meiner Freundin, einer Psychotherapeutin in Thüringen verbringe, kümmert er sich um meine Katzen. 2005 ist erstmal Schluss für mich. Erst scheitert die Partnerschaft, dann bekomme ich eine Depression und muss auch die Umschulung abbrechen. Ende der Nuller-Jahre entscheide ich mich für die Rente, wieder folgt eine Pause in der Rainer und ich keinen Kontakt haben.

2013 überwinde ich endlich meine Schreibblockade, im Juli bekommt Julia, meine Stieftochter aus der Ehe ein Baby und macht mich zum Quasi-Opa. Auch für sie schreibe ich die Geschichte meiner Vorfahren auf. Durch Facebook treffe ich viele alte Frende wieder, so auch Rainer. Er lebt seit sieben Jahren mit Delilah zusammen, in die er sich verliebte, als er nichts hatte ausser seinem lange unterforderten kritischen Verstand. Am Sterbebett seiner Mutter erlebte er wie das Herz seines Vaters fast hörbar brach. Zugleich war er extrem verliebt, da ihn Delilah mit Gesang und unendlicher Fürsorge durch alle Höhen und Tiefen begleitete. Auch inspirierte sie ihn das Malen und Zeichnen wiederaufzunehmen.

Das temperamentvolle Vollblut-Weib ist siebzehn Jahre jünger als er. Sie hat drei fast erwachsene Kindern und eine Enkelin. Er wird Vatervertreter und Nenn-Opa. Eine Lektion hat ihm das Leben überdeutlich vermittelt, eine schwere Lebenskrise hilft um das Wesen eines Menschen tiefgreifend zu erfahren, dann kann man Liebenswürdigkeit und Charakterstärke erkennen. Er tut und denkt nur noch was er wirklich will, Geld ist nicht das Wichtigste im Leben, öfter mal ein Bild verkaufen, wäre trotzdem schön.

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Nachdem wir uns im Frühjahr 2013 wiedertreffen nehmen wir unseren Dialog wieder auf. Wir diskutieren über Philosophie, Politik, Psychologie und Science-Fiction. Im Sommer ist er begeistert, dass ich eine Neuauflage von Assasin starten will.

Doch es gelingt mir nicht, mich in den punkmäßigen, abgebrühten Assasin-Modus zu versetzen. Na klar über die NSA-Affäre kann man herrlich lästern. Aber das tun Andere ohnehin schon, vielleicht sogar besser. In 30 Jahren ist der Gonzo-Stil des alten Assasin Mainstream geworden und ich habe mich weiterentwickelt. Vielleicht ist der alte flapsige Stil des Assasin ohnehin zu locker für die doch sehr bedrohliche Entwicklung hin zu einem totalitären Staat in den USA und folglich auch bei uns. Natürlich stellt einen die Politik vor viele Fragen. Die geleakten NSA Papiere drängen mir einen bösen Vergleich auf. Stellen sie nicht der Öffentlichkeit die Frage. „Wollt ihr die totale Überwachung?“ Und ist das Desinteresse einer Mehrheit nicht ein klammheimliches „Ja“, oder zumindest „Ist mir egal“. Doch mehr als mich zu informieren und meine Meinung zu sagen, gelingt mir nicht.

Erstaunlicherweise gefällt einigen Leuten, was ich über meine Familie und aus meinem Leben erzähle. Im September starte ich ein Blog, neben den Texten poste ich viele Fotos, auch welche die mein Freund Rainer gemacht hat. Als ich zum ersten Mal einen Gastautor veröffentliche, bitte ich Rainer Illustrationen zu zeichnen und damit beginnt eine neue, fruchtbare Zusammenarbeit mit ihm.

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Lesung im Periplaneta Literaturcafé am 15. April 2016.

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Im Frühjahr 2014 beginne ich eine vierteilige Erzählung über einen Schulfreund, aber es wird ein kleiner Roman daraus, zu jedem der zwölf Kapitel macht Rainer stimmungsvolle Bleistiftzeichnungen. Nun da ich mit „Die Legende von Xanadu“ fast fertig bin, sprechen wir über einen weiteren Roman, den ich gern in West-Berliner Punkszene Anfang der 80er Jahre ansiedeln möchte. Es gibt viel zu schreiben und zu zeichnen: „Das machen wir jetzt“.

Nachtrag, 6.7.2016:

Der zweite Roman ist fast fertig, aber mit dem Ende tue ich mich schwer. Seit über einem halben Jahr trage ich Bedenken,  bastle daran und kann mich nicht entscheiden, wie ich “Helden” im Detail zu Ende erzähle. Jedes lose Ende soll mit seinem Pendant verknüpft werden, Chronologie und Timing müssen stimmen und schließlich gilt es eine Figur zu töten. Vor zwei Wochen war dann Richard bei mir. Seit 1969 bin ich mit ihm befreundet und sein Leben war Vorbild für den Protagonisten des Helden-Roman: Roberto. Richard eröffnete mir er sei krank, sehr krank. Und egal ob es ihm gelingt die schwere Krankheit zu besiegen, es ist ihm ein Herzensbedürfnis “seinen” Roman in den Händen zu halten. Also werde ich mich daransetzen. Rainer arbeitet seit letztem Sommer wieder, muss lange Spätschichten schieben, trotzdem wird er die letzten zwei oder drei Illustrationen zeichnen und das neue Buch gestalten. Und dann haben wir eine Graphic Novel geplant. “Das machen wir!”

-Vorläufiges Ende-

„Berlin-Lost and Found“ Die Foto-Serie hat jetzt 8 Folgen und zeigt über 180 Fotos

Im März 2016 kaufte ich mir eine einfache Digitalkamera. Ich hatte Lust den Orten meiner Kindheit und Jugend nachzuspüren. Es regnete tagelang, aber endlich am 1. April war Fotowetter. Ich streifte fünf Stunden durch die Nebenstraßen des Kudamms und veröffentlichte das Ergebnis als Strecke hier im Blog. http://wp.me/p3UMZB-1uU Am Steinplatz fiel mir das Polaroid von Ilona ein, auf dem sie vor einer Notrufsäule steht. Ich ahmte das alte Foto nach und so entstand mein erster Vorher/Nachher-Fotovergleich. Die Motive dieser “Lost and Founds” werden meist durch Fotos meines Vaters, Bruders, sowie eigene Bilder vorgegeben. Auch Rainer Jacob und andere Amateur- und Profikollegen haben mir Material anvertraut.

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Das Off-Kudamm-Posting war recht erfolgreich und innerhalb von zwei Tagen wurde es 600mal besucht. Als zweites Projekt besuchte ich Schöneberg. Ich knipste das Café Mitropa, das Slumberland oder das Bowiehaus in der Hauptstraße. In kurzer Zeit sind ein rundes halbes Dutzend dieser Zeitreisen erschienen und hier werde ich alle als Serie verlinken. Manchmal haben sich die Orte kaum verändert und nur im Detail zeigen sich die vergangenen Jahre. Meist ist der Lauf der Zeit gut erkennbar, die freien Sichtachsen der Nachkriegszeit sind durch Neubauten und das frische Grün des Frühlings besetzt. Wie grün Berlin heute ist, fällt positiv auf. Aber andere Entwicklungen sind schade, anstelle der romantischen Plumpe am Marheineckeplatz hocken hässliche Glascontainer, oder der ehemals schicke Gloria-Palast wirkt unansehnlich und ist mit Spanholzplatten vernagelt. Ein halbes Jahrhundert hat sich in das Gesicht meiner Mutterstadt eingeschrieben und mit wechselnden Gefühlen lichte ich es ab.

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Heimstraße Marheineckeplatz 1959. (Der Autor fotografiert von seinem Vater.)

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Gloria-Palast (oben 1958).

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(Café Central Foto: Knut Hoffmeister)

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TEIL 1

Im ersten Teil der Serie besuchen wir die Nebenstraßen des Kudamms. Es war meine Heimat in den 70er Jahre, mit meiner Liebe Ilona wohnte ich in einer WG in der Schlüterstraße und arbeitete als DJ im Tolstefanz.

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Ilona am Steinplatz 1975.

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TEIL 2

1977 zog ich nach Friedenau und Schöneberg wurde meine Heimat. 1981 führt der gewaltsame Tod von Klaus-Jürgen Rattay, unter anderen am Winterfeldtplatz, zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen. Ich erinnere mich und fotografiere, was heute noch daran erinnert.

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Straßenschlacht Maaßenstraße (oben), ehemalige Hoffmanfiliale (unten).

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TEIL 3

Im dritten Teil besuchen wir die Gegend rund um das Kranzler-Eck. In der Rankestraße hatte meine Mutter in den 60ern ihren Phono-Klub und ich verbrachte dort meine Nachmittage. 1988 bis 98 wohnte ich am Rankeplatz.

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Rankestraße, ca. 1959.

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Teil 4

Im vierten Teil der Reihe besuche ich den Fehrbelliner Platz, den Preußenpark und den Hohenzollerndamm, wo ich bis zum sechsten Lebensjahr wohnte.

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Blick über den Hohenzollernplatz zur, von den Berlinern, “Kraftwerk Jesu” genannten Kirche.

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Teil 5

Die zweite Wilmersdorf-Strecke zeigt den Volkspark und den expressionistisch angehauchten Schramm-Block, wo ich aufgewachsen bin.

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Teil 6

Nicht nur die Wilmersdorfer kennen die Blissestraße, wo seit über 100 Jahren das Eva-Kino Kintopp auf die Leinwand bringt und seit 80 Jahren die Eisdiele Monheim seine Spezialitäten anbietet. Außerdem besuche ich das Kaufhaus meiner Kindheit, “Karstadt” an der Berliner Straße und forsche was daraus geworden ist.

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Teil 7

In der siebten Folge steht die westliche City im Mittelpunkt. Der Breitscheidplatz gehört wohl zu den Orten, wo sich Berlin am schnellsten verändert und der Fotovergleich macht es deutlich. Aber auch das 1965 gebaute Europa-Center hat sich gewandelt.

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Teil 8

Früher hat man sich feingemacht, heute geht der Berliner in Jeans und T-Shirt zum Sonntagsspaziergang. Wir gehen mit und vergleichen, wie sich Orte und Menschen verändert haben.

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M.K.


Die Serie wird fortgesetzt.

„Zeitsprünge” / Die Splitscreens aus „Lost and Found” / Berlin 1937 bis heute

Die Splitscreen-Collagen entstanden, weil ich Vorschaubilder benötigte, die in einem Rahmen mindestens ein altes und ein neues Foto vom gleichen Motiv zeigten. So konnte ich mein Vorher/Nachher-Konzept für die “Lost and Found”-Serie auf Facebook bewerben, ohne lange Worte machen zu müssen. Ich fand die Bildbearbeitungsseite Fotor und sammelte die Splitscreens in meinem Pinterest-Account. Inzwischen sind ca. 40 Collagen fertig und hier habe die schönsten 22 ausgesucht. Dazu findet Ihr Links für die Fotostrecken, auf denen die Originale gezeigt werden.

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Oben und unten ff: „West-Berlin Revisited“ / Wilmersdorf Teil 1: Preußenpark, Fehrbelliner- und Hohenzollern-Platz: http://wp.me/p3UMZB-1Af

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Oben: Bleibtreustraße, unten: „EVA-Lichtspiele, Monheim, Karstadt “ / Wilmersdorf Teil 3 / Berlin – Lost and Found: http://wp.me/p3UMZB-1Cm

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Oben: Wilmersdorfer Ecke Kanststraße, unten: Nassauische Straße, ehemaliges Flöz bzw. Black Korner.

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Oben: Steinplatz aus: http://wp.me/p3UMZB-1uU, unten: Joachimsthaler Straße aus: http://wp.me/p3UMZB-1zw

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Oben und unten 1, 2 aus: http://wp.me/p3UMZB-1CR

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Unten: aus: http://wp.me/p3UMZB-1Fx

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Oben und unten 1, 2 aus: http://wp.me/p3UMZB-1FQ

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Fotografen: Rainer Jacob, Helmut Kluge, Günter Jacob, Corneia Grosch und Marcus Kluge.

„Juno, Lux & Co“ / Reklame im Stadtbild Berlins 1954 bis heute

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Kranzler-Eck ca. 1960.

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Oben: Esso-Tankstelle Rankestraße, ca. 1957, unten: die Berliner Polizei wirbt um Nachwuchs, ca. 1960.

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Oben: ca. 1957, unten: Illu Reklame für die Berliner Bank, ca. 1965.

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Oben: Fleurop-Filiale, ca. 1958, unten: Kudamm, ca. 1960.

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Oben: Reklame-VW-Bus am Hohenzollernplatz, ca. 1954, unten: Litfaßsäule, ca. 1959.

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Oben: Schloßstraße, ca. 1978, unten: Havel, 1959.

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Oben: Flughafen Tegel, Werbung für die Nationalgalerie, ca. 1978, unten: Gemäldegalerie Dahlem, ca. 1977.

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Schwarz-weiß-Fotos oben + unten 1, 2, 3, 4 und 5: Ende 1970er Jahre.

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Oben: Kantstraße + unten: 1 (Maxim-Gorki-Theater), 2, 3, 4: alle 2016.

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Photos: MM. Jacob père & fils, MM. Kluge père & fils.

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