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Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

Käte Kluge, meine Mutter, war Jahrgang 1922 , sie wurde Zeugin fast des ganzen 20. Jahrhunderts. Das Kriegsende vor 72 Jahren empfand sie als Befreiung. Sie war 22, nun konnte ihr Leben erst wirklich beginnen. Nur war der Mann, den sie liebte, verschwunden. Erst 1948 erfuhr sie, was mit ihm geschehen war.

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

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Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

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Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

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Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

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Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

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Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

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Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

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Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

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Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

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Marcus Kluge

Die ganze Serie findet Ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

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“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

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Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

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Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

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Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

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Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

Bild

Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

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Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

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Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

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Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

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Marcus Kluge

Obwohl wir hier schon etwas weiter in die Zukunft geblickt haben, weil es mir wichtig war die Scheidung als Kriegsfolge nicht zu verschweigen, wird die Reihe fortgesetzt. Die nächste Geschichte handelt von meiner Geburt und meinem Kindermädchen, die zu “My Fair Lady” wurde.

Die ganze Serie findet Ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – “Rund um die Bundesallee” / Lost and Found-Spezial

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An einem trüben Oktobertag war ich in Wilmersdorf, um historische Fotos rund um die Bundesallee nachzufotografieren. Die Idee ergab sich durch ein Bild von Ilona, meiner ersten großen Liebe, die ich 1975 in der Bundesallee Ecke Badensche Straße fotografierte, nachdem wir meine Oma in der Prinzregentenstraße besucht hatten. Die Gegend rund um die Bundesallee ist meine Heimat und dieser Kiez hat in der Geschichte meiner Familie eine entscheidende Rolle gespielt.

1960 wurde ich eingeschult, jeden Morgen musste ich die Bundesallee überqueren. Mein Weg führte mich von der Livländischen Straße zur Grundschule in der Prinzregentenstraße. Ich kam an der Weinhandlung Mitscher & Caspary vorbei, die mysteriöserweise immer geschlossen war. Ich überlegte mir wilde Geschichten, was dort tatsächlich passierte. Es waren Detektiv- oder Spionage-Geschichten, ich war ein Kind mit viel Fantasie. Dann kam ich am nackten Speerwerfer vorbei. Auch darüber musste ich grübeln, Nacktheit war damals verpönt, wieso stand dann, mitten im Park, ein nackter Mann? Die Welt der Erwachsenen war kompliziert. Noch merkwürdiger war, dass in den Büschen rund um den Speerwerfer oft Exhibitionisten um die Aufmerksamkeit von uns Schulkindern buhlten. Meine Eltern hatten mir das Phänomen erklärt, ich hielt die Vorzeiger für arme Würstchen. In der Waghäuslerstraße kauften wir nach Schule Kaugummi und später Zigaretten, die wir heimlich rauchten. Weil meine Mutter arbeitete, verbrachte ich den Nachmittag bei Oma und lief dann über die Bundesallee heim. Mit anderen Kindern spielte ich in der Ruine der Schwedischen Botschaft. Es lagen Papiere mit Hakenkreuzen herum und wir dachten uns “Kriegsspiele” aus. Das Gebäude war baufällig, wahrscheinlich hatten wir Glück, dass uns nichts passierte. Manchmal holte ich meine Mutter an der Haltestelle ab, auf der Bundesallee fuhren noch Busse, die U 9 wurde hier erst 1971 eröffnet.

Es gibt schönere Straßen in Berlin, aber die Bundesallee ist mir besonders ans Herz gewachsen, wegen ihrer sind wir Wilmersdorfer geworden und das kam so. Nach der Kapitulation können meine Großmutter und meine Mutter den Bunker an der Schumannstraße verlassen. Was sie draußen erwartet hat apokalyptisches Ausmaß. Überall lodern noch Brände, der Rauch beißt in den Augen. Es riecht nach verbranntem Fleisch, nicht nur Leichen liegen auf den Straßen, auch viele Pferdekadaver sind der Verwesung preisgegeben. An Laternenmasten hängen Tote, die Schilder um den Hals haben. Darauf stehen Sätze wie: ” Ich war zu feige mein Vaterland zu verteidigen”, oder ähnliches. Auf dem Weg in die Perleberger Straße sehen sie mehr Ruinen als bewohnbare Häuser. Ihre Wohnung hat einen Bombenschaden, sie werden sich eine andere behausung suchen müssen. Meine Familie befand das Kriegsende als Befreiung, aber meine Großmutter hatte Angst vor der Roten Armee. Die Nazi-Propaganda hatte funktioniert, doch die Gefahr war real, es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Moabit war wie ganz Berlin in diesen Tagen in der Hand der Roten Armee, die anderen Alliierten würden erst später Berlin erreichen, wann, wusste niemand genau. In der Nacht zum 10. Mai 1945 drangen russische Soldaten in das Vorderhaus ein und meine Oma schwante Übles, die Geräusche, die ins Hinterhaus drangen, waren beängstigend, meine Mutter war 22, hübsch und blond. Und Oma überlegte sich einem Trick, wie sie die trunkenen Sieger abhalten konnte, meine Mutter zu vergewaltigen. Käte bekam rote Punkte aufgemalt und Ofenasche ließ ihre blonden Locken ergrauen. Glücklicherweise wurde die Verkleidung nicht getestet, Militärpolizei griff vorher ein. Aber Großmutter beschloss umzuziehen.

Als meine Großmutter Elisabeth wenige Tage nach Ende des Krieges, im Mai 1945, beschloss nach Wilmersdorf zu ziehen, kannte sie die Bundesallee, die damals natürlich noch Kaiserallee hieß, bereits seit 35 Jahren. 1910, sie war 15, musste sie allein in die große Stadt Berlin fahren, um hier als Hausmädchen “in Stellung” zu gehen. Sie wurde schlecht behandelt und hatte schreckliches Heimweh. Jeden zweiten Sonntag hatte sie frei. Dann lief sie zu Fuß von Steglitz, über die Bundesallee, zum Bahnhof Zoo, wo sie sich bei Aschinger eine Erbsensuppe gönnte. Auf dem Weg bewunderte sie die schönen Bauten an der Kaiserallee, Bauten wie die Schwedische Botschaft oder das Joachimsthalsche Gymnasium, wo ich 75 Jahre später, zwei Jahre arbeiten sollte. Nun, nach zwei Weltkriegen, wollte sie selbst hier wohnen. Sie fand, sie hatte es sich verdient. Außerdem würde Wilmersdorf “amerikanisch” werden, während Moabit in russischer Hand bleiben sollte. Es muss um den 12. Mai herum gewesen sein, als Elisabeth und Käte mit einem Handwagen durch den Tiergarten und die Kaiserallee zogen, ohne ein konkretes Ziel zu haben. Die erste Nacht verbringen sie unter freiem Himmel, in einem der Regenhäuschen im Volkspark Wilmersdorf. Am nächsten Morgen hören sie sich um. Neben der Ruine der Schwedischen Botschaft ist eine Hinterhauswohnung frei. Sie brechen ein und besetzen die Wohnung. Später behaupten sie, der Mietvertrag wäre verbrannt. Es sind wilde Zeiten und sie haben Glück, man glaubt ihnen. Omas Mann Werner kommt aus dem Krieg und findet sie, aber erst 1948 kommt mein Vater aus russischer Gefangenschaft. Jetzt ist die Familie wieder vereint und meine Eltern heiraten und ziehen in den Hohenzollerndamm.

Anfang der 1960er Jahre wird Oma Elisabeth von einem Auto angefahren. Ihr Wahlspruch zum Straßenverkehr: “Der sieht mich doch!” hat versagt. Sie zieht mit Werner in eine Neubauwohnung in der Prinzregentenstraße. Werner stirbt früh und danach siedelt Omas Schwester Lotte aus Ost-Berlin um und zieht in die Prinzregentenstraße. Nach Lottes Tod wird Oma dement, wir versuchen sie allein zu versorgen, doch nach einem halben Jahr müssen wir sie in ein Pflegeheim geben. Die Zwei-Zimmerwohnung in der Prinzregentenstraße wird eine Zeitlang zum Heim für meine spätere Frau, meine Stieftochter und mich, bevor wir heiraten und nach Schöneberg ziehen. Meine Mutter wohnte bis zu ihrem Tod 2005 am Volkspark Wilmersdorf.

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Oben: Oma, Opa und meine Mutter Ende 1920er Jahre. Unten: Oma um 1940.

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img_20131009_0001 Meine schöne, blonde Mutter Anfang der 1940er Jahre. Unten: Mein Vater mit meinem Bruder in der Bundesallee um 1952.

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img_20150204_0001 Mit Oma ca. 1975 in der Prinzregentenstraße.

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In der Wilhelmsaue, um 1961 und heute.

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Auf dem Weg zum Sonntagskaffee bei Oma in der Prinzregentenstraße (ca. 1963).

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Oben: Die Ruine der Schwedischen Botschaft auf einem Foto von H. Noack aus den frühen 1960er Jahren. Unten der prosaische Neubau, der heute an der Stelle steht.

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Die Kreuzung Berliner Straße Bundesallee um 1960 und heute.

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1960, bei meiner Einschulung gibt es den “Volksparksteg” (unten) noch nicht. Ich soll eigentlich bis zur Ampel laufen, aber meist renne ich verbotenerweise über die Bundesallee.

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Auf dem Volksparksteg etwa 1975 und heute.

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Blick vom Steg in Richtung Norden.

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Die geheimnisvolle Weinhandlung 1960 und unten zeigt sich die Ecke heute, weniger mysteriös, aber ebenso verschlossen.

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Am Regenhäuschen, mit Nazi-Grafitto um 1975 und heute.

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Oben: Um 1940 beginnt die Badensche Straße noch in Höhe der Nassauischen Straße.

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Oma, Tante Lotte, Cousine (v.r.) mit dem kleinen Johannes im Hof der Prinzregentenstraße um 1966.

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Um 1975, mein Zimmer in der elterlichen Wohnung, kurz bevor ich ausgezogen bin. Unten: Im Volkspark mit Freunden um 1989.

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M.K.

 


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Familienportrait „Wir waren dabei“ / Das Nazi-Regime im Spiegel von Zeitungsausschnitten

Meine Großtante Charlotte heiratete Ende der 1920er Jahre den Polizeioffizier Paul Springer. Für die junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen war er eine gute Partie, wie man sagte. Paul war konservativ, kein ausgesprochener Nazi. Aber er hielt die Hitler-Partei für das richtige Gegengift gegen die politisch „instabile“ Weimarer Republik und die Massenarbeitslosigkeit. Wie viele andere erlag er dem furchtbaren Irrtum, Rechtsbruch, Antisemitismus und Gesinnungsterror seien „Kinderkrankheiten“ auf dem Weg zu einem neuen, erstarkten Deutschland. Letztlich bezahlt er für seinen Irrtum mit dem Leben, am 1. Mai 1946 legt er sich vor die “Heidekrautbahn” und bringt sich um.

Foto oben: Mussolini besucht Berlin und wird Veteranen begrüßt.

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Seine Frau und er glaubten Zeugen einer „großen Zeit“ zu sein. Lotte sammelte Zeitungsausschnitte und gemeinsam klebten sie sie in ein Album, dem sie den stolzen Titel „Wir waren dabei“ gaben. Aufmärsche, Paraden und Staatsbesuche „Unter den Linden“ sind dokumentiert, denn Paul war für die polizeiliche Sicherung dieser Veranstaltungen zuständig. Andere Themen sind die Polizei, Kriminalfälle, die rege Bautätigkeit dieser Jahre und Feierlichkeiten aller Art, wie Weihnachten, denen die Nazis ebenfalls ihren Stempel aufdrücken. Die Sammlung beginnt 1935 und endet abrupt 1938, kurz vor den Novemberpogromen, was kein Zufall ist. Ob es damals die erste Konfrontation zwischen Paul und seinen Vorgesetzten war, weiß ich nicht, aber diese hatte Folgen.

Als am 9. November gegen 22Uhr jüdische Geschäfte angegriffen wurden, stellte Paul uniformierte Polizisten als Schutz vor solche Läden in der Friedrichstraße. Um Mitternacht ging auf dem Revier ein Telex der Gestapo ein, nachdem die Polizei jüdische Einrichtungen nicht mehr schützen sollte, bzw. nur Plünderungen verhindern sollte. Paul Springer soll sich noch eine Stunde unsichtbar gemacht haben, doch gegen eins gab er den Befehl dann weiter.
Damit war seine Karriere im Dritten Reich beendet, der Polizeidienst machte ihm auch kaum noch Spaß. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen, während seine Nazi-Kollegen für unabkömmlich erklärt wurden.

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Schon zwei Jahre vor Kriegsbeginn bereitet sich Berlin auf den Ernstfall vor. Eine ganze Woche übt man Luftangriff, Verdunkelung und Giftgasbedrohung.

Tante Lotte und er überlebten den Krieg und er erhielt eine zweite Chance sich im Polizeidienst zu bewähren, weil er relativ unbelastet war. Schon im Mai 1945 wurde er von den Alliierten als Fachkraft auf dem Revier 2 angestellt. Kurze Zeit danach konnte er als Reviervorsteher den Wiederaufbau des Reviers 12 leiten.

Am 16. März 1946 sicherte Paul mit Kollegen eine Fliegerbombe ab, als es zur Explosion kam. Er wurde schwer am Kopf verletzt, Prellungen, Schnitt- und Platzwunden wurden im Krankenhaus versorgt. Trotz einer Gehirnerschütterung wurde er aus der nach dem Unglück überfüllten Klinik entlassen.
Nach einem Tag ging er wieder arbeiten, gegen ärztlichen und freundschaftlichen Rat glaubte er, preußische Disziplin üben zu müssen. Ständige Kopfschmerzen, Schwindel und eine leichte Verwirrtheit, die er gut überspielte, begleiteten ihn. Am 30. April war seine Krankheit so offensichtlich, dass er sich arbeitsunfähig schreiben lies.
Paul hat sich am 1. Mai 1946 umgebracht, indem er sich vor die Heidekrautbahn legte. Lotte hat nie erfahren, ob sich Paul wegen der Kopfverletzung oder aufgrund von Gewissensbissen infolge seiner Mitwirkung an Naziverbrechen suizidiert hat.
Das „Wir waren dabei-Album“ hat das Kriegsende überstanden, weil es rechtzeitig in Bad Liebenwerda versteckt wurde. Andere Fotoalben und Abzüge auf denen Hakenkreuze oder Nazigrößen zu sehen waren, hat man verbrannt, bevor die Rote Armee Berlin einnahm. Man musste damit rechnen, umgebracht zu werden, wenn „Nazimaterial“ bei einem gefunden wurde. Tante Lotte zog nach Pauls Tod nach Pankow, wo wir sie regelmäßig besuchten, bis der Mauerbau unsere Familie trennte. Aber als Rentnerin konnte Lotte 1965 nach West-Berlin „ausreisen“. Sie wohnte dann mit meiner Oma zusammen in der Prinzregentenstraße. Bevor sie 1980 starb, hat sie mir das Album geschenkt.

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Die sogenannte Ost-West-Achse durch den Tiergarten wird gebaut.

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So sehen Humor und Frohsinn im Nazireich aus.

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Das Programm des gleichgeschalteten Rundfunks auf der Rückseite eines Ausschnitts.

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Blumenkorso zum 700. Geburtstag Berlins. Dominiert wird das großformatig abgedruckte Foto von Hakenkreuzfahnen, der Korso wirkt bescheiden daneben.

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Am Stadtschloss wird gebaut.

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Auch eine Weihnachtsbescherung von Droschkenkutschern ist Mittel der Propaganda, sie wird von der sogenannten “N.S.Volkswohlfahrt” durchgeführt.

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Im April 1937 feiert das Regime die Annexion Österreichs mit einer „Schweigeminute“ und dem „Hitler-Gruß“. Das Foto zeigt das Kranzler-Eck in der Friedrichstraße.

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Auch der Propagandaminister und seine Familie sind in Weihnachtstsimmung.

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US-Navy Matrosen beehren die “Reichshauptstadt”.

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Frontalunterricht und Hightech im Polizeirevier, Pauls Arbeitsplatz.

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Parade im April 1937.

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Opernball 1937. Das Foto stammt von Heinrich Hoffmann, der als “Hitler-Fotograf” bekannt wurde.
http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Hoffmann_%28Fotograf%29

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1937 wurde der schöne Rundbau des Zirkus Busch wegen Straßenbegradigung der Burgstraße und Erweiterung des Blocks „Börse“ für den Bau von Reichszentralen verschiedener Wirtschaftsverbände abgerissen. Paula Busch hatte vergeblich versucht, durch Verhandlungen mit der Berliner Stadtverwaltung und Reichsstellen den Abriss zu verhindern.

Redaktion: Marcus Kluge

Die Dokumentation wird fortgesetzt.

Familienportrait – “Ariernachweis” / Die Bürokratie des Rassismus / 1936

Der Zufall wollte es, dass ich mich am letzten Wahlsonntag, dem 13. März, bei der Arbeit am “Familienportrait-Buch”, mit der Rassismus-Bürokratie des Dritten Reichs auseinandersetzen musste. Die rechtsextreme AfD kam mit zweistelligen Ergebnissen in drei Bundesländern in die Parlamente. Was eine rechtsextreme Partei tun kann, wenn sie an die Macht kommt, zeigte mir ein sogenannter “Ariernachweis”, den ich bei den Papieren meines Vaters fand.

1936 hatte mein Vater einen Nachweis erbringen müssen, dass er “arisch” war, sonst hätte er kein Abitur machen können. So wollte es die NSDAP, die schon im April 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung, Rassismus und Ausgrenzung zum Gesetz erhob. Erst mussten Beamte und öffentlich Bedienstete diesen Nachweis führen, bald danach wurde er für viele weitere Berufe Pflicht. Nach den “Nürnberger Gesetzen” wurde der Nachweis 1935 für alle Bürger obligatorisch. Und schließlich wurden sogenannte “Nichtarier” auf Basis dieses Dokuments in “Konzentrationslager” verschleppt und ermordet. Dabei war das Verfahren äußerst widersprüchlich. Es gab keine objektivierbaren Merkmale für den Rassenwahn der Nazis, die Physische Anthropologie, die sich mit Rassemerkmalen beschäftigt, kennt keine “arische Rasse”. Also war letztlich die Religionszugehörigkeit entscheidend. Wenn der Urgroßvater jüdischer Herkunft war, aber zum Christentum konvertierte, hatte man Glück, man galt als Arier. Doch wenn der Ur-Opa stattdessen dem Christentum abgeschworen und den jüdischen Glauben angenommen hatte, war man “unreinen Blutes”, mit schlimmen Konsequenzen.

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Den Antrags-Bogen hat ein deutscher Bürokrat sehr effizient gestaltet. Es gibt drei Abschnitte und alles findet auf einem DIN A4-Blatt Platz. Zunächst ist ein Lebenslauf gefordert, handschriftlich und äußerst ausführlich. Manche Details sind verwunderlich, so wird nach “Flugsport” gefragt. Es wird bereits an den Krieg und die Verwendung der “Arier” in ihm gedacht. Piloten werden erfasst und die Luftwaffe wird sie später zu Kampfpiloten machen. So widmet sich der zweite Abschnitt der Verwendungsfähigkeit der Antragsteller beim Militär. Ob man sich freiwillig gemeldet hat und ob man gemustert wurde, ist anzugeben.

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Auf der Rückseite folgt der eigentliche “Nachweis”. Da für alle Angaben beglaubigte Dokumente vorzulegen waren, musste mein Vater wie andere auch, sieben Geburts- oder Taufurkunden, sowie drei Heiratsurkunden besorgen. Er war der erste Abiturient in der Familie, seine Vorfahren waren Arbeiter, Lohnknechte und Mägde, allesamt protestantisch.  Eine Diskriminierung als “Nichtarier” musste er nicht befürchten.

Neben der diskriminierenden Wirkung, nach der weite Teile des Volks stigmatisiert wurden, gab es auch eine qualifizierende Wirkung. Menschen, die noch nie etwas im Leben erreicht hatten, auf das sie stolz sein konnten, fühlten sich nun als Mitglieder einer “Herrenrasse”. Wegen des Interesses an Stammbäumen wuchs die Zahl der “Sippenforscher” enorm an. Eigens für Ahnenangelegenheiten wurde die ‘Reichsstelle für Sippenforschung’ (ab 1940 ‘Reichssippenamt’) gegründet, welche die Abstammungsnachweise auf Grund der Urkunden ausstellte.

Mein Vater bestand 1937 sein Abi mit 1,0. Er begann zu studieren, doch schon 1938 wurde sein Jahrgang gemustert. Er war tauglich und rechnete sich aus, nach zweieinhalb Jahren wieder ins Zivilleben zurückzukehren, und sein Studium wieder aufzunehmen. Der Wehrdienst war eben auf zwei Jahre verlängert worden und ein halbes Jahr Arbeitsdienst kam hinzu. Als Einser-Abiturient hätte er Offizier werden können, aber er entschied sich dagegen. Helmut war zu diesem Zeitpunkt Buddhist, was er natürlich geheim hielt und das Töten, hoffte er, auf diese Weise vermeiden zu können. Seine Überlegung war vielleicht etwas naiv, aber im Grunde nachvollziehbar. Als einfacher Soldat glaubte er, daneben schießen zu können, doch als Offizier hätte er das Töten befehlen müssen.

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Ob ihm bewusst war, dass sein Wehrdienst länger werden würde, weiß ich nicht. Er wird sich darüber klar gewesen sein, dass die Nazis auf einen Krieg zusteuerten. Jedem halbwegs realistisch denkenden Deutschen musste dieser Gedanke gekommen sein. Hitler hatte sein Vorhaben schon in “Mein Kampf” niedergeschrieben. Außerdem war bei aller deutschen “Friedensrethorik” im Vorfeld des 2. Weltkriegs, die gigantische Aufrüstung unübersehbar. Wahrscheinlich hatte mein Vater gehofft, ein Krieg würde nicht lange dauern und er würde ihn überleben. Das Letztere gelang ihm, er überlebte den Krieg. 35% der Männer seines Jahrgangs kamen nicht aus Krieg und Gefangenschaft zurück. Was dem Regime das Leben eines Soldaten wert war, illustriert ein Hitler-Zitat, das perfiderweise auf den Feldpostkarten abgedruckt war: “Es ist gänzlich unwichtig, ob wir leben, aber notwendig ist, daß unser Volk lebt, daß Deutschland lebt.”

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Sein Wehrdienst sollte länger dauern. Ganze zehn Jahre war er Soldat gewesen, als er im Sommer 1948, abgemagert und traumatisiert, vor der Tür meiner Mutter stand, die ihn für tot gehalten hatte. Schon der Krieg war ihm als eine Art Hölle erschienen, doch die danach folgenden drei Jahre Kriegsgefangenschaft in Sibirien, waren wohl schlimmer. Wie die meisten Männer redete er nie über seine Erfahrungen. Er starb mit Anfang 60 an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft.

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Anfang der 1950er Jahre

M.K.

Familienportrait Teil 25 – “Sag mir wo die Blumen sind” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / 3. und letztes Kapitel / 1961- heute

Mein Bruder, meine Cousinen und ich, 1961 im Grunewald

1961 wird alles anders.

In Hamburg nimmt eine unbekannte Band unter dem Namen “The Beat Brothers” mit Tony Sheridan “My Bonnie” auf. Die Aufnahme wird in Deutschland 100 000mal verkauft. Die Musiker der Gruppe lassen sich ihre Haare zu Moptops schneiden, “Pilzköpfe” sagt man in Deutschland, ihr Name ist nun “The Beatles”. Sie werden nicht nur Mode und Musik nachhaltig beeinflussen, sie werden den ganzen Erdball verändern. Der sowjetische Kosmonaut Yuri Gagarin fliegt als erster Mensch in den Weltraum. Barbie bekommt einen Freund namens Ken, in Berlin wird eine Mauer errichtet, die jeden Kontakt zwischen und Ost und West unterbindet und ich bringe mir englisch bei. Ich will die Musik im AFN besser verstehen und die amerikanischen Comics, wie Batman oder Spider-Man lesen können, die ich mir in den Hefte-Tausch-Läden besorge. 1961 ist auch das Jahr in dem die venezolanischen Kluges nach West-Berlin kommen.

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Wolfgang und Notburga in Tokyo (vorn, Mitte, 1969)

Erst einmal wohnen sie bei uns. Mein Bruder und ich kampieren mit den beiden Mädchen aus Venezuela im großen Wintergartenzimmer mit Blick auf den Volkspark. Ich bin mit sieben Jahren der Kleinste, Ingrid ist neun, die kleine Notburga ist elf, Thomas ist 13. Wir verständigen uns auf deutsch, mit spanischen und englischen Ausdrücken. Als wir im Sommer ins Strandbad Wannsee gehen, will Ingrid nicht ins Wasser. Sie hat Angst vor Haifischen. Abends quatschen wir lange, ich hatte mir ja immer Schwestern gewünscht. Leider dauert der Ausnahmezustand nicht lange.

Image Wolfgang

Wolfgang wird meine erste männliche Stil-Ikone. Er trägt amerikanische Oberhemden, die Zigaretten stets in der Brusttasche, schicke Krawatten aus Caracas, seine Haare sind mit Pomade locker gelegt. Obwohl er viel arbeitet und sicher auch Stess hat, strahlt er Ruhe aus und gibt jedem Gesprächspartner das Gefühl, ganz für ihn da zu sein. Die große Notburga sieht im piefigen West-Berlin wie ein Filmstar aus. Selbst im Kopftuch scheint sie den Seiten eines Modemagazins entsprungen zu sein.

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Wolfgang arbeitet als Manager für die Charterfluglinie “Saturn Airways” im Flughafen Tempelhof. Nachmittags besuche ich ihn öfter dort, er nimmt sich für mich Zeit, zeigt mir das imposante Gebäude, ich darf sogar aufs Rollfeld mit ihm. Anschließend bekomme ich Coco-Cola, echte amerikanische, ich bilde mir ein, dass sie viel besser schmeckt als deutsche.

Die amerikanischen Kluges ziehen in die Nähe vom Flughafen. Alle 20 Minuten donnert ein Clipper im Tiefflug über das Haus. Dann mieten sie einen Bungalow in Lichtenrade, er wirkt sehr amerikanisch, innen und außen. Sie behalten aber auch die ganze Zeit eine Wohnung in Österreich, in Ach an der Salzach, wo Notburgas Vater nach dem Krieg praktizierte. Viele Einwohner können sich an ihren ehemaligen Arzt, Dr. Baumgartner erinnern. Für die große Notburga wird es ein Stück Heimat gewesen sein, dort auszuspannen. Auch meine Familie macht hier Urlaub, im Sommer 1963. Im Dorfkino sehen wir Dr. No, den ersten Bond-Film. Man muss nur über eine Brücke gehen, dann ist man in Burghausen, Deutschland. In Österreich wird auch der Sohn von Wolfgang und Notburga, Johannes, geboren, am 27.2.1964. Die Eltern legen wert darauf, dass er nicht in Deutschland zur Welt kommt, nie soll er eine deutsche Uniform tragen.

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Die große Notburga mit dem kleinen Johannes

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Marcus 1961, Volkspark Wilmersdorf

Als meine Mutter krank wird und in eine Klinik muss, wohne ich eine Zeitlang in der Villa in Lichtenrade. Die große Notburga kümmert sich sehr freundlich um mich. Ich habe angefangen mir das Kochen beizubringen, Notburga unterstützt mich und zeigt mir exotische Gerichte, die sie auf den vielen Reisen rund um den Globus mit Wolfgang kennen gelernt hat. Suki-Yaki wird mein neues Leibgericht. Wolfgang zeigt mir seine technischen Geräte, wie das Uher-Report-Tonbandgerät und seine Filmkamera. Das Haus ist voll mit süd- und nord-amerikanischer Kultur, Platten, Büchern, Bildern und Kunstgegenständen, ich fühle mich sehr wohl. Die größte Entdeckung ist jedoch der kleine Fernseher in der Küche. Dort kann ich das amerikanische Soldatenprogramm sehen, das nicht nur in Dahlem, sondern auch am Flughafen Tempelhof, einen kleinen Sender betreibt. Zu einer Zeit, als das deutsche Fernsehen um 17 Uhr beginnt und um 23.30 Uhr endet und in West und Ost gleichermaßen langweilig ist, wird das für mich zu einer Offenbarung. Serien wie Dragnet, Addams Family oder The Outer Limits begeistern mich. Jeden Abend läuft die Tonight Show mit Johnny Carson, der Prototyp der Late Night Show. In Deutschland wird es 30 Jahre dauern, bis das Format adaptiert wird. Carson ist großartig und ich lerne viel über US-Pop-Kultur. Jeden Sonnabend kommt ein Gruselfilm der B-Klasse, meist aus den 50er Jahren. “The cheaper they are the better they are!”, wie es Frank Zappa ausdrücken wird.

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Johannes und die kleine Notburga

In Berlin ist für Wolfgang das obere Ende der Karriere-Leiter erreicht, die Familie zieht in den Taunus, nahe dem Rhein-Main-Flughafen. Hier will Wolfgang seine Vison verwirklichen. Durch 20 Jahre Berufserfahrung im Fluglinien-Geschäft und seine unzähligen Reisen, ist er zum Experten geworden. Jetzt will er seine Expertise in einem weltweiten Linienflug- und Straßenatlas einbringen. Ein gigantisches Projekt, das er fast allein auf die Beine stellt, selbst Illustrationen wie die Concorde zeichnet er eigenhändig. Die Flug- und Straßenkarten ergänzt ein umfangreicher Informationsteil, ein mehrsprachiges Wörterbuch ist auch dabei. Leider hat das Produkt keinen durchschlagenden Erfolg. Vielleicht war er mit seiner Idee auch zu früh, 15 oder 20 Jahre später, in einer globalisierten Welt, hätte er wohl mehr Erfolg mit seinem wegweisenden Projekt gehabt.

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Wolfgangs Atlas

Am 2. Juli 1971 sehe ich ihn zum letzten Mal. Auf unserem Weg nach Paris, besuchen wir ihn und die große Notburga, in der Nähe von Frankfurt. Es ist Nachmittag, er hatte sich hingelegt, Notburga will ihn eigentlich schlafen lassen, aber er besteht darauf, uns Hallo zu sagen. Als er im Morgenmantel die Treppe herabkommt, bin ich bestürzt, er sieht alt aus und müde, sehr müde. Ich habe eine Ahnung, ich werde ihn nicht wiedersehen. Nach einer Stunde verabschieden wir uns, wir noch eine lange Strecke vor uns.

In der folgenden Nacht bin ich zum ersten Mal in Paris. Während ich um 3 Uhr morgens am Boulevard St-Michel sitze, stirbt ein paar Ecken weiter Jim Morrison in seiner Badewanne.

https://marcuskluge.wordpress.com/2013/12/09/familienportrait-marathon-tag-15-paris-zum-ersten-1971/

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Notburga, Johannes, Wolfgang, Mitte der 70er Jahre

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Johannes, Marcus, 1977 in Berlin

Nach dem Atlas-Projekt zieht Wolfgangs Familie zurück nach Venezuela. Nur die kleine Notburga ist inzwischen in Deutschland verheiratet und hat einen Sohn, sie bleibt in Europa. In Amerika kann Wolfgang an seine beruflichen Erfolge nicht mehr anknüpfen. In Venezuela ist geschäftlicher Erfolg häufig mit Korruption und Vetternwirtschaft verbunden, aber das liegt dem geradlinigen Wolfgang nicht. Die große Notburga geht wieder arbeiten. Wolfgang geht es gesundheitlich nicht gut. Es rächt sich, dass er sich nie geschont hat und auch nie Sport getrieben hat. Er muss ins Krankenhaus, nimmt es wie Urlaub, scherzt es ginge ihm großartig, nach der Erholung im Spital. Niemand rechnet mit der Katastrophe, die sich nun ereignet. Am 24. April 1979 stirbt Wolfgang Kluge an einem Herzinfarkt, keine 50 Jahre Lebenszeit waren ihm vergönnt. Ingrid erkennt die Warnsignale bei ihrem Vater und fährt ihn nach Caracas in Krankenhaus, doch schon auf der Panamericana, mitten im Verkehr, verlassen ihn die Lebensgeister für immer. Er stirbt in ihren Armen.

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Notburga, die den eigenen Schmerz tragen muss, macht sich große Sorgen um ihre Kinder, besonders Johannes. Wolfgang und er standen sich besonders nah. “Wie zwei verschworene Lausbuben”, seinen sie gewesen, schreibt die Witwe meiner Mutter. Johannes ist 14 einhalb, er frisst den Schmerz in sich hinein, auch Notburga verschließt sich. Sechs Monate später schreibt Notburga meiner Mutter, dass sie wieder zueinander gefunden haben. Aber Johannes hat unter dem Druck der Trauer seine Kindheit aufgeben müssen. Er ist nun vollends erwachsen. Schon länger hatte er den Plan auf die Luftwaffenakademie zu gehen, er will fliegen. Dadurch würde sein Studium nicht die Eltern belasten. Notburga hat Vorbehalte, “Du weißt wie ich den Militarismus hasse.”, schreibt sie. Natürlich ist sie trotzdem einverstanden. Der nunmehr 15jährige will auch in den Schulferien arbeiten gehen, um für die kleine Familie beizutragen, das redet sie ihm aus. Für die Luftwaffe ist er zu groß gewachsen und die Brille stört. Er geht zum Heer, sein Kompaniechef ist ein ehrgeiziger Offizier namens Hugo Chavez. Johannes hält ihn damals schon für ziemlich durchgeknallt. 1992 versucht sich Chavez durch das Militär an die Macht zu putschen. Der Umsturz misslingt, nach zwei Jahren wird er begnadigt. 1998 wird er Präsident, er ist vor allem im Ausland umstritten. 2013 stirbt er an Krebs, noch heute besteht die Regierung aus seinen Weggefährten. Zu denen hätte auch Johannes gehören können, doch dieser erkennt früh den Karrieristen, der mit blankem Populismus Anhänger um sich schart, die einen Personenkult betreiben, der Chavez’ Narzissmus schmeichelt.

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Johannes beim Militär

Es ist merkwürdig und traurig, dass offenbar alle Kluge-Männer zu früh auf ihren Vater verzichten mussten. Bei meinem Vater war das so, bei Wolfgang, bei Johannes und auch bei mir. Nach der Scheidung meiner Eltern, da war ich zwölf, hat sich mein Vater nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet, er hat mir nie geschrieben oder sich sonst um mich gekümmert. Ein paar Mal habe ich ihn besucht, die Initiative ging dabei von mir aus. Aber auch bei diesen Treffen hat er nie gefragt, wie es mir ginge, was ich machte oder wie meine Pläne wären. Sicher sind die Einzelschicksale unterschiedlich und können kaum verglichen werden, aber das Fehlen einer Vaterfigur fühlt sich sehr ähnlich an und es ist ein elementarer Mangel, nicht nur in meiner Familie.

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Notburga bei mir in Berlin, Anfang der 90er

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In Los Castores. Anfang der 90er Jahre

1993. Vier Wochen bleiben wir in Venezuela. Wir wohnen bei Notburga und Johannes in Los Castores, einer bewachten Wohnanlage, wo auch andere Familienmitglieder zu Hause sind. Auch Ingrid, die in der Nähe wohnt, treffe ich hier wieder. Neben Merida in den Anden, lernen wir Prado Largo kennen, dort hat die Familie seit langem Urlaub gemacht. Wir wohnen bei Notburgas Schwester Titti und ihrem Mann Diethard. Klimamäßig komme ich mir vor wie im Dschungel. An die 40° bei hoher Luftfeutigkeit sind nicht so mein Wohlfühlwetter. Danach verbringen wir noch eine Woche auf der Karibikinsel Margarita, mit Seebrise und Baden im Atlantik fühle ich mich dort besser aufgehoben. Wir wohnen in einer Ferienwohnung, die der kleinen Notburga und ihrem Mann gehört.

Um 22 Uhr am 3. Dezember 1993 soll unser Rückflug vom Maiquetia-Flughafen abheben. Nach einer tränenreichen Verabschiedung stellen wir fest, dass unser Flug erhebliche Verspätung hat. Erst morgens um 1.30h können wir die Lufthansa-Maschine besteigen. Wir erfahren, dass die Witwe des Drogenbosses Pablo Escobar mit dem gleichen Clipper aus Frankfurt zurückgeflogen ist, nachdem sie vergeblich in Deutschland um Asyl gebeten hat. Escobar wurde am Vortag von einem Elite-Kommando in Medellin erschossen. Deutsche Geheimdienstler haben die Maschine und das Gepäck stundenlang durchgecheckt, weil sie einen Racheanschlag befüchteten. An Bord zeigt sich die Lufthansa großzügig mit den alkoholischen Getränken, meine 70jährige Mutter, die eigentlich Flugangst hat, schläft bald seelig. Ich kann nicht schlafen. Ich denke über Wolfgang und Notburga nach, über den Krieg und seine Folgen, die für Generationen nachwirken. Ich denke an die Verletzungen, die Schuld, die Vertreibung und das Schweigen, dass in so vielen Familien herrscht und das auch die Kinder stumm macht. Ein Lied kommt mir in den Sinn, ich habe es seit der Kindheit nicht mehr gehört. Notburga hat es mir damals vorgespielt. Pete Seeger hat es geschrieben, Marlene Dietrich hat es in Deutschland bekannt gemacht.

Sag mir wo die Blumen sind
Wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind
Was ist gescheh’n
Sag mir wo die Blumen sind
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehn
Wann wird man je verstehn

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Die große Notburga stirbt am 20. Dezember 1995 an einem Lungenemphysem und einer Lungenentzündung. Meine Mutter erliegt am 15. Mai 2005 einem Krebs, der ihre Lunge befallen hatte. Beide haben viel und gern geraucht.

Die “kleine” Notburga lebt heute mit ihrem Mann im Taunus, nachdem sie fast ein Leben lang für Fluglinien wie die venezolanische Viasa gearbeitet hat. Ingrid wohnt in der Nähe von Caracas, genau wie ihr Bruder, Johannes W. Kluge, der am 17. Oktober 2009 geheiratet hat.

Ich danke Johannes für seine Unterstützung, seine Hinweise und sein Gedächtnis, ohne ihn hätte ich diese Geschichte nicht aufschreiben können.

Marcus Kluge

Der erste Teil:

Familienportrait Teil 23 – “Hitlerjunge, Weltenbummel und Clipper Club Caracas” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 1 / 1930-52

Der zweite Teil:

Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

Mein erstes Buch könnt Ihr hier bestellen:

marcusklugeberlin@yahoo.de

Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

In 3000 Metern Höhe laufe ich nachts bei dichtem Nebel, auf einer Pass-Straße in den Anden, vor dem Jeep, den mein Cousin Johannes steuert. Es ist 1993 und Johannes ist der einzige noch lebende Kluge, außer mir. Deshalb habe ich ihn in Venezuela besucht und ich wollte seine Mutter wiedersehen, Notburga, die ich 1961 kennenlernte, als sie zu uns nach West-Berlin kam, um bei uns zu wohnen. Heute haben wir uns etwas mit der Zeit verschätzt, Johannes hatte wohl auch vor, mit mir ein kleines Abenteuer zu erleben. Dass es so abenteuerlich wird, hat er nicht erwartet.

Ich weiß nicht wie lange ich vor dem Wagen laufend den Weg erkundschaften musste, es war lange und wir sind kaum vorwärts gekommen. Ich bin jedenfalls froh, als die Sicht minimal besser wird und ich wieder einsteigen kann. Müde sind wir nicht, unsere Nebennieren haben reichlich Stesshormone produziert und ich bitte Johannes mir weiter von seinen Eltern zu erzählen.

Auch Notburga hat einen weiten Weg hinter sich, als sie 1952 Wolfgang trifft. Notburgas Vater, Hans Baumgartner, kam aus Siebenbürgen. Während des Medizin-Studiums in Bonn lernt er seine Frau kennen, sie heiraten 1931. Dann ziehen sie nach Rumänien, dort wird bald danach Notburga geboren. Drei weitere Geschwister folgen bis 1941. Dr. Baumgartner, der hier Janos genannt wird, praktiziert als Bezirksarzt in dem von vielen Kulturen geprägten Landstrich. 1939 wird er als Hauptmann zur rumänischen Kavallerie eingezogen wird. Im Lauf des Krieges werden die Militärärzte mehrfach degradiert, Rumänien kann sich den Sold nicht leisten.

Die letzten Kriegsjahre ist Hans verschollen. Die Restfamilie muss Siebenbürgen verlassen, als die Russen näherrücken. Die Mutter läuft mit den vier Kindern zu Fuß nach Deutschland.

Sie haben viel Glück, sie treffen sich wieder. Eine Weile praktiziert Dr. Baumgartner als Dorfarzt im österreichischen Ach an der Salzach, auch aus dem deutschen Burghausen kommen Patienten. Aber als Staatenlose, nur mit Nansen-Pässen versehen, können sie nicht bleiben.

Kofferanhänger der Emigranten-Familie

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Notburgas Eltern entschliessen sich nach Venezuela auszuwandern, dort kann der Doktor seinen Beruf ausüben. Er wird Venezuelas erster Indianerarzt. Dr. Baumgartner lebt eine Zeitlang mit seiner Familie bei den Ureinwohnern Venezuelas in Dschungel. Er wird eine hoch respektierte Persönlichkeit und gehört später zu den wenigen Weißen, dem die Indianer Curare anvertrauen. Das berühmte Pfeilgift lähmt die Muskulatur, der Tod tritt durch Herzstillstand ein. Trotzdem kann man das erjagte Wild bedenkenlos essen, da Curare nur über die Blutbahn giftig ist. In den 50er Jahren wird Dr. Baumgartner Curare an Schering in Berlin verkaufen. Ein willkommener Geldsegen nach den vielen Jahren der materiellen Entbehrung.

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Dr. Baumgartner bei seinen Patienten

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Frau Baumgartner mit Ureinwohnern

Notburga heiratet 1950 und bekommt ein Jahr später eine Tochter, die sie auch Notburga nennt. In der Familie haben wir deshalb die Mutter, die “große” und die Tochter die “kleine” Notburga genannt. 1952 wird eine zweite Tochter geboren, Ingrid. Notburga hat als Kind zweimal die Heimat verloren, dann wird sie als Teenager in den Dschungel geschickt. Die frühe Ehe sollte ihr wohl Halt und Sicherheit geben. Das Gegenteil passiert, die Ehe scheitert. Als die große Notburga Wolfgang kennenlernt, verlieben sich die beiden. Wolfgang gibt Notburga endlich Halt, er übernimmt auch Verantwortung für sie und die Töchter. Bis zu seinen Tode wird Wolfgang für die Familie sorgen.

Sie ziehen zusammen und Wolfgang wird Büroangestellter bei der Pan Am. Nach ein paar Jahren wird Wolfgang sogar regional cargo manager für die Fluglinie, eine bemerkenswerte Karriere für den ehemaligen Kellner und Bauarbeiter. Wolfgang ist ehrgeizig, er will sich hocharbeiten, er glaubt an den amerikanischen Traum und erreicht auch viel, besonders wenn man bedenkt wie steinig seine Lehrjahre waren. Er ist nicht nur hochintelligent, er hat eine sympathische Ausstrahlung, sodass er fast jedermann in kürzester Zeit von sich einzunehmen weiß. Sein großes Ziel ist es aber, sich irgendwann selbständig zu machen und finanziell unabhängig zu sein. Zunächst ist die Familie zufrieden, es geht aufwärts und ein Ende des Aufstiegs ist nicht abzusehen. Wolfgang ist fleißig, er schont sich nicht und Notburga unterstützt ihn dabei.

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Wolfgang, Notburga, die Töchter und Oma Baumgartner im Urwald

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Wolfgang bei seinem Hobby

Nachdem 1958 der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wird, sind Ausländer nicht mehr gern gesehen. Jiménez hat die Immigration gefördert, die Einwanderer sind meist besser gebildet als die Alteingesessenen, es geht ihnen materiell gut, so werden sie zum Ziel des Volkszorns. Die kleine Notburga und Ingrid werden auf dem Schulweg angepöbelt, es ist nicht auszuschließen, dass es noch schlimmer kommt. Also entscheiden Wolfgang und die große Notburga nach Deutschland zu gehen. Leicht fällt ihnen die Entscheidung nicht, Wolfgang wollte eigentlich nicht zurück in das Land, das ihm seine Jugend nahm und für Notburga ist es ein fremdes Land.

1993. Der Nebel lässt endlich nach und wir nähern uns Merida. Als wir ins Ferienhaus zurückkommen, stellen wir fest, dass Notburga während wir auf der nebligen Passstraße unterwegs waren, krank geworden ist. Sie hat hohes Fieber bekommen, offensichtlich hat sie sich sehr um Johannes ihren Sohn und auch mich geängstigt. Nachdem sie viel zu früh ihren Mann Wolfgang verloren hat, macht sie sich nicht nur große Sorgen um Johannes, so etwas wie eine latente posttraumatische Belastungsstörung hat von ihr Besitz ergriffen. Als sie uns heil zurückkehren sieht, geht es ihr langsam besser.

M.K.

Fortsetzung folgt

Alle bisher veröffentlichten Folgen sind hier verlinkt:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait Teil 2 – “Tränen, Erbsensuppe und die rote Fahne” / Oma Elisabeth1895-1918

Als 15-jährige musste meine Großmutter allein ins fremde Berlin, um als Hausmädchen zu arbeiten. Während der November-Revolution trug sie die rote Fahne durch Berlin. Zwei Weltkriege hat sie erlebt, ihr Fazit war: “Sollen doch die Anführer der Völker gegeneinander kämpfen, statt die Völker in den Krieg zu schicken.”

Die Mutter meiner Mutter, Elisabeth Hellmich, wurde im September 1895 als zweite Tochter des Ehepaars Schnelle in Liebenwerda an der Grenze zu Sachsen geboren. Um das Jahr 1910 wurde sie nach Berlin geschickt, um dort in der Fremde als Hausmädchen zu arbeiten; “in Stellung gehen” nannte man das.

Es muss für die junge Frau hart gewesen sein, allein in der großen Stadt, ihr Glück zu suchen. Dienstmädchen wurden nicht gut behandelt. Schläge und sexuelle Übergriffe durch die “Herrschaft” waren an der Tagesordnung und wurden meist toleriert.

Am Sonntag Nachmittag, wenn Elisabeth frei hatte, lief sie zu Fuß um das Fahrgeld zu sparen von Steglitz die Kaiserallee (heute Bundesallee) hoch, in Richtung Kudamm. Die Gartenlokale wie “Schramms am See”, dort wo heute der Volkspark Wilmersdorf liegt, reizten sie nicht. Dort wurde geflirtet, geschwooft und getrunken, es ging ihr dort zu derb zu und sie hatte kein Interesse Männerbekanntschaften zu machen.

Ihr Ziel war der Bahnhof Zoo und das, über die Grenzen Berlins bekannte, Etablissement “Aschingers”. Dort gab es die berühmte Erbsensuppe und der Clou war, man durfte dazu so viele Schrippen essen, wie man wollte. Hier ging man relativ respektvoll mit dem jungen Mädchen um und hin und wieder mag sie auch mit anderen Gästen ins Gespräch gekommen sein. Oft saß sie jedoch allein vor der Suppenterrine und wenn sie an ihre Heimat und ihre Schwestern dachte, liefen ihr Tränen übers Gesicht und fielen in die Suppe.

Mit dem Beginn des Krieges 1914, änderte sich vieles. Frauen wurden in den Fabriken gebraucht und Elisabeth fing an bei Osram zu arbeiten und stellte Glühbirnen her. Sie wurde unabhängiger, kam sich freier vor und war nicht mehr so allein. Später kam ihre vier Jahre jüngere Schwester Charlotte auch in die Hauptstadt. Die dritte Schwester Martha blieb in Liebenwerda, ich vermute weil sie den Vorzug hatte, die Erstgeborene zu sein.

Viele Jahre bestimmte dann der Weltkrieg das Leben der Frauen mit all seinen Härten, wie Hunger, Kälte und Unsicherheit. Elisabeth wurde eine resolute Persönlichkeit, die einen großen Gerechtigkeitssinn entwickelte. Schließlich kapitulierte Deutschland, die Monarchie brach zusammen. Während der Novemberrevolution ging auch meine Oma auf die Straße. Jemand drückte ihr die rote Fahne in die Hand, diese trug sie bis es dunkel wurde. Dann ihr taten die Füße weh, also gab sie das revolutionäre Symbol weiter und marschierte nach Hause. Das war ihr kleiner Anteil an der Revolte, von dem sie später gern erzählte. Als ich 1968/69 auf die Strasse ging, um gegen Vietnamkrieg und andere skandalöse Zustände in der Welt zu demonstrieren, gehörte sie zu den wenigen Erwachsenen, die Verständnis für mich aufbrachten. Nachdem sie zwei Weltkriege überlebt hatte, war ihr Fazit: “Sollen doch die Anführer der Völker gegeneinander kämpfen, statt die Völker in den Krieg zu schicken.”

Das Foto oben zeigt Oma Elisabeth mit mir um das Jahr 1960.

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Auf dem zweiten Bild sieht man die drei Schwestern Schnelle (v.l. Martha, Charlotte, Elisabeth) noch ledig, vor dem 1. Weltkrieg, schick heraus geputzt. Das jüngere Foto (ca. 1927)

Image zeigt von links, meine Oma Elisabeth, meine Mutter als kleines Mädchen, Omas Schwester Charlotte und eine Unbekannte. Hier wirken die Damen auf mich erwachsener, recht selbstbewusst und stolz auf ihren Status als nicht mehr berufstätige Ehefrauen.

Marcus Kluge

– wird fortgesetzt –

Der nächste Teil erzählt, wie es Elisabeth in den 20er Jahren erging und endet mit der Machtergreifung der Nazis 1933.

Familienportrait Teil 23 – “Hitlerjunge, Weltenbummel und Clipper Club Caracas” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 1 / 1930-52

(Oben: Wolfgang Kluge als Steward im Clipper Club Caracas)

Im ersten Kapitel finde ich mich nachts auf einer nebligen Pass-Straße in den Anden. Hier erfahre ich, wie ein Berliner Steppke, mein Cousin Wolfgang, in den 1950er Jahren nach Südamerika gekommen ist.

Ich reise nicht gern und das hat seine Gründe. Zum einen hasse ich es, in meinem Bewegungsdrang eingeschränkt zu werden, denn nach dem chinesischen Sternzeichenkreis bin ich Pferd und muss Auslauf haben. Ein paar Stunden im Zug ertrage ich noch, im Flugzeug bekomme ich Zustände und auf den schwankenden Planken eines Schiffs habe ich mich nie wohl gefühlt. Zum anderen schlafe ich in der Fremde schlecht. Daher reise ich selten, doch manchmal muss es eben sein. So besuche ich 1993 zusammen mit meiner Mutter meine Cousine Notburga Kluge und ihren Sohn Johannes in Venezuela. Ihr Mann, Wolfgang Kluge, lebte zu dieser Zeit leider nicht mehr. Nach ein paar Tagen zur Akklimatisierung fliegen wir in die hübsche, kleine Universitätsstadt Merida, die sich auf 1600 Meter in Tallage ins Andenhochland schmiegt. Notburgas Bruder Walter hat dort ein Ferienhaus mit spektakulärem Blick auf den höchsten Berg Venezuelas, den Pico Bolivar der sich 4981 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Wir lassen uns mit dem Hauswart, Ricardito fotografieren. Die Venezolaner nennen Johannes und mich “Wikingos”, Wikinger, weil wir groß und blond sind.

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“Los wikingos” und Ricardito in Merida

Eines Tages beschließt Johannes mit mir auf den höchsten Pass des Landes zu fahren, dem Pico el Aguila, auf dem in 4000 Metern Höhe Vegetation und Luft knapp werden. Nach abenteuerlicher Fahrt über unzählige Haarnadelkurven, neben denen ein freier Fall ins Tal droht, erreichen wir gegen 17 Uhr die Passhöhe, ich bin erstaunt wie schwer mir das Atem holen fällt.

Da es früh dämmert, treten wir bald die Rückkehr an. Hier in Äquatornähe kommt die Dunkelheit schnell und immer pünktlich gegen halb sieben. Als es dunkel wird, haben wir erst wenige der 75 km zurück ins Tal geschafft. Dazu bildet sich ein dichter Nebel, der Jeep hat Nebelscheinwerfer, nur nutzen sie nichts, mit ihnen beträgt die Sicht 2 bis 3 Meter, ohne Licht 5 bis 10, allerdings sehr vage Meter. Nur mit Schritttempo vermeidet Johannes den Absturz.

Ich überlege wieso meine Verwandten ausgerechnet nach Venezuela gekommen sind? Ich denke an den Vater von Johannes, meinen Cousin Wolfgang Kluge, der im Gegensatz zu mir, soviel und so gern reiste, dass sein Pass aus den Nähten platzte. Ich weiß das Wolfgang Anfang der 50er Jahre, nachdem er einige Zeit zur See fuhr, hier in Venezuela landete und dann seine Frau kennenlernte. Viel mehr weiß ich nicht, also bitte ich Johannes mir die Geschichte zu erzählen, während wir Kilometer für Kilometer die Passstraße abwärts schleichen.

“Wolfgang wird 1930 geboren, seine Mutter Frieda muss recht wenig mütterlich gewesen sein und sein Vater, Willy Kluge stirbt als Wolfgang 11 ist. Nun wird die Hitler-Jugend zum Elternersatz für ihn. Die Wanderungen und Ausflüge gefallen ihm, sogar Ski fahren lernt er. Außerdem bringt man den Jungen das Schießen bei.

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Wolfgang in der HJ

Im Januar 1945 wird der 14-jährige aus der Schule geholt. Man steckt ihn in schlecht sitzende Uniformstücke unterschiedlicher Truppenteile und rüstet ihn mit einem K98-Karabiner und einem Drahtesel aus. Beides klapprig und verrostet, eine einzige fabrikneue Panzerfaust ergänzt die Ausrüstung.

Zum Ende des Krieges sitzt er mit seiner Einheit in Bayern, an einem der ebenso schönen wie berühmten Seen. Auf der anderen Seeseite nähert sich eine Kolonne wuchtiger, amerikanischer Sherman-Tanks, die die jungen Burschen unter Aufopferung ihrer Leben, für Führer und Vaterland, in ihrem Fortkommen behindern sollen, wenn möglich bis zum Endsieg.

Ihr Kommandeur, ein älterer SS-Offizier, lässt sie antreten und befiehlt ihnen kurz und schneidig, ihre gesamten Waffen im See zu versenken. Das haben die Rotznasen auch sofort getan, wahrscheinlich haben sie vermutet, nun bekämen sie die von der Propaganda beschworenen Wunderwaffen ausgehändigt. Daraus wird nichts, der Offizier befiehlt ihnen, sich aus dem Staub zu machen, sich Zivilklamotten zu besorgen und dann nach Hause zu laufen. Am liebsten hätten die Jungs den Vaterlandsverräter auf der Stelle erschossen, aber ihre Waffen lagen ja nun auf dem Grund des Sees und der Kommandierende hatte noch seine MP…

Also haben sie sich aufgemacht und bald danach einen alten Opel “organisiert”. Damit kamen sie der Heimat einige wenige Kilometer näher, doch dann werden sie von G.I.s aufgegabelt und wegen Diebstahls vor Gericht gestellt. Das Verfahren ist kurz: “Uieh haissn daine Faddör? Uieh haissn daine Muddör? Four Days!!!” Als sie nach vier Tagen aus dem Knast kommen (sie wären gerne etwas länger geblieben, denn da hatten sie wenigstens etwas zu Essen bekommen) sehen sie “ihren” Opel schon in flottem Olivgrün und mit weißem Stern im Hof stehen.

Als Wolfgang endlich in Berlin ankommt erfährt er, seine Mutter ist mit dem Stiefvater nach Belgien gezogen. In Hamburg stecken ihn die Briten wieder ins Kittchen, das Gute daran ist, hier trifft er seinen zwei Jahre älteren Bruder Ino. Die Engländer begreifen schnell, dass die beiden keine großen Kriegsverbrecher waren und lassen sie laufen.

Für die Jungen, deren ganzes Leben von der Propaganda der Nazi-Diktatur begleitet wurde, ist der Zusammenbruch Nazi-Deutschlands traumatisch. Jetzt erweist sich, dass alles woran sie geglaubt haben Lügen waren. Eine ganze Generation wacht auf und findet sich in einem Alptraum von Zerstörung und Schuld wieder. Die meisten lernen zu verdrängen. Wolfgang ist nicht bereit zu vergessen, wahrscheinlich kann er es nicht. Während die Mehrheit der Deutschen sich bald mit dem sogenannten Wirtschaftswunder betäubt und alte Nazis auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Karriere machen, als sei nichts geschehen, will Wolfgang auf Abstand zum schwierigen Vaterland gehen. Bei der kühlen, zänkischen Mutter in Belgien möchte er auch nicht bleiben.

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Wolfgang als Reiseagent in Belgien

Nachdem er zwei Jahre für eine auf Flugreisen spezialisierte Reiseagentur gearbeitet hat verlässt Europa, zusammen mit seinem Bruder Ino lässt er sich um die Welt treiben. Die Brüder nehmen fast jeden Job an, zeitweise treten sie sogar als Step-Tänzer auf. Ihr eigentlicher Plan ist es, nach Südafrika auszuwandern. Sie heuern auf Schiffen an. Sie sehen Bombay, durchqueren als Matrosen auf einem Tanker den Persischen Golf, dann wechseln sie auf einen norwegischen Frachter. 1951 landen sie in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. Hier ist es immer warm, die Menschen sind freundlich, niemand stört sich daran, dass Wolfgang Deutscher ist. Venezuela gefällt ihm gut, es wird sein neues Heimatland werden.

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Bauarbeiter in Venezuela

Zunächst schuftet er auf dem Bau, dann hat er die Möglichkeit als Steward im exklusiven Clipper-Club von Pan American Airways in Caracas zu arbeiten. Im Vergleich zum zerstörten Deutschland muss es dort traumhaft gewesen sein. Die Clipper Clubs waren luxuriöse Lounges der legendären Fluglinie, die anfangs nur auf Empfehlung und später auch gegen eine saftige Gebühr ihre Türen öffneten. Zu dieser Zeit, Anfang der 50er Jahre lernt Wolfgang seine spätere Frau, Notburga, kennen.”

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Als Steward im Clipper Club

1993. Der Nebel auf der schmalen, kurvigen Passstraße in den Anden wird immer dicker. Johannes bleibt stehen, er sieht die Straße nicht mehr und ohne jede Sicherung droht direkt neben dem Straßenrand der Absturz ins tausende Meter tiefere Tal. Ich steige aus und laufe vor dem Jeep, damit Johannes wenigstens langsam weiter fahren kann.

Fortsetzung folgt.

Kapitel 2: Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-1s7

Alle Folgen der Serie findet ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

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Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

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Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

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Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

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Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

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Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

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Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

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Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

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Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

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Marcus Kluge

Obwohl wir hier schon etwas weiter in die Zukunft geblickt haben, weil es mir wichtig war die Scheidung als Kriegsfolge nicht zu verschweigen, wird die Reihe fortgesetzt. Die nächste Geschichte handelt von meiner Geburt und meinem Kindermädchen, die zu “My Fair Lady” wurde.

Die ganze Serie findet Ihr hier:

„Familienportrait” – Die Serie

Berlinische Leben – “Ein Hügel voller Narren” / Roman von Marcus Kluge mit Illustrationen von Rainer Jacob / West-Berlin Herbst 1981

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_n– Der Text ist aktualisiert und ihr findet die Links zu 15 Kapiteln. Zwei stehen noch aus, dann ist auch dieser Roman fertig.-

Schon bevor ich “Xanadu ’73” abgeschlossen hatte, begann ich über eine Fortsetzung nachzudenken. Mitte Juli 2014 begann ich “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Wie in Xanadu steht erneut eine “Schelmen-Figur” im Zentrum und erneut ist es ein ehemaliger Schulfreund, jemand der wie Beaky nie richtig erwachsen geworden ist. Anders ist, dass Roberto unbedingt sozial aufsteigen will. Er will die kleine Welt seiner Herkunft, den winzigen Fotoladen seines Vaters in der Pfalzburger Straße, hinter sich lassen und ein Mitglied des internationalen Jetsets werden. Ein paar Stufen hat er genommen, er hat sich mit dem Schauspieler und Playboy Alex Legrand und dessen Freundin Baby Sommer angefreundet. Er hat im Hippie-Paradies Goa eine Pension aufgebaut und dort auch prominente Gäste gehabt. Aber eben bevor ihn der Leser kennenlernt, hat er einen Rückschlag erlitten. Er hat hoch gepokert, in dem er 250 Kilo Haschisch nach Kanada geschmuggelt hat und er ist erwischt worden. Zwei Jahre war er in Kanada im Knast.

Am 22. September 1981 treffe ich den Rückkehrer im Café Mitropa, es ist der Tag an dem Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Auf der Straße geraten wir in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und müssen vor der wildgewordenen Polizei flüchten. Roberto erkennt seine Heimatstadt kaum wieder.
Doch das ist nicht sein einziges Problem, Gangster sind hinter ihm her, sie wollen Geld zurück, das er mit seinem missglückten Schmuggel verloren hat. Als ich Roberto bei mir wohnen lasse, gerate auch ich in den Strudel einer atemberaubenden Geschichte mit überraschenden Wendungen, die bis zum Widerstand gegen das Nazi-Regime während des 2. Weltkriegs zurückführt. Daneben erkunden wir das legendäre Nachtleben, besuchen Klubs wie das SO 36 und die Music-Hall. Wir erleben Bands, zum Beispiel die “Einstürzenden Neubauten” und die “Goldenen Vampire” und treffen originelle Zeitgenossen.

“Ein Hügel voller Narren” ist eine spannende Kriminalerzählung vor dem Panorama von Hausbesetzerbewegung und Punkszene im West-Berlin des Jahres 1981. Weitere Themen sind Liebe, Freundschaft und der Beruf des Schriftstellers. Besonders interessiert mich die Generation, der in den 50ern Jahren Geborenen. Die Eltern sind oft noch vom Krieg traumatisiert, aber es wird nie darüber gesprochen. Wir, ihre Kinder, begreifen nur langsam, dass eine Aufarbeitung der kollektiven Schuld nie stattgefunden. Das Dritte Reich wurde nur verdrängt und alte Nazis konnten weiter Karriere machen. Der Roman ist der zweite Band meiner West-Berlin-Trilogie. Jedes Kapitel wird mit einer Bleistiftzeichnung von Rainer Jacob illustriert.

Bisher erschienen sind diese Kapitel:

Kapitel 1: http://wp.me/p3UMZB-PT

Kapitel 2: http://wp.me/p3UMZB-QA

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-R1

Kapitel 4: http://wp.me/p3UMZB-RT

Kapitel 5: http://wp.me/p3UMZB-Sl

Kapitel 6: http://wp.me/p3UMZB-T5

Kapitel 7: http://wp.me/p3UMZB-Ux

Kapitel 8: http://wp.me/p3UMZB-VH

Kapitel 9: http://wp.me/p3UMZB-Xg

Kapitel 10: http://wp.me/p3UMZB-YI

Kapitel 11: http://wp.me/p3UMZB-11h

Kapitel 12: http://wp.me/p3UMZB-13k

Kapitel 13: http://wp.me/p3UMZB-18U

Kapitel 14: http://wp.me/p3UMZB-1d8

Kapitel 15: http://wp.me/p3UMZB-1mv

Familienportrait – “Die Welt geht unter” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 3 / 1945

Am 10. November 1942 verlässt Zarah Leander Deutschland. Sie wird nicht wieder ins deutsche Reich zurückkehren. Kurz vorher hat Goebbels noch versucht sie mit Schmeichelei und Geschenken umzustimmen. Doch Zarah hat begriffen, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen kann. “Davon geht die Welt nicht unter” singt sie vor Wehrmachtsoldaten und SS-Männern im UFA-Film “Die große Liebe”. Dieser Film ist mit 27 Mio. Zuschauern der erfolgreichste überhaupt im Dritten Reich und hat am 12. Juni 1942 im UFA-Palast am Zoo Premiere. “Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen” ist ein weiterer Schlager aus “Die große Liebe”, der auch Teil der Durchhaltepropaganda wird. Aber es geschieht kein Wunder und für die Deutschen geht im Frühjahr 1945 tatsächlich die Welt unter.

Käte bekommt Anfang 1945 den letzten von über 100 Feldpostbriefen von Helmut. Er ist zuletzt in Marienburg, dem heutigen Malbork stationiert. Die im 13. Jahrhundert erbaute Zentralburg des Deutschritterordens hat für die Nazis besondere Bedeutung. Helmut berichtet von einer Feierstunde in einem der Remter, so heißen die Speisesäle der Ordensburg. Dabei trägt er den “Cornet” von Rilke vor. Die klassische Soldatenballade “schwankt zwischen Glorifizierung des Heldentodes und der Sinnlosigkeit (jungen) Sterbens, Gefühlen von überzogener Ehre, Verlust und Traurigkeit.” Was er dabei fühlt, kann er wegen der Zensur nicht an Käte schreiben.

Bild Helmut deutet an, er würde Käte bald näher kommen, hofft wohl auf einen Rückzug. Dazu kommt es nicht. Ende Januar besetzen sowjetische Truppen die Stadt Marienburg. Die “Festung” wird sechs Wochen gegen die Rote Armee gehalten und am 8. März 1945 geräumt. Viele hundert Soldaten kommen ums Leben, deren “Hundemarken” keiner sammelt.

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Auch in Berlin beginnt der von der Propaganda beschworene “Endkampf”. Alte und Halbwüchsige werden zum “Volkssturm” eingezogen. Verweigerer werden sofort hingerichtet. Oma Elisabeth und meine Mutter überlegen den Straßenkampf in der U-Bahn abzuwarten. Glücklicherweise kommt Onkel Paul, der wieder bei der Polizei arbeitet, kurz in der Perleberger Straße vorbei. Er warnt die beiden vor der U-Bahn und besorgt ihnen Plätze im Bunker an der Schumannstraße neben dem Deutschen Theater. 40 Jahre später wird meine Tochter dort tanzen gehen.

Dass sie die U-Bahn meiden, ist ein großes Glück. Am 2. Mai sprengt die SS den Tunnel unter dem Landwehrkanal. Das gesamte unterirdische Verkehrsnetz wird dadurch geflutet. Ob nur wenige oder etwa 100 Zivilisten ertrinken weiß man nicht genau, auch das Motiv für die Tat bleibt im Dunkeln.

Zwei Wochen bleiben sie im Bunker. Unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen passieren hier kleine und große Tragödien. Der Schauspieler Aribert Wäscher, der in Hunderten Filmen mitgewirkt hat, unter anderem in Riefenstahls Mammutproduktion von Tiefland (1940-44), klagt und zetert laut vor sich hin. Eine daneben sitzende Mutter hat es schwer ihre Kinder bei Laune zu halten. Nach einem Tag und einer Nacht geht sie zu Wäscher, ohrfeigt ihn, danach verstummt der große Mime.

Bild Oma, Anfang der 40er Jahre

Nach etwa zehn Tagen hören Oma und Käte, es würde zwei Ecken weiter Milch aus sowjetischen Beständen ausgegeben. Sie besorgen sich Kannen und verlassen den Bunker. Der Theatervorplatz ist Niemandsland zwischen den Stellungen des Volkssturms und der Russen. Oma holt ein Taschentuch hervor, schwenkt es und betritt den Platz. Tatsächlich läßt das Feuer nach und die Frauen überqueren den Platz. Es sind die längsten 200 Meter ihres Lebens.

Für den Rückweg zeigt ihnen ein Soldat einen Umweg, sie kommen heil zurück in den Bunker. Nach weiteren drei Tagen sind die Kampfhandlungen zuende. Sie können den Bunker verlassen. Was sie draußen erwartet hat apokalyptisches Ausmaß. Überall lodern noch Brände, der Rauch beißt in den Augen. Es riecht nach verbranntem Fleisch, nicht nur Leichen liegen auf den Straßen, auch viele Pferdekadaver sind der Verwesung preisgegeben. An Laternenmasten hängen Tote, die Schilder um den Hals haben. Darauf stehen Sätze wie, ” Ich war zu feige mein Vaterland zu verteidigen”, oder ähnliches. Auf dem Weg in die Perleberger Straße sehen sie mehr Ruinen als bewohnbare Häuser.

Bild Käte mit Freundin Inge im Tiergarten

Zuhaus verbrennen sie Fotos und Dokumente, auf denen Hakenkreuze zu sehen sind. Russische Soldaten erschießen Männer und Frauen, bei denen so etwas gefunden wird. Für Vergewaltigungen reicht es, dass Frauen anwesend sind. In der Nacht weckt sie Krach im Vorderhaus. Es scheinen plündernde Soldaten zu sein. Oma malt Käte rote Punkte ins Gesicht und steckt sie ins Bett, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätte, ein Kopftuch verbirgt die verlockend blonden Haare. Sie haben Glück, noch bevor der Mob ins Hinterhaus eindringt, unterbindet Militärpolizei das Geschehen.

Am nächsten Morgen beschließt Oma Moabit zu verlassen. Tiergarten soll russisch werden, wogegen Wilmersdorf und Steglitz von Amerikanern kontrolliert werden soll. Sie packen ihr wichtigstes Hab und Gut auf einen Handwagen und durchqueren den Tiergarten. Am Zoo passieren sie das ausgebombte Aschingers, sie ziehen die Kaiserallee hoch, die heutige Bundesallee. Oma kennt die Straße gut. Vor dem Ersten Weltkrieg ist sie hier sonntags zum Zoo gelaufen. Nun, 30 Jahre später, hat sie zwei Weltkriege hinter sich.

Die kühle Mainacht verbringen sie im Volkspark. Am nächsten Morgen hören sie von einer leeren Wohnung in der Kaiserallee 181, gleich hinter der Berliner Straße. Sie besetzen die Wohnung, später werden sie behaupten, der Mietvertrag wäre verbrannt. Meine Oma wohnte in dem Haus bis sie, Anfang der 60er Jahre, eine Neubauwohnung in der Prinzregentenstraße bezieht.

Von Helmut hört Käte jahrelang nichts, sein Schicksal bleibt zunächst ein Rätsel für sie.

Bild Das letzte Foto: Helmut, 3. v.re.

– wird fortgesetzt –

Marcus Kluge
Alle bisher veröffentlichten Folgen sind hier verlinkt:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – “Sire, geben sie Gedankenfreiheit” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 2 / 1943-44

Kriege enden nicht wirklich, wenn eine Partei gewinnt und die andere kapituliert. Kriege wirken fort, sie sind nachhaltig. Noch heute leiden, laut der Uni Leipzig, ca. 3.4% der 60- bis 90-jährigen Deutschen an einer posttraumatischen Belastungstörung infolge des 2. Weltkriegs. Ein Drittel der GIs, die aus dem Irak zurückkommen, haben psychische Probleme. Alkoholismus beobachtet man häufig, die Morphiumsucht wurde früher “Soldatenkrankheit” genannt, so häufig war die Abhängigkeit unter Veteranen. Kurz gesagt: Mit Ende des Krieges fangen viele Probleme erst an.

Die Teilnehmer eines Krieges, egal ob Kombattanten oder Nichtkombattanten, dürfen daran nicht denken. Für sie ist es nötig sich vorzustellen, dass im Frieden alles wieder gut wird und die Träume, die ihnen den täglichen Wahnsinn überstehen helfen, wahr werden. Käte stellt sich vor mit Helmut eine Familie zu gründen und ein eigenes Geschäft zu führen, am liebsten was mit Büchern. Helmut möchte Karriere machen, als Schauspieler und Regisseur und er stellt sich Käte als die Frau an seiner Seite vor.

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Käte träumt

In Berlin wird das Leben durch die fast allnächtlichen Bombenangriffe bestimmt. Die Nächte bringt Käte häufig ohne Schlaf im Luftschutzkeller zu. Tags drauf sieht sie dann, wo Bomben hässliche Löcher im Straßenbild verursacht haben und das drückt die Stimmung zusätzlich. Die Briefe die ihr drei oder viermal in der Woche, der Briefträger bringt, zeigen Käte aber doch es geht noch schlimmer.

Gerade nachdem Helmut seine Verwundung am rechten Oberarm halbwegs auskuriert hat, wird er wieder in die verlausten Schützengräben geschickt. Das hat Folgen, er erkrankt an Wolhynischem Fieber. Es wird auch Trench Fever genannt, weil es in den Schützengräben des 1. Weltkriegs erstmals beobachtet wurde. Beispielsweise die Schriftsteller Tolkien, A.A. Milne und C.S. Lewis waren allesamt damals daran erkrankt. Auch im 2. Weltkrieg hat man noch keine wirksame Therapie dagegen. Schlecht verheilte Läusebisse verursachen das Leiden, doch an den hygienischen Verhältnissen an der Front ändert sich nichts, wie auch.

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Helmut schreibt

Helmut hat tageweise hohes Fieber, über 41°, dazu starke Kopf- und Gliederschmerzen, der Appetit verlässt ihn, er magert ab. Trotzdem schreibt er fast täglich an Käte, wenn das Fieber hoch ist, bringt er nur riesige, krakelige Buchstaben zustande, der Inhalt ist kaum zu entziffern. Dann ist er wieder klar, verfasst wunderbare Gedichte, die sie auf der Maschine sauber abtippt. Er baut für sein Kätchen und sich ein literarisches Luftschloss, in das sie vor dem Krieg flüchten können. Käte ist beeindruckt, hat Mitleid, ist wohl auch verliebt, doch es ist schwierig. Sie weiß nicht wirklich wer dieser Mann ist.

Ein paar Mal schafft es Helmut für ein paar Stunden oder Tage nach Berlin oder Muskau zu kommen, wohin Kätes Arbeitsstelle wegen der Luftangriffe verlegt wird. Seltsamerweise fühlen sich diese Treffen unwirklich an, sie sind einander fremd. Wenn es romantisch wird oder Helmut ihr zu nahe rückt, wird Käte kratzbürstig. In den Briefen sind sie sich viel näher.

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Sachlich, manchmal kratzbürstig

Monatelang hat Helmut um ein Studiensemester gekämpft, er kann es kaum glauben, 1944 darf er nach Berlin und ein paar Monate studieren. Käte gibt die Anstellung bei der Wirtschaftsgruppe Glasindustrie auf, um auch wieder in Berlin zu leben. Die Angriffe sind ihr egal. Sie und Helmut sind sich einig, in solchen Zeiten ist Fatalismus erlaubt, weder Mann noch Frau können das Schicksal beeinflussen und was passieren soll, wird passieren.

Am 20. Juli 1944 hören sie im Radio, es hätte ein Attentat auf Hitler gegeben, es ist nicht klar, ob er tot oder nur schwer verletzt ist. Am Abend sind sie im Schauspielhaus, Don Carlos steht auf dem Spielplan. Als Marquis Posa vom Despoten, “Sire, geben sie Gedankenfreiheit!” verlangt, gibt es Szenenapplaus. Es ist bekannt, dass dafür schon mindestens ein Deutscher, der an dieser Stelle geklatscht hat, erschossen wurde. Aber in diesem Moment ist die Furcht weg. In der Pause machen fast alle Zuschauer Pläne, man hofft der Krieg würde bald zuende sein, nun da “der Verrückte” tot ist. Mit England und den USA könne man sich einigen, dann würde man gemeinsam die Sowjetunion niederringen… Auch Käte und Helmut machen Pläne. Plötzlich ist die Erfüllung der Träume ganz nah.

Als sie in der Perleberger Straße die Treppe hochkommen, steht Oma Elisabeth schon in der Tür und macht eine wegwerfende Geste. Hitler lebt, der Umsturzversuch ist gescheitert, Helmut muss schon bald wieder zurück an die Front.

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Es bleiben Briefe

– wird fortgesetzt –

von Marcus Kluge

Familienportrait – “In einer kleinen Konditorei” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 1 / 1942

 Trauma

Als endlich die Ablösung kommt, hatte Helmut die Hoffnung fast aufgegeben, jemals wieder aus dem Schützengraben herauszukommen. Ihm wird ein Schlafplatz in einem Zelt zugewiesen, ein letzter Handgriff, wie immer an der Front, schiebt er die drei Goethe-Bände unter den Kopf, als Kopfkissen. Trotz des Gefechtslärms schläft er sofort ein, das lernt man an der Front.

Als die Granate einschlägt träumt er von einem blonden Mädchen mit leuchtenden, blauen Augen. Er erkennt sie nicht. Wach wird er nicht wirklich, er nimmt nur einen heißen, grellen Schmerz an der rechten Schulter wahr. Ein großes Tier muss ihn gebissen haben…

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Auf dem Verbandsplatz bekommt er Morphium, der Sanitäter wundert sich über soviel Dusel bei dem verwundeten Obergefreiten. Wenn der Goethe unter seinem Kopf nicht gewesen wäre, hätte es seinen Hinterkopf zerfetzt, so war es nur der rechte Oberarm. Die Kugel aus dem Schrapnell hat eine klaffende Wunde bis auf den Knochen verursacht. Man versorgt sie soweit es möglich ist, der Weg zum Lazarett ist noch weit.

Traum

Die Wunde entzündet sich, Penicillin haben die Deutschen noch nicht. So kämpft Helmuts Körper drei Tage. Bei 40°Fieber zieht sein Leben an meinem Vater vorbei. Die kurze Ehe mit einer kapriziösen Schauspielerin, Saltos machen für René Deltgen in den UFA-Studios, Boxen, 16 Kämpfe, nur zwei verloren, im Schach remis gegen den deutschen Meister.

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Mit Vera von Langen in den UFA-Studios Babelsberg 1938

Das kommt ihm alles so überflüssig vor, eitel, vertane Zeit. Wenn er hier raus kommt und der Krieg vorbei ist, muss er ein ganz neues Leben beginnen. Alles auf Null und dann durchstarten, promovieren, inszenieren und spielen auch, die großen tragischen Rollen: Mephisto in Faust, Hamlet und den Tempelherren im Don Carlos.

Sein 23 Jahre alter Körper gewinnt den Kampf um sein Leben. Doch er erholt sich nur langsam, was ihm einen unerwarteten Vorteil bringt: Er kann auf Heimaturlaub gehen!

In einer kleinen Konditorei

Über zwei Jahre dauert dieser Krieg schon. Käte sitzt in einer kleinen Konditorei in der Nähe der Friedrichstraße. Der Gastraum ist fast leer. Draußen wird es schon dunkel. Der Soldat in der feldgrauen Uniform sieht nett aus. Er könnte slawischer Herkunft sein, ein russischer Graf vielleicht. Sie ärgert sich über ihre ausschweifende Phantasie. Sie hält sich zur Sachlichkeit an. Immerhin hat sie es in drei Jahren bis zur Buchhalterin geschafft, und sie ist stolz darauf.

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Ein Stapel Bücher neben sich

Später werden beide nicht mehr wissen, wer als Erster gesprochen hat. Vor Helmut steht ein Stapel Bücher auf dem Tisch, daneben Papier, er schreibt etwas. Ein Gedicht, wie sich herausstellt. Käte ist entzückt, ein Mann, der Gedichte schreibt, so jemanden trifft ein junges Mädchen mitten im Krieg nicht oft.

Sie reden über Gedichte, über Romane, Dramen, Schauspieler, kommen auf immer neue Themen, ohne das sie merken, wie die Zeit vergeht. Helmut erklärt, er möchte nicht das einfache, kleine Glück mit Familie und Büroarbeit, er will aufs ganze gehen und großen Erfolg haben oder eben grandios scheitern. Er warnt das junge Mädchen vor sich, mit ihm würde sie es schwer haben. Sie scherzt und tut als ob sie ihn nicht ernst nimmt. In Wirklichkeit hat seine Warnung etwas sehr Ansprechendes für sie. Bei aller Sachlichkeit, schlummert auch Romantik in ihr. Und alles was mit Dramen, mit Schauspielern und Theater zu tun hat, zieht sie magisch an. Sie steht oft die halbe Nacht an, um Karten für die begehrten, billigen Stehplätze im Schauspielhaus, wo Gustaf Gründgens spielt, zu bekommen.

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Nach Stunden stellen sie fest, es ist bereits viertel vor sieben, sie haben sich total verplaudert. Er hat eine Karte fürs Schauspielhaus, Gründgens, Kätes Lieblingsschauspieler, gibt den Mephisto. Er muss los, Faust läßt man nicht warten. Auf der Weidendammer Brücke trennen sie sich. Bevor sie sich von einander losreißen, drückt sie ihm zu seiner Überraschung einen Kuss auf die Wange.

Sie läuft zur elterlichen Wohnung in die Perleberger Straße, sie ist bester Stimmung. Am Abendbrottisch verkündet sie Elisabeth und Werner: ” Heute habe ich den Mann getroffen, den ich heiraten werde.”

– wird fortgesetzt –

Marcus Kluge

Berlinische Leben – “Helden” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Sieben / von Marcus Kluge

David Bowie has left the building. Now he rocks another stage. We’ll never forget him.

Die erste Nachricht, die ich heute morgen wahrnahm, war der Tod von David Bowie. Traurig, fast schmerzhaft ist der Verlust. Ich war früh Fan von ihm, habe aber erst Jahre später verstanden, wieviel Tiefgang und Bedeutung seine Kunstfiguren hatten. Er war weit mehr als ein Musiker. Eher ein Konzeptartist, der Musik, Kostüm, Bühnenpräsenz, Film und sogar die Selbstpromotion zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen konnte.

Zur Erinnerung an ihn reblogge ich das Helden-Kapitel aus “Ein Hügel voller Narren”.

-(Was bisher geschah: Oktober 1981. Roberto kommt nach zwei Jahren Knast in Kanada zurück in ein ihm fremdes West-Berlin. Die Stadt ist polarisiert, auf der einen Seite stehen Politik, Polizei und Spießbürger, auf der anderen Hausbesetzer, Punks und ihre Unterstützer. Mit Klaus-Jürgen Rattay ist bereits ein Hausbesetzer getötet worden. Roberto versteckt sich in meinem Büro, er hat Schulden bei ein paar Gangstern. Roberto glaubt seinen Freund Ari gesehen zu haben, doch Ari soll sich umgebracht haben. Ich versuche mich als Autor und habe einen Psychiater konsultiert, weil ich unter Panikattacken und Schreibhemmungen leide. Der Arzt, Professor Philippus, behandelt auch einen geheimnisvollen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Wer ist dieser August Deter?)

Es war relativ lange warm gewesen und der Herbst ließ sich Zeit. Doch dann waren die Blätter innerhalb weniger Tage braun geworden und gefallen. Morgens war es empfindlich kühl und das leidige Heizen des Kohleofens begann. Das auch viele andere noch Kohleöfen hatten, merkte ich an meinem Asthma, die schmutzige Braunkohle, die zumeist verheizt wurde, nahm mir wie jeden Herbst die Luft weg. Das hatte angefangen, als ich ein kleines Kind war und war seitdem nicht besser geworden.
Von der Rattay-Sache hörte man in den offiziellen Medien wenig, nachdem der Versuch Rattay zum Kriminellen hochzustilisieren gescheitert war, versuchte man den Todesfall nun totzuschweigen. Es hatte sich ein unabhängiger Untersuchungsausschuss gebildet und es zeigte sich, dass viele Zeugen gesehen hatten, wie der Busfahrer in voller Absicht auf Rattay losgefahren war. Trotzdem schien nichts zu passieren, von den über 60 Zeugen vernahm die Polizei nur wenige. Es würde im Sande verlaufen, dafür würden, der nach außen weltoffen und liberal wirkende Bürgermeister von Weizäcker und sein Haudrauf-Innensenator Lummer schon sorgen. Polizei und Justiz waren in West-Berlin nicht unabhängig, dazu war der Filz zu dicht und zu weitreichend.
Das es in Deutschland auch noch eine außerparlamentarische Opposition gab, zeigte die Friedensdemo in Bonn. 300 000 Menschen waren in die kleine provisorische Hauptstadt am Rhein gekommen, um gegen die weitere Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen zu demonstrieren.
Roberto wohnte immer noch in meinem Büro, er verdiente viel Geld mit windigen Ost-West-Geschäften, die Pistaziengang hielt still und ich schob das Schreiben Tag für Tag vor mir her, bis Rittlin anrief und Druck machte.

Ich spannte einen jungfräulichen Bogen Papier in die Schreibmaschine und begann nachzudenken. Welchen der drei Filme sollte ich mir zuerst vornehmen? “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”, “Mephisto” oder “Das Kabinett des Dorktor Caligari”? Der erste war schwierig, weil ich das Buch nicht mochte und der letzte war einfach, weil ich Dr. Caligari liebte und gut kannte. Am besten ich finge mit Mephisto an, das war mittelschwierig. Ich suchte nach einer Überschrift. “Der verbotene Roman von Klaus Mann endlich verfilmt”. Ich schaute mir mein Werk an und stellte fest: viel zu lang für eine Überschrift. Ich riss den Bogen aus der Maschine, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Der Papierball fiel daneben, weil der Papierkorb voll war, meine Katze begann danach zu jagen. Fasziniert betrachtete ich Pünktchen und begann mir ihr zu spielen. Nach fünf Minuten fiel mir ein, das ich arbeiten wollte. Ich spannte erneut einen frischen Bogen ein und dachte nach.
Es fiel mir jetzt gar nichts mehr ein, mein Hirn war wie leergefegt. Ich dachte an die Ratschläge, die ich in verschiedenen Büchern gefunden hatte. “Schaffen sie sich Rituale!”. Genau, ich kochte Kaffee, drehte eine Zigarette, für Filterzigaretten fehlte mir das Geld und dann legte ich noch eine Tüte Bonbons neben die Schreibmaschine.
Ich trank den Kaffee, rauchte, lutschte Bonbons, aber nichts passierte in meinem Kopf. Gar nichts. Vielleicht hilft ein Ablenkungsmanöver? Ich fing an in der Schreibtischschublade zu kramen. Ich las alte Kontoauszüge, Rechnungen, Lohnsteuerkarten, die ich nicht benutzt hatte. Immer noch nichts. Dann fiel mir Uschis Zettel in die Hand. Ich rief sie kurzerhand an.
“Hallo, der Marcus hier, erinnerst du dich?”
“Ja, klar. Gut das du anrufst. Also, ich hab die Sache nochmal durchdacht und mit meiner Freundin Gudrun drüber geredet. Du hattest schon recht und so.”
Ich war skeptisch: “Was meinst du denn mit, und SO?”
“Na, für dich musste das ja so aussehen, als ob ich dich über den Tisch ziehen wollte.”
“Eher ja übers Bett ziehen und ja, der Gedanke kam mir. Willst du unbedingt ein Kind und ist dir egal, wer der Vater ist?”
“Das stimmt wohl, ich will ein Kind und der Vater spielt nicht so eine große Rolle, außer das er gutaussehend und intelligent sein soll.”
“Und das bin ich, ja?”, langsam macht mir das Gespräch Spaß.
“Ja, das bist du offensichtlich. Also, es tut mir Leid, wenn du dich benutzt fühltst. Als Wiedergutmachung wollte ich dich auf eine Party einladen, die wir am Wochenende hier geben.”
“Wo ist denn hier? Ich fahr nicht in alle Bezirke. Ich hoffe du wohnst in einem ordentlichen Bezirk!”, natürlich verarschte ich sie, das hatte sie verdient.
“Ich weiß nicht, Neukölln?”
“Oh je, das wird wohl nichts. Neukölln!”
Ich zierte mich ein bißchen und lies mich einladen. Danach klappte es endlich auch mit dem Schreiben. Ich kam gut voran. Mephisto fiel mir leicht, ich hatte das Gefühl es wäre “knackig”. Caligari war auch kein Problem. Ich las nochmal in der Filmliteratur nach, lobte die Athmosphäre, die expressionistische Gestaltung, ich verkaufte einen cineastischen Leckerbissen. Dann kamen “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”. Ich hatte den Kolportage-Roman immer verabscheut. Seine Gossen-Romantik machte Heroin für Teenager noch verführerischer, dachte ich. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn Roland Klick den Film mit Laien aus der Drogenszene gedreht hätte. Er war ja auf dem besten Weg dazu. Doch sein politischer Ansatz gefiel den Produzenten nicht und das Tag und Nacht Junkies in den Produktionsräumen herumhingen, oder sogar dort wohnten, gefiel ihnen noch weniger. Klick wurde ausgebootet und Uli Edel machte einen glatten, kommerziellen Streifen daraus. Ich drückte mich ziemlich vorsichtig aus, trotzdem konnte ich meine Kritik nicht verschweigen. Mit dem Ergebnis war ich zufrieden. Die drei Texte trippte ich nochmal sauber ab. Mitten im Mephisto klopfte es an meine Tür. Ein Postbote fragte mich:
“Kennen sie einen Marcus?”
Ich nickte und zeigte auf mich selbst. Der Bote fragte weiter:
“Wohnt hier ein Robert Oderberger?”
Ich wollte die Tür schon zuknallen, als mir bewusst wurde, das er Roberto meinte:
“Ja, das ist richtig.”
Der Bote schaute mich schief an, schien nachzudenken, dann gab er mir ein Telegramm. “An Robert Oderberger c/o Marcus ?, Rheinstraße 14, 1 Berlin 41.”
“dein vater liegt im albrecht-achilles-kh stop wenn du ihn nochmal sehen willst solltest du dich beeilen stop mutter stop”
Das war heftig, als ob Roberto nicht schon genug um die Ohren hatte, jetzt auch das noch. Ich ging zu REAL, kaufte sechs Dosen Hansa-Pils, zu mehr reichte mein Geld nicht und begann auf Roberto zu warten.

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(Berlin Wall Potsdamer Platz November 1975 looking east. CC BY-SA 2.0 Edward Valachovic)

Währenddessen in der Praxis von Professor Amon Philippus in der Uhlandstraße. Der Professor war etwas ratlos, was seinen neuen Patienten betraf. Er wurde nicht schlau aus diesem August Deter, schon der Name war mysteriös.
Und seine Aussage in der Gruppe, er hätte sozusagen sich selbst verloren, kam ihm auch seltsam bekannt vor. Als ob sich jemand diese Figur ausgedacht hätte? Irgendetwas störte ihn bei Deter, für das die Sonnenbrille nur ein Symbol war, sollte er möglicherweise eine Gegenübertragung entwickeln? Deter war ein Rätsel. Eine so weitgehende, retrograde Amnesie war zudem äußerst selten. Trotzdem blieb er seinen Grundsätzen treu und glaubte dem Patienten erst einmal. Aber er musste unbedingt mehr erfahren, vielleicht war dieser Deter der eine besondere Patient, an dem er Philippus, einen völlig neuen Aspekt der Psychiatrie erkennen und studieren könnte, um sich damit in die Annalen der Wissenschaft einzuschreiben. Professor Philippus war zwar ein anerkannter Fachmann, beispielsweise auf dem Gebiet der Traumabehandlung, er hatte einen Lehrstuhl, doch die große internationale Anerkennung war ihm bisher versagt geblieben. Er hatte wohl auch zu wenig veröffentlicht.
Wieder trug Deter die Pilotenbrille, aber diesmal braucht der Professor nichts zu sagen, nachdem Deter Platz genommen hatte, steckte dieser seine Augengläser in die Seitentasche seiner Lederjacke. Arzt und Patient saßen sich nun entspannt gegenüber und Philippus ergriff das Wort:
“Wie geht es ihnen heute, Herr Deter?”
“Eigentlich ganz gut. Es gibt Momente, da fühle ich mich, als ob ich hier in Berlin Urlaub machen würde. Vorhin saß ich im Café Kranzler, wie ein Tourist trank ich eine Weiße und dachte, das Leben sei gar nicht so schlecht. Aber gleich kam dann erneut die Frage, wer ich eigentlich bin und was ich hier verloren habe.”
“Wieso sind sie denn nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte so ein Gefühl, hier würde ich mehr über mich erfahren und
einen Freund treffen. Außerdem hatte ich einen Zettel in der Tasche, das einzige was man nach dem Unfall bei mir gefunden hat. Auf dem Zettel stand die Adresse einer Pension in Berlin. Da wohne ich jetzt. Pension Birth in der Rankestraße.”
“Haben sie diesen Mägdelein-Zettel dabei?”, fragte der Doktor.
Deter griff in seine Brieftasche und reichte Philippus einen kleinen, schmuddligen Zettel. Darauf stand mit Bleistift in Druckbuchstaben nur der Name und die Adresse der Pension Birth. “Birth”, das englische Wort für Geburt, merkwürdig, dachte Philippus. Doch dann riss er sich von diesem Gedanken fort und gab den Zettel zurück.
“Und einem Unfall ist ihr Gedächtnis verloren gegangen.”, stellt Philippus fest.
Deter nickte und erläuterte:
“Ja, aber ich kann mich kaum erinnern, auch die Zeit in der Klinik liegt zum Teil im Dunkeln. Wegen der Kopfverletzung hat man mich erstmal in eine künstliches Koma versetzt. Als sie mich wieder weckten, war ich immer noch sehr benommen. Man hatte mir den Kopf rasiert und ich hatte Pflaster auf der Schädeldecke. Zweimal am Tag kam ein Krankenpfleger und brachte mich in einen Behandlungsraum. Ich bekam eine Spritze, schlief ein und wurde ich in so einer merkwürdigen Maschine behandelt, die “Sieger-Maschine”, nannten sie die. Da habe ich Elekroschocks bekommen. Aber die Chefärztin meinte sie hätte diese Therapie weiterentwickelt, indem bestimmte Hirnregionen durch Elektroden angeregt werden, zum Beispiel der Hippo …, irgendwas mit Hippo?”
“Hippocampus wahrscheinlich. Die Region sieht ein wenig wie Seepferdchen aus, daher die Bezeichnung. Der Hippocampus ist für die Gedächtniskonsolidierung zuständig.”
“Die Chefärztin räumte ein, das dabei das Mittel- und Langzeit-Gedächtnis geschädigt würde, aber statt dessen würden 100-fach neue Bahnungen gebildet. Das sei in meinem Fall unbedingt nötig, damit ich nicht weiter vergesslich bleibe.”
Professor Philippus schüttelte mit dem Kopf: “Das ist eine absolut experimentelle Behandlungsweise, wobei der Terminus Behandlungsweise auch zu bezweifeln ist. Eigentlich wird die Elektrokonvulsionstherapie seit Mitte der 70er Jahre in Europa gar nicht mehr angewendet. Weniger wegen ihrer gewalthaften Natur, viele Patienten haben ja Angst davor und das ist nie gut bei einer Therapie, sondern weil sie keine sichtbaren Erfolge zeitigt. Eine höchst seltsame Klinik, in die sie da geraten sind. Wie heißt den diese Kollegin, die da Chefärztin ist?”
“Ihr Name ist Hölderlein, Doktor Viktoria Hölderlein. Sie meinte, ich hätte ein schweres Trauma erlebt und es wäre nur gut, wenn ich die Erinnerung daran verlieren würde. Sie schwärmte geradezu von ihrer Erfindung. Es wäre, als sein ein Menschheitstraum wahr geworden. Man könne, unbelastet von einer Biografie, die von Verletzung und Erfolglosigkeit geprägt war, ganz neu starten. Als ich in der Klinik war, hörte sich das für mich plausibel und tröstlich an. Vielleicht lag das aber daran, dass sie mir Medikamente gegeben haben, die meine Laune verbessert haben. Die meiste Zeit schwebte ich dort, wie auf rosa Wölkchen, keine Ahnung, was die mir gegeben haben. Die Hölderlein nannte ihre Maschine “Sieger-Maschine”, weil jeder Patient danach wie ein Sieger durchs Leben gehen würde, meinte sie. Im Nachhinein kommt mir dieses Gerede ziemlich verrückt vor, so als ob die Frau selber in eine Klapsmühle gehörte.”

Philippus untersuchte Deters Kopf und fand tatsächlich kleine Narben:
“Das ist ja eine wilde Geschichte. Sie haben nicht Schriftliches von dieser Institution?”
“Ich kann mir vorstellen, wie sich das für sie anhört. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte mir das ausgedacht. Manchmal glaube ich das selber. Weil alles in einem grauen Nebel verschwimmt, wenn ich etwas festhalten will. Aber das Schlimmste ist, ich habe das Gefühl ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben.”
“Was war das denn für ein Verbrechen, Herr Deter?”
“Eine Art Anschlag auf Menschen, eine Bombe glaube ich und irgendwie bin ich mit schuld daran. Es kommen mir jetzt auch öfter Erinnerungen hoch. Eigentlich hatte ich gehofft, dass das passiert. Nun habe ich eher Angst davor, weil ich fürchte, ich könnte eine böse Wahrheit über mich erfahren.”
“Lieber Herr Deter, ich fürchte man hat ihnen in dieser Klinik in verantwortungsloser Weise in ihrem Hirn herumgepfuscht. Hoffentlich fällt ihnen noch mehr dazu ein, dann muss man diese sogenannten Kollegen anzeigen. Und sonst werden wir mit ihren Erinnerungen arbeiten, sie brauchen da nicht allein durchzugehen. Neben mir haben sie ja auch noch die Gruppe. Außerdem werde ich ihnen angstlösendes Medikament aufschreiben und zusätzlich noch “Prager Wasser”, das regt das Gedächtnis an.”
Nein, er hatte keine Vorurteile gegen diesen Patienten, dachte der Doktor. Der Mann tat ihm ehrlich leid und er würde ihm helfen und herausbekommen, was hinter dieser rätselhaften Geschichte steckte.

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(David Bowie Meistersaal Hansa-Tonstudios 1977 CC BY-SA 3.0)

Um 18 Uhr war Roberto immer noch nicht zurück. Ich machte das Radio an und hörte SF-Beat. Juliane Bartel moderierte, meine Lieblingsstimme im Radio. Bei ihr hatten selbst die Versprecher Klasse. Einmal hatte sie, als sie Off-Kudamm-Kinos sagen wollte, “Off-Keydamm-Kunos” daraus gemacht. Der Ausdruck war für mich zum geflügelten Wort geworden. Ich bezeichnete damit West-Berlin-Touristen, die mit dem Stadtplan in der Hand durch die Nebenschauplätze der “Frontstadt” irrten, und dabei einen ängstlichen und verwirrten Eindruck machten.
Juliane Bartel schlug, mithilfe des Stichworts “Helden”, einen Bogen von der Friedensdemonstration vor ein paar Tagen im Bonner Hofgarten, zum Film “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”. Sie teilte meine Meinung, der Streifen wäre spannender geworden, wenn Klick ihn mit Laien gemacht hätte. Aber auch das den entstandenen Streifen von Uli Edel lobte sie. Irrte ich mich in meinem Urteil? War ich voreingenommen? Immerhin hatte ich den Film nicht gesehen. Ach was, ein Vorurteil war auch ein Standpunkt! Ich ging in die Küche, holte mir ein neues Bier und drehte eine Zigarette. Jetzt spielten sie “Heroes” von Bowie, die englische Fassung.

“And we kissed,
as though nothing could fall
And the shame was on the other side
Oh we can beat them, for ever and ever
Then we could be Heroes,
just for one day.”

Bowie hatte das Stück im Sommer 77 im Berliner Hansa-Studio aufgenommen. Wenn man vom Mischpult aus aus dem Fenster blickte, konnte man die Mauer und einen Wachturm sehen. Im Schatten der Mauer traf sich regelmäßig ein Liebespaar, daher hatte Bowie die Idee zu “Helden”.
Ich hatte Bowie nur einmal gesehen in seiner Berliner Zeit. Es war morgens um halb fünf in einem Klub in Charlottenburg, der DNC hieß, Damaschke-Nachtclub. Der Laden war fast leer, ich hatte es nicht geschafft rechtzeitig zu gehen, ich hatte Liebeskummer und zuviel getrunken. Bowie kam in einem Trench-Coat mit hochgestelltem Kragen herein, er marschierte zielstrebig auf den Bartender zu. Ich musste daran denken, das Trench-Coats “Grabenmäntel” hießen, weil sie ursprünglich in den Schützengräben der ersten Weltkriegs getragen wurden. Bowie fragte etwas, der Barmann zeigte auf den Billardraum. Dort konnte ich beobachten wie Bowie mit einem Langhaarigen etwas austauschte, Geld gegen Koks nahm ich an. Das der Musiker in Berlin ein orgiastisches Leben führte, hatten mir Freunde erzählt. Und morgens um fünf geht man nicht los um Downer oder Grass zu kaufen, nur Koks machte Sinn, zum weiterfeiern oder irgendeinen Termin am Morgen abzuarbeiten, ohne dass man geschlafen hatte. Ich folgte Bowie nach draußen und sah noch, wie er in ein wartendes Taxi stieg, während ich mich aufmachte zur Haltestelle des Vierer-Nachtbusses zu laufen.

Es klopfte an meine Tür in der Rheinstraße, ich ließ meinen Freund ein. Roberto begann sofort mir eine Anekdote von Puvogel zu erzählen und ich hatte Schwierigkeiten ihn zu stoppen, um ihm die Nachricht über seinen Vater zu übermitteln. Dann las er das Telegramm von seiner Mutter, ich merkte ihm keinerlei Rührung an. Ich bot ihm einen Stuhl an und holte ein Bier für ihn. Er saß da, stumm und irgendwie verloren, ich fragte ihn:
“Soll ich mitkommen, Roberto?”
Er nickte. Nachdem wir eine Zigarette gemeinsam geraucht hatten, ging er hinüber ins Büro und zog sich seinen hellblauen Anzug an, sogar eine Krawatte hatte er umgebunden. Sie war weinrot, mit einem gelben Charly Brown darauf. Eine halbe Stunde später saßen wir im Taxi, im Gegensatz zu mir hatte er, seit er für Puvogel Konterbande transportierte, immer Geld in der Tasche. Beim Pförtner fragten wir nach dem Zimmer von Herrn Oderberger, der Uniformierte teilte uns mit, dass die Besuchszeit gleich vorbei sei, schließlich verriet er uns aber doch, wo wir hinmussten. Vor dem Krankenzimmer stand Robertos bleiche, übermüdet aussehende Mutter. Caro, Robertos Schwester war beim Vater und wir beschlossen, dass Roberto und ich sie ablösten. Robertos Vater sah alt aus, viel älter als Anfang 70, das Gesicht ähnelte bereits einem Totenschädel und seine Stimme war schwach und brüchig. Der Krebs hatte seine Reserven aufgezehrt und das Terrain für Bruder Hein vorbereitet. Er schien sich sehr über Robertos Besuch zu freuen und mich begrüsste er auch sehr freundlich, ich war ja oft in der kleinen Wohnung in der Pfalzburger Straße gewesen, als wir einen Übungsraum im Keller unter dem Uhrenladen hatten. Roberto setzte sich auf die Bettkante und ich ein paar Meter weiter auf einen Stuhl. Der andere alte Mann, der noch in dem Zimmer lag, schlief.
“Ich schätze es geht nicht mehr lange mit mir und würde dir gern noch was sagen, bevor ich hier verschwinde. Dein Freund kann ruhig mithören.”
Roberto unterbrach seinen Vater:
“Sollest du dich nicht lieber schonen, Papa.”
Der Vater schüttelte den Kopf:
“Nee, das muss jetzt sein. Ich habe dir das nie gesagt, Robert, oder wegen meiner, Roberto, wenn dir das lieber ist. Aber ich war immer stolz auf dich. Als du in Indien deine Pension aufgebaut hast, vielleicht war das kein großes Geschäft, eher sowas wie mein Uhrenladen, doch du hast das allein geschafft und ich fand das toll.”
Robertos Vater machte eine Pause. Ich holte ein Glas Wasser, Roberto gab ihm zu trinken:
“Papa, das strengt dich doch zu sehr an, das kannst du mir später noch sagen.”
“Nein, nein, das muss ich jetzt sagen. Glaub mir, ich weiß das. Eins noch, die Leica. Ich hätte sie damals Legrand abschwatzen sollen, aber ich konnte nicht. Sie ist wertvoll. Wertvoller als Legrand weiß. Caro und du hättet einen besseren Start ins Leben gehabt, es war ein Fehler, es tut mir leid.”
Er musste eine Pause machen, das Sprechen strengte ihn sehr an, doch er war nicht davon abzuhalten, weiter zu sprechen:
“Du weißt ja dass ich in der Berliner Ghetto-Gruppe war, 1943 hat mich die Gestapo festgenommen und sie haben mich sechs Wochen im Keller der Prinz-Albrecht-Straße eingepfercht. Ein SS-Offizier hatte meine Leica für sich behalten. Ich dachte ich sehe sie nie wieder. Na ja, du kannst dir vorstellen, was die Gestapo mit mir gemacht hat. Ich war fast froh, als ich in ein Lager gekommen bin. Dort habe ich eben jenen Offizier wiedergetroffen. Das Lager war in der Nähe von Pressburg und der Offizier, er hieß Altmann, hat mir befohlen mit der Kamera das Lagerleben zu dokumentieren. Es war schlimm, das Schlimmste, was ich je machen musste. Heute denke ich, es wäre besser gewesen, mich umbringen zu lassen. Aber ich habe an meinem Leben gehangen, deshalb habe ich diese Arbeit gemacht und deshalb wollte ich die Leica nicht zurückhaben. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr angefasst.”
Herr Oderberger zeigte auf den Nachttisch, Roberto griff hinein und holte einen Umschlag heraus. Es war ein alter DIN-A5 Umschlag aus gräulich-verblichenem Natronpapier.
“Den sollst du haben, Roberto, da steht drin, was ich erlebt habe. Eigentlich gehört die Leica Caro und dir und …”
Er beugte sich vor und flüsterte:
“Es keine normale Schraub-Leica III, es ist eine Leica IV, ein Apparat, der nie in Serie gegangen ist. Es gab nur wenige Prototypen. Wahrscheinlich ist es die einzige, die es noch gibt. Sie ist sehr, sehr wertvoll.”
Oderberger war am Ende seiner Kräfte, er sagte nun nichts mehr. Roberto küsste ihn auf die Stirn und hielt seine Hand. Ich verlies das Krankenzimmer ohne mich zu verabschieden und wartete auf dem Flur. Eine halbe Stunde später kam Roberto heraus und nickte. Sein Vater war gestorben. Wir sprachen noch kurz mit Caro und Robertos Mutter, aber ich habe keine Ahnung, was dabei gesagt wurde. Mir war, als hätte mir jemand mit einem Brett auf den Kopf geschlagen. Ich fühlte mich heillos überfordert, Frau Oderberger fragte mich, ob ich den Toten noch einmal sehen möchte, ich schüttelte nur den Kopf. Wie mochte sich Roberto fühlen, wenn schon ich so durch den Wind war? Wir schafften es uns zu verabschieden und als wir vor dem Eingang der Klinik gierig Luft einsogen, fiel unser Blick fast synchron nach rechts, wo 50 Meter weiter, am Kudamm der Athenergrill lag. Wir nickten uns zu und stolperten in Richtung Athenergrill los.
Ohne ein Wort zu sprechen liefen wir auf den Getränke-Tresen zu. Kurz bevor wir ihn erreichten, fiel mir ein, das wir ja erst an der Kasse vorn bezahlen mussten. Dieses System war unumgänglich, die Tresenkräfte zapften erst dann Bier, wenn man ihnen einen Bon vorlegte. Roberto übernahm das Zahlen und bestellte Bier und Ouzo, weil es keine doppelten Ouzos gab, eben vier kleine. Mit unseren Getränken setzten wir uns in die letzte hinterste Ecke.
Ich musste an Beaky denken, unseren gemeinsamen Schulfreund, der 1973 an einer Überdosis Heroin gestorben war. Mit ihm hatte ich auch hier gesessen. Wir sprachen kurz über Beaky und sein kurzes, heftiges Leben. Aber ein anderes Thema stand im Raum und begehrte Aufmerksamkeit. Schließlich holte Roberto den Natronpapier-Umschlag heraus:
“Sag mal, Marcus, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich glaube, ich kann das jetzt nicht lesen, vielleicht später einmal, aber jetzt nicht. Könntest du das lesen und mir später irgendwie schonungsvoll beibringen, was drinsteht?”
Ich nahm den Umschlag aus seiner Hand und sagte:
“Ja, klar, kann ich machen.”, obwohl ich gar keine Lust hatte, mich diesem Kapitel der deutschen Geschichte auf so intime Weise zu nähern. Ich griff in den Umschlag und holte ein Heftchen im Format DIN A6 heraus. Aus dem Heftchen fielen ein paar winzige Fotos, auf denen Menschen in gestreiften Häftlingsanzügen zu sehen waren, die so dünn waren, dass es schwerfiel zu sagen, ob es Männer oder Frauen waren.
Ich steckte alles schnell wieder in den Umschlag und dann in meine Jackentasche. Dann stand ich auf, klopfte Roberto auf die Schulter und sagte:
“Ich hol mal noch zwei Ouzo.”

– wird fortgesetzt –

Hansa-Tonstudios: http://de.wikipedia.org/wiki/Hansa-Tonstudios

Bowie in Berlin: http://de.wikipedia.org/wiki/David_Bowie#Die_Berliner_Zeit

Illu: Rainer Jacob

Trailer Film “Chistiane F.”: https://www.youtube.com/watch?v=kgAfjw3Op5Q

Familienportrait – “Die Serie” / 100 Jahre Geschichte einer Berliner Familie

Es begann zu Ostern im Jahr 2013. Das Wetter war schlecht und ich hatte einen seltenen Anfall von Langeweile. Einer Eingebung folgend ging ich in den Keller und holte einen Karton mit alten Fotos und Papieren hoch. Ich versenkte mich in die Geschichte meiner Familie und war fasziniert.

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Oma, Olympische Spiele 1936

Meine Mutter hatte mir viel erzählt, andere Verwandte auch, doch die “Aktenlage” gab einiges her, über das nie gesprochen wurde. Die Fotos, die einen Zeitraum von 1920 bis heute abdecken halfen auch oft meiner Erinnerung auf die Sprünge. Irgendwann fing ich an, im Kopf Geschichten zu formulieren, aufschreiben war die logische Folge. Zusätzlich motiviert wurde ich, als Julia, die Stieftochter aus meiner Ehe, im Juli selbst eine Tochter bekam und mich zum Opa machte.

Ich schreibe nicht als Journalist oder als Familienchronist, eher als Geschichtenerzähler. Mich interessiert das Allgemeingültige der Geschichten und wie die “große Politik” in das Leben der “kleinen Leute” eingreift. Ich bin der Wahrheit verpflichtet, doch manchmal lege ich die Betonung auf ein bestimmtes Thema, weil es für mein eigenes Leben von Bedeutung war und ändere damit die Proportion. Ein weiteres Motiv ist psychotherapeutischer Natur, indem ich mich erinnere, verarbeite ich auch manches, was schon lange im Unterbewusstsein für Unruhe sorgt. Ich zupfe ein wenig an Details und manchmal macht ein kleine Übertreibung anschaulich, dennoch sind all diese Texte authentisch und nicht erfunden.

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Großmutter (rechts) und Schwestern, ca. 1910.

Entstanden sind inzwischen 28, meist längere Geschichten, 7 Fotostrecken und es kommen weitere Posts dazu. Die Reihe beginnt mit der Nachforschung, wo meine Vorfahren herkamen, bevor meine Oma 1910 nach Berlin kam, um hier als Hausmädchen “in Stellung” zu gehen. Von 1910 bis in die Nuller-Jahre unseres Jahrhunderts umfassen die Portraits “100 Jahre Geschichte einer Berliner Familie”.

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Hier werde ich alle Portraits in halbwegs chronologischer Reihenfolge verlinken und durch neue ergänzen. Im kommenden Jahr 2016 wird aus der Familienportrait-Serie mein 2. Buch entstehen. 29. Dezember 2015, Marcus Kluge

Die Serie:

Teil 1 erzählt wo meine Vorfahren herkamen, bevor sie Berliner wurden:

http://wp.me/p3UMZB-12e

Teil 2 berichtet, wie meine Oma 1910 nach Berlin kam und wie sich ihr Leben durch den 1. Weltkrieg änderte:

http://wp.me/p3UMZB-12m

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Mein Opa findet Arbeit als Schaffner bei der BVG, 1922 wird meine Mutter geboren. Ihre Kindheit endet am 30.1. 1933, als der braune Mob durch die Stephanstraße zieht und die Machtergreifung feiert. Teil 3:

http://wp.me/p3UMZB-12R

In Teil 4 meiner kleinen Familien-Saga erleben wir, wie das Nazi-Regime, zwischen 1933 und 1939, in alle Bereiche des Lebens eindringt, privat bleibt kaum noch etwas. Deutlich wird die Veränderung am Streit um die “Kletterweste”.
http://wp.me/p3UMZB-132

Anfang 1942, der Krieg dauert schon mehr als 2 Jahre, lernt Käte einen Mann kennen. Abends verkündet sie ihren Eltern, sie hätte den Mann getroffen, den sie heiraten werde. Teil 5:
https://marcuskluge.wordpress.com/2015/02/18/familienportrait-teil-5-in-einer-kleinen-konditorei-1942/

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Die Folgen 6 und 7 zeigen das Berlin und Deutschland vor Beginn des 2. Weltkriegs. Die Nazis prägen das Straßenbild mit Uniformen und Paraden.

http://wp.me/p3UMZB-13P

http://wp.me/p3UMZB-140

Teil 8. Am 20. Juli 1944 ist das Kriegsende ganz nah. In der Theaterpause glaubt man Hitler sei tot und man macht Pläne für den Frieden. Leider kommt es anders und Helmut muss wieder an die Front.

http://wp.me/p3UMZB-146

Im 9. Teil der Familien-Serie erleben wir das Kriegsende, das nicht nur in Berlin apokalyptische Ausmaße annimmt. Elisabeth und Käte überleben und schlagen sich nach Wilmersdorf durch, wo sie eine Wohnung besetzen.

http://wp.me/p3UMZB-14v

Teil 10: Drei Jahre hat sie nichts von ihrem Helmut gehört. Wahrscheinlich ist er im Krieg oder in Gefangenschaft gestorben. Als er dann doch vor ihrer Tür steht, ist sie von einem anderen schwanger.

http://wp.me/p3UMZB-14F

Teil 11: Die tragische Geschichte meines Großonkels und seiner Frau schließt Familienserie für die 1. Hälfte des 20. Jh. ab. Der Berliner Polizist und Hobbyfotograf brachte sich am 1. Mai 1946, um. Ich erzähle, wie es dazu kam.
http://wp.me/p3UMZB-14P

Teil 12: Die zweite Hälfte der Familienserie beginnt mit meiner Geburt. Mein Vater ist irritiert über die roten Haare, außerdem wollte er ein Mädchen haben. Doch ich habe Glück, er sagt: “Wir nehmen ihn trotzdem!”

http://wp.me/p3UMZB-15l

1958 beginnt mein Vater für das “Büro Willy Brandt” zu arbeiten. Kollegen sind unter anderem Günter Grass, Wolfgang Neuss und ein echtes Original, der “Flötchen” genannte Horst Geldmacher. Wenn die Kollegen durch die Kneipen gezogen waren, finden sie sich oft bei meiner Mutter ein und spachteln Nudeln. Teil 13:
http://wp.me/p3UMZB-15H

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Im 14. Teil der Serie erzähle ich, wie der Mauerbau 1961 auch meine Familie teilte. Allerdings vergrößert sich sie sich im gleichen Jahr, weil die venezolanischen Kluges nach West-Berlin ziehen und mit ihren Kindern bei uns wohnen. Aufregende Zeiten.
http://wp.me/p3UMZB-15K

Im 15. Teil der Familienserie erinnere ich mich an eine Freundin aus Kindertagen, die ihr Leben der Aufarbeitung des Holocausts gewidmet hat. Gute Unterhaltung mit “Susi, Ditzewurst und Wiener Library”.
http://wp.me/p3UMZB-15W

In der 16. Episode der Familienserie erzähle ich vom schwierigen Verhältnis zu meinem Vater. Schon an meinem sechsten Geburtstag wird deutlich, dass ich seine Erwartungen nicht erfüllen werde. Sein Geschenk landet im Müll.
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In Teil 17 erinnere ich mich an die Autos meiner Kindheit. Die kleine Geschichte ist mit vielen Originalfotos illustriert.

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Im 18. Teil der Reihe erzähle ich von den Medien, die mich als Kind geprägt haben. Viele Bücher, die Jugendvorstellung am Sonntag um 13.30 Uhr im Kino und die UFA-Filme, die das Ostfernsehen am Montagabend zeigte.

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In Teil 19 reisen wir mit der Blog-Zeitmaschine in die 1960er Jahre, in der Rankestraße, unweit der Gedächtniskirche, befand sich damals der “Europäische Phonoklub”. Meine kleine Geschichte mit 16 Fotos erzählt davon.

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Ich erzähle, wie ich die 68-Revolte erlebte und wieso sie mein weiteres Leben veränderte. Außerdem lerne ich Burkhardt Seiler kennen, der später als der Zensor bekannt werden wird. Gute Unterhaltung mit Teil 20: “Mao, Kollektiv und Schulverweis”.

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Ich lande auf einer merkwürdigen Privatschule und gerate auf Abwege. Kurze Zeit bin ich mit einer Striptease-Tänzerin zusammen. Sie nimmt mich in einen Club mit, in dem sich alles um “ein Pferd ohne Namen” dreht.

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Im 22. Teil erzähle ich wie die Bleibtreustraße zu ihrem Spitznamen kam. In der Nähe lebe ich mit meiner ersten großen Liebe und werde D.J. im Tolstefanz.

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40 Jahre hat mein Opa bei der BVG als Straßenbahnschaffner gearbeitet. Der sympathische Mann kann sich nicht lange seiner Rente erfreuen.

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Meine Mutter hat als Kind darunter gelitten, dass sie am 2. Weihnachtsfeiertag Geburtstag hatte. Deshalb wurde die erwachsene Käte an ihrem Wiegentag besonders geehrt.

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Tante Lotte und ihr Mann glaubten Zeugen einer „großen Zeit“ zu sein. Lotte sammelte von 1935 bis 38 Zeitungsausschnitte und gemeinsam klebten sie sie in ein Album, dem sie den stolzen Titel „Wir waren dabei“ gaben. Die Ernüchterung kam spät.

Familienportrait „Wir waren dabei“ / Das Nazi-Regime im Spiegel von Zeitungsausschnitten

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In dieser Bildergeschichte sieht man wie Berlin, zwischen den 1930er bis 1970er Jahren, im Winter aussah.

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In dieser Momentaufnahme beschreibe ich ein Ritual, das es auch in meiner Familie gab: den Sonntagsspaziergang.

Familienportrait – “Sonntagsspaziergang” / Momentaufnahme eines Rituals / 1961

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Mein Vater war Schauspieler und Schauspiellehrer. Es hat mich geprägt, aber dennoch bin kein professioneller Mime geworden.

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Diese Fotoserie gewährt Einblicke ins West-Berliner Partyleben um 1950.

Familienportrait – “Party Like It’s Nineteen-Fortynine”

Die Bildergalerie zeigt, wie der Fasching in den 60er Jahren in West-Berlin gefeiert wurde. Gab es früher mehr Luftschlangen? Sehen sie selbst.

Familienportrait – “Früher war’n mehr Luftschlangen” / Fasching in Berlin

Meine Kindheit in bunten Bildern: “West-Berlin Childhood Revisited” / Colour photographs from the late 1950s.

Familienportrait – “West-Berlin Childhood Revisited” / Colour photographs from the late 1950s

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1977 breche ich zu neuen Ufern auf. Ich ziehe von dom Kudammkiez nach Friedenau und beschließe Schriftsteller zu werden.

Familienportrait –„Margys und Abschied vom Kudamm“ / 1975-77

In “A Day in the Life 1978 / West-Berlin in Schwarz-Weiß” rekonstruiere ich einen Tag im Sommer 1978 aus einem Bogen mit Kontaktabzügen.

Familienportrait – “A Day in the Life 1978” / West-Berlin in Schwarz-Weiß

In dieser Geschichte mit Bildern berichte ich von 2 Tagen im Orwelljahr 1984. Ein Rockstar besucht mich und die neue Medienwelt kündigt sich an.

Familienportrait – „Schwäne im Orwelljahr” / A Day in the Life 1984

– wird fortgesetzt –

 

 

Familienportrait „Wir waren dabei“ / Das Nazi-Regime im Spiegel von Zeitungsausschnitten

Mussolini besucht Berlin und wird von Veteranen in Rollstühlen begrüßt.

Meine Großtante Charlotte heiratete Ende der 1920er Jahre den Polizeioffizier Paul Springer. Für die junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen war er eine gute Partie, wie man sagte. Paul war konservativ, kein ausgesprochener Nazi. Aber er hielt die Hitler-Partei für das richtige Gegengift gegen die politisch „instabile“ Weimarer Republik und die Massenarbeitslosigkeit. Wie viele andere hielt er Rechtsbruch, Antisemitismus und Gesinnungsterror für „Kinderkrankheiten“ auf dem Weg zu einem neuen, erstarkten Deutschland.

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Seine Frau und er glaubten Zeugen einer „großen Zeit“ zu sein. Lotte sammelte Zeitungsausschnitte und gemeinsam klebten sie sie in ein Album, dem sie den stolzen Titel „Wir waren dabei“ gaben. Aufmärsche, Paraden und Staatsbesuche „Unter den Linden“ sind dokumentiert, denn Paul war für die polizeiliche Sicherung dieser Veranstaltungen zuständig. Andere Themen sind die Polizei, Kriminalfälle, die rege Bautätigkeit dieser Jahre und Feierlichkeiten aller Art, wie Weihnachten, denen die Nazis ebenfalls ihren Stempel aufdrücken. Die Sammlung beginnt 1935 und endet abrupt 1938, kurz vor den Novemberpogromen, was kein Zufall ist. Ob es damals die erste Konfrontation zwischen Paul und seinen Vorgesetzten war, weiß ich nicht, aber diese hatte Folgen.

Als am 9. November gegen 22Uhr jüdische Geschäfte angegriffen wurden, stellte Paul uniformierte Polizisten als Schutz vor solche Läden in der Friedrichstraße. Um Mitternacht ging auf dem Revier ein Telex der Gestapo ein, nachdem die Polizei jüdische Einrichtungen nicht mehr schützen sollte, bzw. nur Plünderungen verhindern sollte. Paul Springer soll sich noch eine Stunde unsichtbar gemacht haben, doch gegen eins gab er den Befehl dann weiter.
Damit war seine Karriere im Dritten Reich beendet, der Polizeidienst machte ihm auch kaum noch Spaß. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen, während seine Nazi-Kollegen für unabkömmlich erklärt wurden.

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Schon zwei Jahre vor Kriegsbeginn bereitet sich Berlin auf den Ernstfall vor. Eine ganze Woche übt man Luftangriff, Verdunkelung und Giftgasbedrohung.

Tante Lotte und er überlebten den Krieg und er erhielt eine zweite Chance sich im Polizeidienst zu bewähren, weil er relativ unbelastet war. Schon im Mai 1945 wurde er von den Alliierten als Fachkraft auf dem Revier 2 angestellt. Kurze Zeit danach konnte er als Reviervorsteher den Wiederaufbau des Reviers 12 leiten.

Am 16. März 1946 sicherte Paul mit Kollegen eine Fliegerbombe ab, als es zur Explosion kam. Er wurde schwer am Kopf verletzt, Prellungen, Schnitt- und Platzwunden wurden im Krankenhaus versorgt. Trotz einer Gehirnerschütterung wurde er aus der nach dem Unglück überfüllten Klinik entlassen.
Nach einem Tag ging er wieder arbeiten, gegen ärztlichen und freundschaftlichen Rat glaubte er, preußische Disziplin üben zu müssen. Ständige Kopfschmerzen, Schwindel und eine leichte Verwirrtheit, die er gut überspielte, begleiteten ihn. Am 30. April war seine Krankheit so offensichtlich, dass er sich arbeitsunfähig schreiben lies.
Paul hat sich am 1. Mai 1946 umgebracht, indem er sich vor die Heidekrautbahn legte. Lotte hat nie erfahren, ob sich Paul wegen der Kopfverletzung oder aufgrund von Gewissensbissen infolge seiner Mitwirkung an Naziverbrechen suizidiert hat.
Das „Wir waren dabei-Album“ hat das Kriegsende überstanden, weil es rechtzeitig in Bad Liebenwerda versteckt wurde. Andere Fotoalben und Abzüge auf denen Hakenkreuze oder Nazigrößen zu sehen waren, hat man verbrannt, bevor die Rote Armee Berlin einnahm. Man musste damit rechnen, umgebracht zu werden, wenn „Nazimaterial“ bei einem gefunden wurde. Tante Lotte zog nach Pauls Tod nach Pankow, wo wir sie regelmäßig besuchten, bis der Mauerbau unsere Familie trennte. Aber als Rentnerin konnte Lotte 1965 nach West-Berlin „ausreisen“. Sie wohnte dann mit meiner Oma zusammen in der Prinzregentenstraße. Bevor sie 1980 starb, hat sie mir das Album geschenkt.

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Die sogenannte Ost-West-Achse durch den Tiergarten wird gebaut.

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So sehen Humor und Frohsinn im Nazireich aus.

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Das Programm des gleichgeschalteten Rundfunks auf der Rückseite eines Ausschnitts.

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Blumenkorso zum 700. Geburtstag Berlins. Dominiert wird das großformatig abgedruckte Foto von Hakenkreuzfahnen, der Korso wirkt bescheiden daneben.

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Am Stadtschloss wird gebaut.

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Auch eine Weihnachtsbescherung von Droschkenkutschern ist Mittel der Propaganda, sie wird von der sogenannten “N.S.Volkswohlfahrt” durchgeführt.

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Im April 1937 feiert das Regime die Annexion Österreichs mit einer „Schweigeminute“ und dem „Hitler-Gruß“. Das Foto zeigt das Kranzler-Eck in der Friedrichstraße.

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Auch Propagandaminister samt Familie sind in Weihnachtstsimmung.

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US-Navy Matrosen beehren die “Reichshauptstadt”.

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Frontalunterricht und Hightech im Polizeirevier, Pauls Arbeitsplatz.

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Parade im April 1937.

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Opernball 1937. Das Foto stammt von Heinrich Hoffmann, der als “Hitler-Fotograf” bekannt wurde.
http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Hoffmann_%28Fotograf%29

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1937 wurde der schöne Rundbau des Zirkus Busch wegen Straßenbegradigung der Burgstraße und Erweiterung des Blocks „Börse“ für den Bau von Reichszentralen verschiedener Wirtschaftsverbände abgerissen. Paula Busch hatte vergeblich versucht, durch Verhandlungen mit der Berliner Stadtverwaltung und Reichsstellen den Abriss zu verhindern.

Redaktion: Marcus Kluge

Die Dokumentation wird fortgesetzt.

Familienportrait Rainer Jacob: „Der Seebär im Neubau und die Ruderin“ / 1939-64

Kindheitsbilder bei Onkel Hans und Tante Ida

Wenn ich mit meinem Vater Onkel Hans in seiner Neubauwohnung in der Birkenstraße besuchen fuhr, blieb meine Mutter zuhause. Obwohl ich erst fünf oder sechs Jahre alt war, registrierte ich es und war stolz darauf, zu einer Männerrunde zu gehören. Die rundliche Frau von Onkel Hans versorgte mich mit Saft und Keksen und einem Wilhelm Busch-Buch, um dann in der Küche zu verschwinden.

Der Onkel war groß, alles an ihm war groß. Seine riesigen, fleischigen Ohren beeindruckten mich als erstes, obwohl der Umstand, dass er auch zu Hause eine Seefahrermütze trug, vielleicht noch bemerkenswerter war. Mitten in Berlin, wo doch das Meer weit weg war, wirkte er wie ein gestrandetes Walross. Unter der Schirmmütze mit aufgenähtem Anker lugten, eng neben einer runden dicken Erdbeernase, spitzbübische Augen hervor. Wabbelnde Wangen rundeten das Bild im wahrsten Sinne des Wortes ab. Onkel Hans war ein Seebär, der schon im Ersten Weltkrieg in der Kaiserlichen Marine gedient hatte. Mein Vater schien ihn zu bewundern, vermutlich schon seit seiner Kindheit. Mit Kaffee und Kuchen hielten sich die beiden nicht lange auf, dann musste es Weinbrand sein. Düjardeng, wie die Berliner sagen oder vielleicht war es auch Asbach Uralt. Das Quietschen des Korkens passte zu den Busch-Illustrationen. Ich betrachtete eben, wie der Unglücksrabe Hans Huckebein nach allerhand Streichen sein Ende findet, weil er Alkohol genossen hatte. Lesen konnte ich damals sicher noch nicht, erst heute fällt mir auf wie passend der Text war: „Jetzt aber naht sich das Malheur, denn dies Getränke ist Likör.“Hans Huckebein
Ich lag wohl auf dem Teppich und als ich aufblickte schwenkte Onkel Hans den Cognacschwenker über seinem riesigen Bauch. Seine Zigarre qualmte weißgelblich, lange nicht so dunkel, wie die Schlote der Kriegsschiffe auf dem des Seestücks hinter ihm. Es war eine Reproduktion von Hans Bohrdts „Der letzte Mann“, darauf sah man einen Matrosen, verzweifelt die deutsche Kriegsfahne schwenkend, auf den wenigen Holzplanken seines Schiffes, die noch nicht untergegangen waren, in die Weite rufend. Eines von zwei sich beschießenden Schiffen näherte sich, es war nicht klar, ob es Freund oder Feind war.
„Von Tirpitz“, ein Name wie ein Pistolenschuss, den trompetete Onkel Hans durch den Qualm seiner Handelsgold-Zigarre. Ich hatte jetzt den Stapel Groschenromane mit „SOS, Schicksale deutscher Schiffe“ entdeckt und die Titelbilder nahmen mich ganz gefangen. Später habe ich solche auch bei meinem Vater gefunden und den spannend geschriebenen Lesestoff verschlungen. Das es Nazi-Propaganda war, verstand ich damals noch nicht. Im gleichen Verlag, dem Pabel-Moewig Verlag, erschien bis 2013 auch der „Landser“, eine kriegsverherrlichende Heftromanreihe.
Der Altmännergeruch von Onkel Hans vermischte sich mit dem Zigarrennebel um mich herum, und als ich das Strickzeug seiner Frau in einer Kiste entdeckte, erschien es mir mörderischer als die Erzählungen von der Seefahrt, da der arme Hans Huckebein sich darin verstrickte, zufällig ausrutschte und vom Alkohol beschwingt, im Hochgefühl zu Grunde ging, ein Unglücksrabe eben.

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Onkel Hans war mir nicht ganz geheuer. Und als ich älter wurde erschien mir die ganze Männerkumpanei zunehmend seltsam. Mann warf mit kraftvollen Begriffen nur so um sich: „dolles Ding“, „Bruttoregistertonnen“ oder „Kaventsmänner“. Gerade der „kleine Mann” bewundert doch immer das Mächtige. Kapitäne, Maschinen oder Kanonen, die bis hinter den Horizont schießen können. Gerissene Haudegen, die dem Schicksal eins auswischten, wie der Kapitän zur See, Hans Langsdorff, der mit der Admiral Graf Spee auf Kaperfahrt ging und zum Schluss das Schiff in Montevideo versenkte. Kaperfahrt? Früh hatte ich den Verdacht hier wurden augenzwinkernd, Piraten bewundert. Erst sehr viel später wurde ich durch eine Ausstellung im Maritime Museum in Greenwich aufgeklärt wie viele Piraten, Privateers, Buccaneers and Corsairs auf See unterwegs waren, alle räuberten und zahlten doch brav ihre Steuern. Also waren die Staaten kriminell? Freibeuter gab es wenige, die handelten meist mit Menschen, Sklaven,  sie waren ganz unromantische Halsabschneider. Und die gesuchten, legendären Schätze gab es nie wirklich, da die Mannschaft auf direkte Ausbezahlung nach jeder Kaperfahrt bestand. Es wusste doch niemand, wie lange er lebte, in diesem kriegerischen Geschäft. In Kingstown, Jamaica, war zeitweise mehr Gold im Umlauf als im damaligen London. Also waren viele auf See nicht nur Glücksritter, sie entschieden sich dazu Verbrechern mit Verbrechen zu begegnen.
Die sentimentalen Geschichten vom Mann und dem gnadenlosen Meer verklärten die Räubereien und täuschten auch mich. Ich war damals noch jung und naiv, aber irgendein Glöckchen läutete in mir, den Erwachsenen nicht jedes Seemannsgarn zu glauben. Alle erzählten Märchen, sie erzählten sie sich gegenseitig, man machte sich etwas vor.

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„Mein lieber Herr Gesangsverein, das war ein Stahlgewitter.“ Onkel Hans schob seinen kugelrunden Körper aufgeregt hin und her, wie der Äquator ging das Hosenbund um seinen Globus. Der Cognac im Glas schwankte wie ein Seemann auf den Planken eines Riesenpottes bei rollender Dünung. Unsympathisch war er mir nicht, mit seinen wabbelnden Wangen sah er aus wie Kapitän Blaubär und blau war er ja auch, nach all dem Düjardeng. Er warf mit Kraftausdrücke um sich, wie ein gigantisches Schlachtschiff, das aus allen Rohren feuert. Doch die echten Projektile trafen damals wirklich auf Metall und echte Menschen und die verreckten dann elendig und wurden noch im Wasser von auslaufendem, brennendem Öl gegrillt, aber warum sie das alles taten, wurde mir damals nicht klar. Seemannsgarn war das ja gar nicht, was der Seebär erzählte, sondern tödliche Realität. „Befehl ist Befehl und Schnaps ist Schnaps.“ Vor mir knarzte das Leder von Onkel Hans dicken Schnürstiefeln.

Ida

Ganz anders ging es zu bei Hannchen, Tante Ida und Margit, die wohnten in der Nähe vom Dennewitz-Platz, dritter Hinterhof, zweite Etage, in einer für Berlin so typischen Mietskaserne, mit ihren bis zu sieben Hinterhöfen. Im Treppenaufgang roch es nach Kellermief und feuchtem Holz. Die Wohnung war ein Frauenrevier, Hannelore war wohl die uneheliche Tochter von Ida, die, bevor Idas Verlobter in den Ersten Weltkrieg zog, gezeugt wurde. So genau sagte man mir das nicht, weil ich ja noch sehr klein war. Hier wohnten Opfer des Krieges, durch Tante Idas Schicksal wurde mir das klar. Sie hatte die Nachricht vom grausamen Tod ihres Mannes im Ersten Weltkrieg nicht verkraftet und blieb einfach im Bett. Da thronte sie nun mit verkümmerter Beinmuskulatur. Sie musste von der Familie überall herumgetragen werden und war umgeben von alten Bildern, tanzende Nymphen und anderem sentimentalen Kitsch. Doch ein bestimmtes Bild beeindruckte mich sehr. Ein Mädchen, allein im Ruderboot, verzweifelnd gegen die stürmischen Wellen ankämpfend. Sie hatte Panik in den Augen, ihren nassen Tod konnte man schon erahnen. Es war ein düsteres aufwühlendes Bild. Das war die junge Ida, so sah sie sich selbst, vergeblich ankämpfend gegen den Sturm. Ich mochte sie gleich, sie hatte etwas sehr warmherziges, gutmütiges und sicher einen tiefen Schock erlitten, als man ihr die Nachricht vom gefallenen Mann überbrachte. Als zu Beginn des Ersten Weltkrieges alle jubelten und die Gewehrläufe mit Blumenbündchen geschmückt wurden, dachte man da nur an das Abenteuer, Reisen in Ferne Länder und keiner an einen möglichen Tod? Angeblich war man Naturgewalten ausgeliefert. In Wirklichkeit waren es die Befehle eines deutschen Kaisers. Nicht Naturgewalt oder Gott wollten Krieg. Auch wenn der Kaiser sich darauf berief. Tante Idas lange graue Zöpfe verliehen ihr etwas Jugendliches. Das Bettzeug war teilweise geklöppelt, ansonsten war das Bett ein mächtiges Möbel, das den Raum beherrschte und durch die hohen geöffneten Flügeltüren nahm sie am Leben teil. Eigentlich spielte sich das ganze Familienleben um sie herum ab. Später tanzte ich mit Margit Twist und Rock ’n‘ Roll im Nebenzimmer, man spielte Elvis Presley und Bill Haley. Ida schaute zu und freute sich, wie die jungen Leute feierten. Es gab Lufthansacocktails. Knabberzeug und Salzstangen wurden auf einem zierlichen Nierentischchen angeboten.

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Später erinnerte ich mich an „Die Ruderin“. Allein im Boot, dieses Motiv führt uns unsere Einsamkeit vor Augen, ausgeliefert einer entmutigenden Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem Menschen. Das riesige Meer verändert sich nicht, das korrespondiert mit dem Thema der Rettung durch die Gesellschaft, auch wenn wir keinen Sinn in den rohen Naturgewalten erkennen können, schafft sich der Mensch selbst seine geistige Kompensation. Er gestaltet sich ein Bild von Kameradschaft und Zusammenarbeit, von Gesellschaft. Auch wenn wir ausgeschlossen scheinen und ohne Bedeutung im Kosmos, wollen Menschen etwas, das ihnen Bedeutung verleiht. Man redet von Tragik um die höheren Kräfte nicht benennen zu müssen. Matrosen, mit der Propaganda von Feindschaft indoktriniert, durch billige Reproduktionen von Gemälden, die der Kaiser, gnädigst in Auftrag gegeben hatte. Man entscheidet sich ja nicht dafür, man wird eingezogen, man ist ja nur ein klitzekleines Rädchen im Getriebe einer anonymen Maschinerie. Eiserne Maschinenmenschen in einer mechanischen Zeit, aufgezogen und angetrieben von zackig gebellten Befehlen. Tante Ida hatte ein zu weiches Herz für diese Zeit, doch auch bei ihr hing ein mechanisches Ungetüm, eine große Uhr mit Pendel und zu jeder vollen Stunde wurden Gespräche durch das laute Schlagen des Glockenspiels zum Schweigen gebracht, man musste die einzelnen Stunden einfach mitzählen. Danach lauschte man noch in die unverhoffte Stille und dann erst nahm man das ebenfalls laute Ticken des Uhrwerks um so deutlicher wahr. Schicksalhaft, anscheinend unbeeinflussbar wirken beide Bilder nach, das hilflose Mädchen und der rufende Matrose.  Von meiner „kleinen Oma Jacob“ gibt es noch eine frühe Tonbandaufnahme, auf der sie mit schon zitteriger Stimme „Die Uhr“ singend vorträgt. Ja, damals war „Time is on my side“ noch nicht denkbar, damals, war das alles neu und merkwürdig für mich, als kleiner Junge, doch meine Begeisterung für das Meer und den unendlichen Horizont hat sich nie in Bruttoregistertonnen ausdrücken lassen, ich male das Meer immer ohne Boote, ganz einfach, endlos, zeitlos.

R.J.
Rainers Zeichnung von Onkel Hans ist der Ausschnitt einer Vorskizze, die von Rainer eigentlich noch nicht zum posten gedacht war. Der Redaktör hat sich frech darüber hinweggesetzt.
Redaktion: M.K.

Familienportrait‭ ‬-‭ „Ein Leben für die Straßenbahn‭” ‬/‭ ‬Berlin‭ ‬1920-1963

Mein Großvater Werner Hellmich war‭ ‬21,‭ ‬als er in den‭ Ersten ‬Weltkrieg ziehen musste.‭ ‬Bald wurde ihm klar,‭ ‬dass die Realität des Krieges nichts Ehrenvolles oder Erhabenes hatte.‭ ‬Es war ein schmutziges,‭ ‬sinnloses Töten oder Getötetwerden.‭ ‬Von diesen traumatischen vier Jahren hat er sich nie wieder wirklich erholt.‭ ‬Er kam mit einem Magenleiden zurück,‭ ‬nachdem man ihm ein Drittel des Organs in einer Notoperation im Feldlazarett entfernt hatte.‭ ‬Er war ein stiller,‭ ‬zurückhaltender Mann,‭ ‬der es am liebsten hatte,‭ ‬in Ruhe gelassen zu werden.‭ ‬Leider hatte er sich dafür die falsche Frau ausgesucht.

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Opa (Mitte) mit Kollegen.

Meine Großmutter Elisabeth Schnelle kam‭ ‬1910‭ ‬als‭ ‬15-jährige nach Berlin,‭ ‬um in Steglitz als Hausmädchen in‭ “‬Stellung‭” ‬zu gehen.‭ ‬Im heimischen Liebenwerda gab es nicht genug Arbeit und nur ihre erstgeborene Schwester Martha durfte in der Kleinstadt bleiben.‭ Elisabeth und später ihre kleine Schwester Charlotte musste sich im fernen Berlin ein Auskommen suchen. ‬Hausangestellte wurden nicht gut behandelt,‭ ‬oft waren sie dem Missbrauch durch die‭ “‬Herrschaften‭” ‬ausgesetzt.‭ ‬Jeden zweiten Sonntag hatte sie frei,‭ ‬dann lief sie die Kaiserallee‭ (‬heute Bundesallee‭) ‬hoch in Richtung Zoo und aß bei Aschinger Erbsensuppe.‭ ‬Oft kullerten dabei Tränen in ihren Teller,‭ ‬sie vermisste ihre Familie,‭ ‬hatte Heimweh und litt unter den Arbeitsbedingungen.

Bei allem Leid und den Sorgen,‭ ‬die der Krieg ab 1914 mit sich brachte,‭ ‬hatte er für Elisabeth eine positive Folge.‭ ‬Denn nun wurden Frauen gesucht,‭ ‬die die fehlenden Männer in den Fabriken ersetzten.‭ ‬Sie fing an bei Osram Glühlampen herzustellen.‭ ‬Sie konnte es sich sogar leisten,‭ ‬ab und zu, mit der Bahn in die Heimat zu fahren.‭ ‬Aber sich allein in der fremden,‭ ‬nicht sehr freundlichen Stadt Berlin‭ ‬durchzuschlagen,‭ ‬hatte sie hart gemacht.‭ ‬Ihr Ehemann wird es zu spüren bekommen.

Elisabeth läuft‭ ‬1918‭ ‬während der Novemberrevolution mit der roten Fahne durch Berlin,‭ ‬doch als sie am Abend müde wird,‭ ‬reicht sie das Symbol weiter und geht nach Hause.‭ ‬Sie war dabei und wird später stolz davon erzählen.‭ ‬1920‭ ‬lernt sie Werner kennen.‭ ‬Sie spürt sofort,‭ ‬da ist einer,‭ ‬der sich ihrer Führung nicht verweigert.‭ ‬Schon lange träumt sie den Traum,‭ ‬den viele ledige junge Frauen träumten.‭ ‬Statt in die Fabrik zu gehen,‭ ‬möchte sie Ehefrau,‭ ‬Hausfrau und vielleicht auch Mutter werden,‭ ‬wenn denn das Geld reicht,‭ ‬das der Mann heimbringt.‭ ‬Der stille Werner würde ihr als Gatte gut gefallen,‭ ‬doch einen Fehler hat die Sache, er ist arbeitslos.‭ ‬Elisabeth hört sich um und wird fündig.‭ ‬Morgens um halb fünf weckt sie unsanft ihren Werner und scheucht ihn zu den Verkehrsbetrieben (Die BVG wir erst 1929 gegründet).‭ ‬Ohne Job bräuchte er gar nicht wiederkommen,‭ ‬ruft sie ihm nach.‭ ‬Um viertel sechs meldet sich Werner auf dem Straßenbahnbetriebshof Wiebestraße,‭ ‬er ist der erste Mann,‭ ‬der an diesem Morgen nach Arbeit fragt.‭ ‬So wird er Straßenbahnschaffner und wird es über‭ ‬40‭ ‬Jahre bleiben.‭ ‬Egal bei welchem Wetter und zu welcher Schicht,‭ ‬seine Frau sorgt dafür,‭ ‬dass er aufsteht und zum Dienst geht.‭ ‬Selbst eine leichte Grippe ist keine Entschuldigung,‭ ‬nur wenn er wirklich schwer krank ist,‭ ‬darf er im Bett bleiben,‭ ‬während Elisabeth ihn mit rabiaten Methoden zu heilen versucht.‭ ‬Was sie nicht schafft,‭ ‬erledigt der‭ “‬Vertrauensarzt‭”‬.‭ ‬Heute‭ ‬sind es die medizinischen Dienste der Krankenkassen,‭ ‬damals waren es niedergelassene Ärzte,‭ ‬die als Gutachter vermeintliche Faulenzer und Drückeberger gesundschrieben.‭ ‬Diese Vertrauensärzte sorgten dafür,‭ ‬dass ihre Patienten den Besuch in unguter Erinnerung behielten.‭ ‬Gern nahm man ehemalige Militärärzte,‭ ‬weil die als scharf und gnadenlos bekannt waren.‭ ‬Werner überlegte es sich mehrmals,‭ ‬bevor er sich bei seiner Frau krankmeldete.‭ ‬Es wird ein lebenslanges Trauma für den stillen Mann mit der angeschlagenen Gesundheit.
Trotzdem muss er seine Frau geliebt haben,‭ ‬sie hatte durchaus ihre angenehmen Seiten.‭ ‬Sie schlug sich mit Humor und viel Mutterwitz durchs Leben.‭ ‬Sie war treu und mit einem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn ausgestattet,‭ ‬für ihre Familie tat sie fast alles.‭

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Elisabeth (re.) mit Schwestern, ca. 1922.

Es muss ein Sonntag im Sommer‭ ‬1920‭ ‬gewesen sein,‭ ‬als Werner und Elisabeth sich kennenlernten.‭ ‬Elisabeth leistete sich eine Erbsensuppe bei Aschinger,‭ ‬es ist noch immer ihr Sonntagsritual.‭ ‬In der Mitte des großen Stehtisches lagen die Brötchen in einem Korb,‭ ‬von denen man soviel essen konnte,‭ ‬wie man wollte.‭ ‬Es passierte selten,‭ ‬aber eben jetzt war es so:‭ ‬nur noch eine Schrippe lag im Körbchen‭! ‬Im selben Moment wie Elisabeth griff der freundliche Mann mit der Nickelbrille zu,‭ ‬beider Hände berührten sich über dem Körbchen.‭ ‬Beide zogen ihre Hände blitzartig zurück,‭ ‬aber der nette junge Mann fängt sich schnell wieder,‭ verschmitzt ‬lächelnd greift er den Korb und bietet das Brötchen der Dame an:‭ “‬Ladies first,‭ ‬sagen die Engländer,‭ ‬also bitte schön‭!”
Elisabeth wurde rot bei so viel Charme.‭ Dann‬ unterhielten sie sich über Kinofilme.‭ ‬Werner ist Fan der polnischen Schauspielerin Pola Negri,‭ ‬die Anfang der‭ ‬20er Jahre zum internationalen Star aufsteigt.‭ ‬Elisabeths dunkle,‭ ‬träumerische Augen erinnerten ihn an die Diva und er sagte es ihr.‭ ‬Ein tolles Kompliment‭! ‬Das Kino wird ihr gemeinsames Hobby,‭ ‬zumal Werner wie sie,‭ ‬am liebsten romantische Filme sieht.

Es dauerte nicht lange,‭ ‬bis die zwei ein Paar wurden und nachdem Werner bei der BVG anfing,‭ ‬heirateten sie und dachten an Nachwuchs.‭ ‬Die Wohnung in der Perleberger Straße ist war zwar winzig,‭ ‬aber wenigstens ein einziges Kind wollten beide.‭ ‬Am zweiten Weihnachtsfeiertag‭ ‬1922‭ ‬wurde meine Mutter Käthe geboren.‭ ‬Elisabeth wollte sich das Weihnachtsfest nicht mit einer Geburt verderben,‭ ‬aber am‭ ‬26.‭ ‬half nichts mehr,‭ ‬sie mussten ins Krankenhaus und meine Mutter wurde geboren.
Käthe wird schnell groß.‭ ‬Oft leidet sie,‭ ‬wie auch ihr Vater,‭ ‬unter der Strenge der Mutter.‭ ‬Besonders Krankheit duldet die Mutter nicht.‭ ‬Bauchschmerzen werden mit brühendheißen Wärmflaschen kuriert,‭ ‬Ohrenschmerzen mit in siedendes Öl getauchten Wattepfropfen.‭ ‬Trotzdem liebt Käte ihre Mutter,‭ ‬sie fühlt sich sicher und geborgen bei der starken Frau.‭

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Kaffeetafel, Großeltern (Mitte) und meine Mutter, ca.1930.

Die Naziherrschaft und den‭ ‬2.‭ ‬Weltkrieg übersteht die Familie äußerlich unbeschadet.‭ ‬Elisabeth bringt sich mehr als einmal in tödliche Gefahr,‭ ‬weil sie,‭ ‬auch in der Öffentlichkeit,‭ ‬über die ihr verhassten Nazis räsonniert.‭ ‬Als zum Kriegsende die Moabiter Wohnung einen Bombenschaden erleidet,‭ ‬ziehen Mutter und Tochter mit einem Handwagen nach Wilmersdorf.‭ ‬Moabit sollte russisch und Wilmersdorf amerikanisch werden.‭ ‬Sie besetzen eine leerstehende Wohnung in der Bundesallee und behaupten frech ihr Mietvertrag wäre verbrannt,‭ ‬sie kommen durch damit‭! ‬Als Werner krank und abgemagert aus dem Krieg zurückkommt,‭ ‬hört er bei Moabiter Nachbarn,‭ ‬vom Umzug nach Wilmersdorf und die kleine Familie ist wieder vereint.‭

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Werner darf wieder Schaffnerdienst in der Straßenbahn tun und ist vielleicht nicht glücklich, aber zufrieden.‭ ‬Ihm wird eine Kur für seine angeschlagene Gesundheit verschrieben,‭ ‬ein Foto zeigt ihn ein wenig skeptisch in die Kamera blickend.‭ ‬Meist wirkt er verschlossen auf Fotos.‭ ‬So auch‭ ‬1960,‭ ‬als er mit mir und meinem Bruder Thomas in den Zoo geht und Thomas ihn knipst.‭ ‬Lange steht Werner vor dem Eisbären‭ ‬der, hinter dicken Gitterstäben in einem viel zu kleinen Käfig haust.‭ ‬Nach dem‭ ‬2.‭ ‬Weltkrieg waren die meisten Häuser und Freianlagen zerstört,‭ ‬weniger als‭ ‬100‭ ‬Tiere hatten überlebt.

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-Seit‭ ‬1954‭ ‬plant die West-Berliner Politik,‭ ‬die Straßenbahnen abzuschaffen.‭ ‬13‭ ‬Jahre später wird,‭ ‬als letzte Linie,‭ ‬die‭ ‬55‭ ‬eingestellt,‭ ‬die vom Zoo über Charlottenburg nach Spandau fuhr.‭ ‬Es ist eine Entwicklung,‭ ‬die Werner traurig macht.‭ ‬Gerade Berlin,‭ ‬wo‭ ‬1881‭ ‬die allererste elektrische Straßenbahn der Welt fuhr,‭ ‬kann er sich ohne Tram nicht vorstellen.
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Oma nach Unfall.

Anfang der‭ ‬1960er Jahre muss er auf Rente gehen,‭ ‬viel lieber würde er weiter arbeiten.‭ ‬Über‭ ‬40‭ ‬Jahre war er BVG-ler,‭ ‬auch als Rentner fährt er mit seiner‭ “‬Ehrennetzkarte‭” ‬fast täglich quer durch die Stadt.‭ ‬Natürlich tut er das auch,‭ ‬um seiner strengen Ehefrau zu entgehen,‭ ‬die es gar nicht schätzt,‭ ‬dass der Mann jetzt viel zu Hause ist und ihre Kreise stört.‭ ‬Sie ziehen in eine Neubauwohnung,‭ ‬nur eine Ecke weiter in der Prinzregentenstraße.‭ ‬Elisabeth wird von einem Auto angefahren.‭ ‬Ihr Wahlspruch:‭ “‬Der sieht mich doch‭!”‬,‭ ‬hat versagt.‭ ‬Im Krankenhaus wirkt sie munter und gelöst,‭ ‬ein Foto zeigt sie mit leuchtenden Augen.‭ ‬Vielleicht ist es die Wirkung vom Sekt,‭ ‬sie hat ein Glas in der Hand.‭ ‬Gern trinkt sie auch Eierlikör,‭ ‬den sie mit Weinbrand Marke‭ “‬Attaché‭” “‬verdünnt‭”‬,‭ ‬wie sie sich ausdrückt.

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Lange kann sich Werner nicht seines Ruhestandes erfreuen,‭ ‬schon‭ ‬1963‭ ‬stirbt er,‭ ‬sein Herz hatte keine Kraft mehr.‭ ‬Sein Sterben ist meine erste Begegnung mit dem Tod.‭ ‬Während die Erwachsenen in der‭ “‬guten Stube‭” ‬die Beerdigung begießen,‭ ‬hat man mich mit Micky Maus Heften ins großelterliche Schlafzimmer geschickt.‭ ‬Mir wird bewusst,‭ ‬dass ich auf dem Bett liege,‭ ‬in dem mein Opa kurz zuvor gestorben ist.‭ ‬Es ist zum gruseln und trotzdem schwer vorzustellen,‭ ‬ihn nie wieder treffen zu können.‭ ‬Ich mochte ihn gern und vermisse ihn.‭

Werners Frau,‭ ‬meine Oma Elisabeth,‭ ‬wird alt,‭ ‬sehr alt.‭ ‬Erst mit‭ ‬88‭ ‬stirbt sie in einem Altenheim im Zustand der Demenz,‭ ‬der ihre letzten Lebensjahre überschattete.

Wenn Werner heute aus dem Straßenbahnerhimmel auf seine Heimatstadt niederblicken könnte, wäre er erfreut. Durch die Vereinigung beider Stadthälften ist ganz Berlin wieder eine Straßenbahnstadt. Auch der Westen:
„Die erste Strecke wurde 1995 über die Bornholmer Straße in zwei Etappen Richtung Westen eröffnet. Das Rudolf-Virchow-Klinikum sowie die U-Bahnhöfe Seestraße in Wedding und Osloer Straße, in Gesundbrunnen gelegen, sind seitdem wieder an das Straßenbahnnetz angeschlossen.“ Quelle WiKi*.
2010 hat Berlin das weltweit drittgrößte Straßenbahnnetz. Das Netz hat eine Streckenlänge von 189,4 Kilometern und 808 Haltestellen. Werner wäre stolz darauf. Nur wieso es keine Schaffner mehr gibt, würde er fragen. Wer soll denn den Passagieren Fahrscheine verkaufen und Fragen beantworten?

M.K.

*Die Berliner Straßenbahn:
https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn_Berlin

Familienportraits‭ ‬-‭ ‬Die Serie:
http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait Teil 11 – “Der Tod eines Preußen” / 1933 – 46

Es ist eine traurige, aber typische Geschichte für die Zeit des Nazi-Faschismus in Deutschland. Sie handelt von meiner Großtante Charlotte und ihrem Mann, Paul Springer, der sich preußischen Tugenden verpflichtet fühlte. Er war Polizei-Offizier. Wie viele Konservative hielt er die Nazis bei ihrer Machtübernahme für nützliche Idioten und unterstützte sie wohl auch. Er irrte sich gewaltig.

Auf Fotos sieht er sympathisch aus, ich hätte ihn gern kennengelernt, trotz unserer offensichtlichen politischen Differenzen. Doch das konnte ich nicht. Acht Jahre bevor ich geboren wurde, am 1. Mai 1946 ging er, “ohne Hut eine Zeitung kaufen”, wie sich seine Frau, Tante Lotte, erinnert. Er legte sich auf die Schienen der Heidekrautbahn und starb wenig später am Bahnhof Schildow, wohin man den Schwerverletzten gebracht hatte.

Charlotte, die jüngere Schwester meiner Oma, kam auch aus dem heimatlichen Liebenwerda nach Berlin und heiratete, Ende der 1920er Jahre, den Polizei-Offizier Paul Springer. Paul war eine “gute Partie”, ein Beamter, der ein kleines Depot an Wertpapieren zusammengespart hatte. Paul war außerdem ein begabter Hobby-Fotograf. Lotte ordnete sich ihrem Mann unter, da war sie ganz anders als meine Oma. Sie, vielmehr er, entschied sich gegen Kinder. Man wollte ein gutes Leben führen, delikat essen, schöne Kleidung tragen, ausgehen und Reisen machen.

Image  Ländliche Szene

Image  Olympische Spiele 1936

Paul stieg im Polizeidienst auf, in seinen Dienstbeurteilungen wird er gelobt, nur energischer gegen seine Untergebenen solle er werden. Laute Töne lagen ihm nicht, er setzte sich mit Ruhe und Geduld durch. Er fotografierte seine Familie, Sehenswürdigkeiten, spektakuläre Ereignisse und seine Kollegen vom Revier. Während der Olypischen Spiele 1936 war er in seinem Element, ihm gelangen prachtvolle Aufnahmen. Er und Lotte gingen gern ins Kino, manchen Bildern sieht man an, dass sie wie Filmeinstellungen komponiert sind.

Image   Filmreif: Am Bahnhof

Er war kein Nazi, aber konservativ. Anfänglich hatte er Sympathien für die neuen, braunen Machthaber. Wie viele Deutsche machte er den fatalen Fehler, Antisemitismus und Rechtsbruch der neuen Machthaber als “Kinderkrankheiten” zu betrachten.

Image  Ereignisse: 700Jahrfeier Berlin

Image  Kollegen in Zivil

Image Kollegen in Uniform

Zur Konfrontation kam es während der Novemberpogrome 1938. Als am 9. November gegen 22Uhr Geschäfte angegriffen wurden, die Juden gehörten, stellte Paul uniformierte Polizisten als Schutz vor solche Läden in der Friedrichstraße. Um Mitternacht ging auf dem Revier ein Telex der Gestapo ein, nachdem die Polizei jüdische Einrichtungen nicht mehr schützen sollte, bzw. nur Plünderungen verhindern sollte. Paul Springer soll sich noch eine Stunde unsichtbar gemacht haben, doch gegen ein Uhr nachts gab er den Befehl dann weiter.

Damit war seine Karriere im Dritten Reich beendet, der Polizeidienst machte ihm auch kaum noch Spaß. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen, während seine Nazi-Kollegen für unabkömmlich erklärt wurden.

Image  Rechts der Mann mit Tschako ist Onkel Paul

Tante Lotte und er überlebten den Krieg und er erhielt eine zweite Chance sich im Polizeidienst zu bewähren, weil er relativ unbelastet war. Schon im Mai 1945 wurde er von den Alliierten als Fachkraft auf dem Revier 2 angestellt. Kurze Zeit danach konnte er als Reviervorsteher den Wiederaufbau des Reviers 12 leiten.

Als Kind in den 1960ern hörte ich in der Familie, Onkel Paul habe sich in der Nazizeit nicht an Verbrechen beteiligt. Instinktiv hatte ich Zweifel und Historiker haben uns belehrt, die Polizei sei regelmäßig als Helfer der Nazischergen aufgetreten. So dachte ich, es sei nahe liegend Pauls tragisches Ende auch in Zusammenhang mit Verstrickungen in Untaten der Nazis zu sehen. Zur Vorbereitung dieses Textes bin ich nochmal alles Material durchgegangen und fand einen ausführlichen Bericht von Tante Lotte über die fatalen Ereignisse des 1. Mai 1946 und ihre Vorgeschichte. Über sein Motiv könnte ich, nach der Lektüre, nur noch spekulieren und das möchte ich nicht.

Zur Vorgeschichte erfuhr ich dies: Am 16. März 1946 sicherte Paul mit Kollegen eine Fliegerbombe ab, als es zur Explosion kam. Er wurde schwer am Kopf verletzt, Prellungen, Schnitt- und Platzwunden wurden im Krankenhaus versorgt. Trotz einer Gehirnerschütterung wurde er aus der nach dem Unglück überfüllten Klinik entlassen.

Nach einem Tag ging er wieder arbeiten, gegen ärztlichen und freundschaftlichen Rat glaubte er, preußische Disziplin üben zu müssen. Ständige Kopfschmerzen, Schwindel und eine leichte Verwirrtheit, die er gut überspielte, begleiteten ihn. Am 30. April war seine Krankheit so offensichtlich, dass er sich arbeitsunfähig schreiben lies.

Lotte schreibt dann: ” Nach dem Frühstück (am 1. Mai) schlief er nochmal. Als er zum Essen aufstand unterhielten wir uns und machten Pläne. Danach beschlossen wir einen Spaziergang zu machen und – da ich noch mit Hausarbeit beschäftigt war – sagte mein Mann, er wolle nur inzwischen eine Zeitung holen. Er ging ohne Hut von mir, ließ die Gartentür offen, weil er wohl die Absicht hatte sofort wiederzukehren. Dann sah ich meinen Mann nicht wieder und erhielt am Abend die schreckliche Gewissheit. Die näheren Einzelheiten über sein Ende bitte ich mir zu ersparen und aus den Protokollen zu entnehmen.” Lotte schieb den Bericht wegen ihres Versorgungsanspruchs an die Schutzpolizei.

Sie erklärt: ” Ich kann mir seinen plötzlichen Tod nur durch seine Kopfverletzung und etwa damit verbundene Besinnungslosigkeit bzw. Umnachtung erklären. Wahrscheinlich hat die Wärme und Gewitterschwüle dazu beigetragen, dass er das Bewusstsein verlor und den uns völlig unbekannten Weg einschlug zu dem uns völlig unbekannten Ort Schildow, um dort den Tod zu finden (oder wie er vielleicht in seinem Zustand glaubte: Ruhe vor Schmerzen und Depression).”

Paul Springer hatte sich vor die Heidekrautbahn gelegt und starb wenig später, wie die Sterbeurkunde sagt, am 1. Mai 1946 um 18 Uhr 45 in Schildow, am Bahnhof.

Image Alle Fotos: Paul Springer

Text: Marcus Kluge

Die anderen Familienportraits  sind hier zu finden:

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