Tag Archive | Liebe

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

Käte Kluge, meine Mutter, war Jahrgang 1922 , sie wurde Zeugin fast des ganzen 20. Jahrhunderts. Das Kriegsende vor 72 Jahren empfand sie als Befreiung. Sie war 22, nun konnte ihr Leben erst wirklich beginnen. Nur war der Mann, den sie liebte, verschwunden. Erst 1948 erfuhr sie, was mit ihm geschehen war.

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

Bild

Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

Bild

Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

Bild

Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

Bild

Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

Bild

Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

IMG_20130730_0003 (2)

Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

Bild

Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

Bild

Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

Bild

Marcus Kluge

Die ganze Serie findet Ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – „Are You Experienced?“ oder „Wie ich Hendrix verpasste“ / 4. September 1970

Am 4. September gab es in der Deutschlandhalle ein kleines Festival, als letzter Act und Hauptattraktion trat Jimi Hendrix auf. Außerdem standen Ten Years After, Procul Harum und Canned Heat auf dem Plakat. Die Zeitschrift „Stern“ war Mitveranstalter und ich hatte mir für 16.- Mark eine Karte gekauft. Ich war da an diesem Abend in der Deutschlandhalle. Aber Hendrix habe ich nicht gesehen. Ich wusste es damals nicht, natürlich nicht, doch es war das vorletzte Konzert das Jimi Hendrix jemals geben sollte. Zwei Wochen später war er tot, er starb am 18. September 1970 in London, im Alter von 27. Er hatte eine Mischung aus Rotwein und Schlaftabletten zu sich genommen und erstickte an Erbrochenem.
Als ich von Hendrix Tod in der Zeitung las, war ich traurig, ich ärgerte mich und ich verdrängte die Erinnerung an den 4. September 1970. Erst 44 Jahre später fiel er mir wieder ein und ich erinnerte mich, was damals geschah. Ich erinnerte mich, wieso ich den wahrscheinlich größten Gitarrenvirtuosen der 60er Jahre nicht erlebt hatte und ich erinnerte mich noch an etwas anderes. Es war auch der Tag, an dem ich meine Unschuld verlor.
6524_3

Ich hatte mal wieder die Schule gewechselt. Es war die fünfte Schule in sechs Jahren und das erste Mal, dass der Wechsel freiwillig war. Anfang 1970 hatte man mir mitgeteilt, kein Gymnasium in West-Berlin würde mich noch aufnehmen. Der Schulrat, den ich konsultierte, es war ein CDU-Mann, der später in einem Bauskandal auftauchte, verriet mir was ich schon geahnt hatte. Man bestrafte mich für mein politisches Engagement. „Ich wäre selbst schuld“, meinte er.

Dann ging ich ein halbes Jahr auf eine Privatschule, wo ich ausschließlich von gescheiterten Existenzen unterrichtet wurde. Ich war auf dem besten Wege selbst eine zu werden. Es war zwar unterhaltsam, aber ziellos. Also suchte ich eine Realschule, um wenigstens die Mittlere Reife zu machen. Der Direktor der Alfred-Wegener-Schule im großbürgerlichen Dahlem war bereit mich zu nehmen. Der Mann hatte eine Schwäche für Kultur und war beeindruckt, dass meine Mutter mit Schauspielern und Schriftstellern befreundet war. In seiner Schule fanden auch regelmäßig Nachdrehs für die damals beliebten „Pauker-Filme“ statt. Das einzige was mich an dem Mann irritierte war seine Kleidung, er trug stets braune Anzüge in eben jener Farbe, die die SA-Uniformen hatten.

Diese Schulwechsel empfand ich als qualvoll. Ich war eigentlich introvertiert bis zur Sozialphobie, aber ich maskierte meine Verfassung mit Extrovertiertheit und ich spielte den Klassenclown. Dadurch blieb ich zwar Außenseiter, aber wenigstens beliebter Außenseiter. Leider kostete dieses Auftreten viel Kraft und das sollte Folgen haben.
Zunächst legte ich mich mit dem Mathematiklehrer an. Der hatte die Angewohnheit die Schüler zu Beginn jeder Stunde mit einem Spiel zu „wecken“. Er stellte Rechenaufgaben und warf dann ein Stück Kreide auf einen der Schüler, der blitzschnell antworten musste. Er benutzte den Ausdruck „flink wie Windhunde“. Damit war er sehr „flink“ zu meinem Feind geworden. Als dann die Kreide in meine Richtung flog, verschränkte ich meine Arme und blieb selbstverständlich auch stumm. Erst als er mich nach meiner Verweigerung befragte, erklärte ich ihm: „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!“, hätte schon einmal eine Jugend verdorben und für den Krieg tauglich gemacht und man solle doch vorsichtig sein mit solchen Begriffen. Ich setzte noch hinzu, Einstein wäre in der Schule im Kopfrechnen sehr schlecht gewesen und ich nähme mir an ihm ein Vorbild. Der Lehrer war sauer, weil ich ihn in die Nazi-Ecke stellte, doch er ließ sie Sache auf sich beruhen. Später stellte er sich als Sozialdemokrat und Willy Brandt-Fan heraus. Es war einfach normal, auch 25 Jahre nach Kriegsende noch, solche Nazi-Sprüche zu benutzen. Er hatte sich „nichts“ dabei gedacht. Ich aber hatte damit einen Spitznamen bekommen, ich hieß nur noch „Einstein“. Die Anekdote sprach sich bald herum und da ich optisch ziemlich auffällig war, mit meinen langen Haaren, wusste bald jeder in der Schule, wer ich war. Ein paar Tage später wurden die Schulsprecher gewählt und ich wurde einer der Stellvertreter. Glücklicherweise brauchte ich das ganze Schuljahr lang nicht in Funktion zu treten.
640px-Jimi_hendrix_woodstock

Hendrix’ Stratocaster.

An jenem Freitag, dem 4. 9., hatte ich nach der fünften Stunde frei und als ich aus dem Schultor trat, stellte ich fest, es regnete kräftig. Vor dem Tor stand eine Schülerin aus der Parallelklasse mit einem Schirm, Susanne Fleischbauer. Sie hatte braune, lockige Haare, strahlende, blaue Augen und einen Kussmund. Ich hatte sie in der Raucherecke kennengelernt, sie war mir sympathisch und ich hatte mir vorgenommen mich bei Gelegenheit mit ihr zu verabreden. Mehr aus Jux klagte ich: „Igitt, da werden ja meine schönen Haare nass.“ Erstaunlicherweise ließ sich Susanne darauf ein und bot an, mich mit ihrem Schirm zur Haltestelle des Einsers zu bringen. Wir unterhielten uns gut bis mein Bus in Richtung Innenstadt kam und Susanne stieg mit ein, obwohl sie nach Zehlendorf-Mitte gemusst hätte. Wir sprachen über das Super Concert und sie war neidisch auf mich. Wir sprachen über die Bands, die auftreten würden und kamen auch auf Birth Control zu sprechen, eine Berliner Band, die das Vorprogramm bestritt und sie teilte mir beiläufig mit, sie würde die Pille nehmen. Sie wäre auch gern in die Deutschlandhalle gegangen, aber sie war verhindert, wegen eines Familientreffens. An der Blissestraße stieg sie mit mir aus und wir liefen die drei Ecken bis zu meiner Wohnung Arm in Arm. Mittags war ich allein zuhause, meine Mutter war in ihrem Phonoklub, mein Vater wohnte nicht mehr bei uns und mein Bruder arbeitete auf dem Flughafen Tempelhof.
In meinem winzigen Zimmer, neben einem schmalen Bett war nur Platz für ein Bücherregal, zogen wir uns aus und schließlich taten wir „es“. Ich hatte mir mein erstes Mal natürlich romantischer vorgestellt, aber ich war froh es hinter mir zu haben, weil ich auch Angst davor hatte. Angst etwas falsch zu machen und mich zu blamieren. Aber „es“ war total einfach und machte sehr viel Spaß. Erst Jahre später wurde mir klar, dass sie mich verführt hatte. Ich war ja viel zu schüchtern, um ein Mädchen zu verführen. Auf jeden Fall war ich schwer begeistert, wir schliefen gleich nochmal miteinander, bevor sie nach Zehlendorf-Mitte und ich in die Deutschlandhalle musste. Schon auf der Fahrt dorthin spürte ich Anzeichen für eine Verliebtheit bei mir.

Band72-1

Birth Control.

In der Halle spielte bereits „Birth Control“*, für die es eine Ehre war, als einzige Vorgruppe zu fungieren. Wie die meisten deutschen Bands damals, interessierten mich Birth Control nur am Rande, doch ich fand sie ziemlich gut an diesem Nachmittag. 1966 hatte sich B.C. aus den „Earls“ und den „Gents“, Berliner Beatbands der ersten Stunde, gebildet, Gründungsmitglied war unter anderem Hugo Egon Balder. Der wurde allerdings recht bald durch Bernd Noske als Drummer ersetzt. Noske wurde auch zum Sänger und zur integrativen Kraft hinter der Band, er starb erst kürzlich, im Februar 2014. In den ersten Jahren spielten Birth Control vor allem Cover, dann entwickelten sie einen breiten Blues mit langen Solo-Einlagen. 1969 hatten sie ein dreimonatiges Engagement in einem Nachtklub in Beirut. 1971 spielten sie als erste deutsche Band im Londoner Marquee Club, 1972 erschien ihr einziger Hit: „Gamma Ray“. Das Lied wurde 1990 auch von der Techno-Szene adaptiert.

Doch so ganz flog der Funke nicht zu mir über, an diesem Nachmittag in der Deutschlandhalle. Ich war auch noch in Gedanken bei Susanne. Ich kam erst richtig in Stimmung, als Procul Harum ihren bombastischen Rock aufführten. „A Whiter Shade of Pale“ spielten sie zwar nicht. Aber auch Stücke wie „A Salty Dog“, gesungen vom charismatischen Gary Brooker, waren damals schon Klassiker und das Publikum freute sich.

Bei Canned Heat** gerieten die schwer zu begeisternden Berliner schier aus dem Häuschen und ich mit ihnen. Der Rauch von diversen Joints brachte ein wenig Woodstock ins provinzielle West-Berlin und Bob „The Bear“ Hite verbreitete gute Laune. Kaum zu glauben, es war nur einen Tag her, das man Alan „Blind Owl“ Wilson, Gitarrist und Gründungsmitglied der Band, leblos in der Nähe Bob Hites Haus gefunden wurde. Kurz bevor die Band in die Maschine nach Berlin stieg, erfuhren sie von Al Wilsons Tod.

Canned_Heat_1970Canned Heat,  Bear in der Mitte, Al Wilson 2. v. rechts.

„On September 3, 1970, just prior to leaving for a festival in Berlin, the band was shattered when they learned of Wilson’s death by barbiturate overdose; found on a hillside behind Bob Hite’s Topanga home. Believed by de la Parra and other members of the band to have been a suicide, Wilson died at the age of 27“ WiKi

Der Show in der Deutschlandhalle war es nicht anzumerken und ich wusste nichts davon. Internet oder Twitter gab noch nicht und die Zeitungen meldeten nur den Tod von Weltstars. Meine Stimmung konnte gar nicht besser sein. Ich dachte wieder an Susanne und den unglaublichen Nachmittag, der hinter mir lag und freute mich schon, sie wiederzusehen.

Die Umbaupausen dauerten sehr lange, so war es bereits deutlich nach 22 Uhr, als Ten Years After auf die Bühne kamen. Neben Eric Clapton gehörte Alvin Lee damals zu meinen absoluten Gitarrengöttern. Aber nach einer halben Stunde merkte ich, ich hatte genug gute Musik gehört und konnte nichts mehr aufnehmen und ich war müde. Außerdem war ich in Gedanken schon am nächsten Morgen in der Schule, wenn ich Susanne wiedersehen sollte. Darauf freute ich mich sehr und ich wollte ihr nicht allzu unausgeschlafen entgegentreten. Ich war ja überzeugt, nun würde Susanne meine Freundin werden und ein großartiger Lebensabschnitt stand mir bevor. So dachte ich mir das. Also traf ich die Entscheidung, die ich ein paar Wochen später sehr bedauern würde. Ich hatte auch gehört, dass Hendrix zur Zeit ohnehin keine sehr guten Konzerte gab. Ich würde ihn mir anhören, wenn er das nächste Mal in Berlin Station machen würde. Wieso auch nicht?

Ob Hendrix an diesem Abend gut war, darüber streiten sich die Zeugen. Die Mehrheit des Berliner Publikums war wohl mit Hendrix unzufrieden. Robin Trower, der Gitarrist von Procul Harum berichtet von diesem Gig und er hat eine Erklärung:
I think it was above their [the audience’s] heads you know? I mean, I couldn’t take in a lot of what he was doing and I’m a musician, a guitarist, so you can imagine what it was like for them.
So anyway, then I was walking up and down outside the dressing room after he’d come off, and I was sort of saying, “Should I go in?” Then I burst into the dressing room all of a sudden and said, “Er, I’ve gotta tell you, it was the best thing I’ve ever seen.”
Which it was. And he said, “Uh, thank you, but, uh, naw.” And I just went, “Whoops, that’s it,” and walked out again.

Are_You_Experienced_-_US_cover-edit
Danach soll ihm Gerd Augustin*** backstage Uschi Obermayer vorgestellt haben. Der Musikmanager erinnert sich: “…Ich brachte nun auf Hendrix’ Deutschland-Tour, Uschi (Obermaier) in Berlin mit Jimi zusammen. Das war genau drei Wochen vor seinem Tod. Uschi war überglücklich, als ich sie mit in Hendrix’ Garderobe nahm, wo außer uns nur noch der Drummer Mitch Mitchell und seine Freundin Karen abhingen. Dort ließen wir es uns dann richtig gut gehen.”

Zwei Tage vor dem Berliner Auftritt hatte Hendrix ein Gig in Aarhus nach drei Songs abgebrochen. Mit den Worten: „I’ve been dead a long time!“ verabschiedete er sich vom Publikum. Sein letztes Konzert auf der Insel Fehmarn, am 6.9., geriet zu einem Desaster. Hendrix kehrte nach London zurück, wo ihn seine Freundin Monika Dannemann am Vormittag des 18.9.1970 leblos fand. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Er hatte nach Dannemanns Aussagen, neun Schlaftabletten genommen, die 18-fache Normal-Dosis von Vesparax, einem Barbiturat, das heute nicht mehr verschrieben wird. Es gab trotzdem keinerlei Anzeichen für einen Selbstmord. Hendrix war 27 als er starb. Genau einen Monat nach dem Super Concert starb auch Janis Joplin mit 27, an einer Überdosis Heroin. Am 1. 10. 1970 wurde Hendrix in seiner Heimatstadt Seattle beigesetzt.

IMG_20131127_0004

Der Autor 1970.

Ich fuhr nach Hause, konnte aber lange nicht einschlafen, zu viel ging mir durch den Kopf. Trotzdem war ich am nächsten Morgen bester Laune. In der ersten großen Pause hielt ich Ausschau nach Susanne, sie kam aber nicht in die Raucherecke. Erst als ich nach der letzten Stunde auf sie wartete, passte ich sie ab, ich hatte den Eindruck, sie wollte mir aus dem Weg gehen. Ich verstand die Welt nicht mehr und stellte sie zur Rede.
Erst druckste sie herum, sie war merkwürdig kleinlaut, schließlich fand sie Worte, doch ich kann mich nicht daran erinnern, wie sie sich genau ausdrückte. Zu heftig traf mich ihr Geständnis. Ich fühlte mich, als hätte man einen Kübel mit Eiswasser über mir ausgeschüttet. Sie würde schon zwei Tage für ein Jahr als Austauschschülerin in die USA gehen. Bis dahin hätte sie auch keine Zeit mehr mich zu sehen. Sie hatte sich wohl bewusst mit mir eingelassen, weil durch ihre Reisepläne eine Beziehung nahezu ausgeschlossen war. Ich habe eine ziemliche Weile gebraucht, bevor ich mich wieder mit einer Frau einließ und ich war misstrauisch geworden, durch meine Erfahrung.
Sechs Wochen vor Ende des Schuljahrs wurde ich krank, es rächte sich, dass ich permanent gegen meine Natur den extrovertierten Klassenclown spielte. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, hatte wohl auch einen Infekt verschleppt und mir eine schwere Lungenentzündung zugezogen. Der Direktor mit den braunen Anzügen gab mir trotzdem die Mittlere Reife. Vielleicht wollte er mich nicht ein weiteres Jahr auf seiner Schule.

Als Susanne ein Jahr später zurück kam, war an eine Beziehung nicht mehr zu denken, zu viel war passiert. Als Geschenk brachte sie mir einen schönen Arbeitsoverall aus den Staaten mit.

Inzwischen habe ich mir Jimis Auftritt vom 4. 9. 1970 bei You Tube herausgesucht und angehört. Nein, es wäre nicht mein Geschmack gewesen und selbst heute kann ich dem egozentrierten Spiel von Hendrix, an diesem Abend, wenig abgewinnen. Es mag artistisch wertvoll sein, aber ich bevorzuge eher bodenständigen Blues, mein Musikgeschmack ist nicht raffiniert.

Susanne ist also nicht meine erste Liebe geworden, aber eine Verbindung gab es trotzdem. Zwei Jahre später lernte ich zufällig Ilona kennen, sie erzählte mir, ich könne sie bei einer Modenschau wiedersehen. Aber wie sollte ich ohne Einladung da reinkommen? Ich beschloss mich als Pressefotograf zu tarnen. In der Modeszene waren gerade amerikanische Overalls total in und ich zog den von Susanne geschenkten an. Mit Overall und Kamera wurde ich problemlos eingelassen. Ich sah Ilona wieder und sie wurde meine erste große Liebe.

M. K.


* http://de.wikipedia.org/wiki/Birth_Control

** http://de.wikipedia.org/wiki/Canned_Heat

***Gerd Augustin:
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ra&dig=2011%2F09%2F22%2Fa0022&cHash=0515723d28f9b052f5c6a4577fdccde8

Fotos: ©M. Kluge oder creative commons

Erste Liebe: https://marcuskluge.wordpress.com/2014/09/12/familienportrait-grose-liebe-blei-streu-strase-wg-und-tolstefanz-1973-74-3/

Familienportrait: “Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999

img_20140309_0003

IMG_20140919_0003

Drei Uhr am Nachmittag, trotz der Sonnenstrahlen ist es eiskalt im Tiergarten. Wir drücken uns um eine Bank herum und rauchen. Das Kino fängt erst um halb vier an. “Easy Rider” läuft im Kino Bellevue am Hansaplatz. Zuerst ist es im Kino auch noch kalt, doch dann wird uns fast so warm, wie den beiden Bikern im Film, auf der Leinwand vor uns. Trotz des traurigen Endes, die von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson gespielten Figuren sterben, haben wir gute Laune. Der Film hat uns Kraft gegeben. Andi, Richard und ich spinnen herum, wie wir durch Amerika biken, Geld verdienen und uns als Rockband feiern lassen. Das meiste davon ist utopisch, doch die Geschichte mit der Band verfolgen wir weiter. Es ist der 11. März 1970.

In diesem Sommer und Herbst werde ich mir immer wieder die Nase an Otto Simonowskys Musikhaus am Zoo plattdrücken. Erst 44 Jahre später werde ich erfahren, dass auch Dee Dee Ramone hier seine erste Gitarre gekauft hat. Da er mit der sechsseitigen Gitarre nicht gut klarkommt, wechselt er später zum Bass. Ich träume von Anfang an von einem Bass. Ich ahne, dass sechs Saiten zuviel für mich sind.

Im Sommer 1970 gehe ich mit Andi zum Smoke-In im Tiergarten. Jeden Sonnabend nachmittags sitzen hier “Gammler”, so werden sie im Fernsehen genannt. Sie drehen Joints und kiffen. Beim ersten Mal gab es noch Flugblätter, die das Happening als politische Demonstration bezeichnen. Eine Art Demo ist es auch, aber hauptsächlich ist es eine kollektive Lebensäußerung von Außenseitern in einem Land, das zum Spießbürgertum neigt und das aus seiner Nazivergangenheit kaum etwas gelernt hat. Die Langhaarigen, die hier mit Bongos, Gitarren und Maultrommeln sitzen, provozieren, testen ihre Spielräume aus und sie vertreiben mit ihrem Tun die kleinbürgerlichen Geister der Vergangenheit. Über der Szene bilden sich Rauchwolken. Die Polizei ist auch da, berittene Beamte umkreisen in weitem Bogen die “Gammler”.

Andi und mich nennt man auch Gammler mit unseren mehr als schulterlangen Haaren, den ausgefransten Jeans und den Batik-T-Shirts. Zum Beispiel, wenn wir an Baustellen vorbei kommen hören wir: “Euch hätte man früher vergast.” oder “Geht doch in den Osten, ihr Dreckschweine.” Schläge werden uns angedroht und manchmal müssen wir auch flitzen, um diesen zu entgehen. Acht oder neun Jahre später werde ich wieder an Baustellen vorbeikommen und wieder werden mir Schläge angedroht, nur dieses Mal wegen meiner raspelkurzen Haare, selbst wenn sie nicht gefärbt sind. Denn die Bauarbeiter haben inzwischen selbst lange Haare und lange Koteletten, sie tragen Jeans und bunte T-Shirts, während ich nur noch schwarz trage.

Zu Weihnachten 1970 bekomme ich einen weißen Höfner-Bass, der aussieht wie eine Telecaster. 1971 treten wir ein paarmal auf. Es macht viel Spaß, Andi zeigt mir die Bassläufe, ein großes musikalisches Talent habe ich, im Gegensatz zu ihm, nicht. Richard trommelt, Rolf spielt klaglos Rhythmusgitarre, während Andi sich in ultralangen Solos verliert. Dann wird unsere Anlage geklaut, damit ist das Thema Band für mich erstmal erledigt. Andi jammt mit unterschiedlichen Musikern, in eine neue Band steigt er nicht ein.

Die meisten meiner Freunde sind Frauen und die männlichen sind meist sehr kommunikativ veranlagt. Wenn wir zusammen sind, sprechen wir stundenlang miteinander und wenn wir uns trennen, bleibt Vieles ungesagt, das eigentlich noch gesagt werden müsste. Nur mit Andi ist es anders, wir sprechen nicht soviel. Manchmal laufen wir lange nebeneinander durch den Wald ohne irgendein Wort. Wenn wir reden, dreht es sich um Liebe, Sehnsucht und unsere Träume. Über Frauen sprechen wir häufig, wenn wir Liebeskummer haben, trösten wir uns und frozzeln herum, bis der Blues wieder besser wird.

Andi ist fast immer in eine Frau verliebt. Meist aus der Distanz, aber in erreichbarer Ferne. Wenn es dann zu einer Beziehung kommt, dauert diese meist nicht lange. Andi mit seinen langen, dunklen Haaren und dem androgynen Blick macht auf viele Frauen Eindruck. Er ist aber nie an einem One-Night-Stand interessiert, für ihn gibt es immer nur das momentane Ideal, die aktuelle Frau seiner Frau seiner Träume, die große Liebe. Wenn er dann mit ihr zusammen ist, kann die Wirklichkeit nicht mithalten mit dem Traum. Für mich kann die Realität zum Traum werden, ich verliebe mich auch in Frauen, die ich zufällig treffe oder die auf mich zukommen. Für ihn ist nur der Traum die Realität. Nur die Eine zählt und im Laufe seines Lebens ändert sich das nicht. Im Gegenteil, er wird immer zentrierter auf die jeweilige Traumfrau und die Frauen, die er sich aussucht sind immer weiter entfernt von ihm und immer schwerer zu erobern.

Anfang der 70er Jahre sind wir noch jung und wir glauben an unsere Träume. Oft fotografieren wir uns, im Tiergarten oder in Kudammnähe. Einmal ist seine derzeitige Flamme Sabine dabei. Ich fotografiere die beiden in der klassischen Film-Ende-Pose, wie sie mit ihren Levis in Richtung Sonnenuntergang marschieren. Wie Andi auf sie gekommen ist, kann ich nicht nachvollziehen. Nach ein paar Tagen bekommt er auch Zweifel und beendet die Romanze.

Bild

Andi und ich gehen zusammen tanzen. Eine Weile besuchen wir donnerstags die Dachluke am Mehringdamm. Der Disc-Jockey ist meistens Gunter Gabriel, erst zwei oder drei Jahre später wird seinen ersten Hit haben: “Er fährt ‘nen 30 Tonner-Diesel”. Gegen zehn, wenn die Tanzfläche noch leer ist, spielt er für uns den “Midnight Rambler” von den Rolling Stones. Dann ziehen wir unsere Tanzshow ab, die langen Mähnen und die zehn Zentimeter hohen “Market”-Boots spielen dabei eine wichtige Rolle. Ich weiß das “strangle” würgen heißt, trotzdem wird mir erst Jahre später klar, dass der Song einen Serienmörder beschreibt.

1972 fahren wir im Sommer auf die Insel Texel, als Kind war ich schon mal da, die wilde Nordsee hat mir gut gefallen. Wir haben uns ein Zelt geborgt, als wir am späten Abend auf dem Campingplatz ankommen bauen wir es auf, so gut wir können. In der Nacht regnet es und wir wachen klitschnass auf am nächten Morgen. Zum einen haben wir in einer Senke gezeltet und das Zelt war auch nicht richtig geschlossen. Trotz solcher Probleme geniessen wir die Zeit sehr. Hier regt sich niemand über unsere langen Haare auf und wir lernen nette Leute kennen. Nur das Wetter ist nicht so toll. Oft sitzen wir in der gemütlichen Caféteria, essen leckere Pommes und trinken Kakao. Das geht ins Geld. Abends gehen wir ein paarmal in die große Disco, dort sehen wir Bands wie Golden Earring, Ekseption und Focus. Besonders die beiden letzten gefallen Andi, er mag die Einflüsse klassischer Musik. Er ist ein großer Fan von Keith Emerson, der bei The Nice und Emerson, Lake & Palmer, Bach und andere klassische Komponisten einfließen lässt. Ich bin kein Fan dieses Stil-Mixes, doch live ist es OK für mich. Schliesslich sind wir pleite. Ich muss meine Mutter anrufen und sie schickt uns Geld.

Zurück in Berlin überredet Andi mich, mit ihm ins Big Eden zu gehen. Mir ist die große Disco am Kudamm eigentlich zu poppig, aber ich bin ein guter Freund, oder vielleicht will ich nur nicht allein tanzen gehen. Es ist die Zeit des Glam-Rocks, wir stylen uns androgyn mit Augen-Make-Up, weiten Hosen und hohen Absätzen. Da wird man ab und zu blöd angemacht und zu zweit lässt sich das besser aushalten. Und immerhin hat Andi Recht, im Big Eden kann man gut Frauen kennenlernen.

Er lernt zuerst jemand kennen und hat für ein paar Monate eine Beziehung. Dann lerne ich Katrin kennen, sie ist 17 und hat schon ein Kind. Sie wohnt in einem Heim für minderjährige Mütter in Grunewald. Sie ist ein herzensguter Mensch, ein bißchen zu gut vielleicht. Mit Rolf Eden hatte sie eine Romanze, oder viel mehr was der “Playboy” dafür hält. Sie fand es schick im Porsche herumkutschiert zu werden und in teuren Restaurants essen zu gehen. Der Sex mit dem 42jährigen Kneipier scheint ihr eine akzeptable Gegenleistung zu sein. Ich sehe das anders, aber halte den Mund um sie nicht zu verletzen. Auf jeden Fall sind mir Gestalten wie Eden zuwider seitdem. Das arme Mädchen denken zu lassen, da wäre eventuell ein wohlhabender Mann, der für sie und ihre Tochter sorgen könnte ist schäbig. Egal wie naiv Katrins Hoffnung gewesen sein mag. Ich denke sehr ernsthaft darüber nach, ob ich für Katrin mehr als ein Flirt sein könnte. Ich bin selber noch ein Kind, habe keinen richtigen Job, keinen Beruf. Mit meiner “no future”-Perspektive bin ich nicht der Richtige für sie und die Liebschaft ist zuende, noch bevor sie richtig angefangen hat. Auch Andi ist bald wieder Single.

Den Juli 1973 verbringt Andi mit meiner Familie in St.-Jean-de-Monts am Atlantik. Er ist froh nicht mit seinen Eltern Urlaub machen zu müssen. Ich lasse mir die langen Haare abschneiden in diesem Urlaub. In Frankreich nervt es besonders lange Haare zu haben, da sind die Franzosen weder sehr freiheitlich noch brüderlich. “Ils sont chauvins”, sagt uns ein Mädchen. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, wieso ich zum Friseur gehe, ich habe das Gefühl erwachsen werden zu müssen und die Matte scheint mir da zu stören. Andi findet es blöd, dass ich mich unter die Schere begebe. Er mag auch das modische Tweed-Sacco nicht das ich jetzt öfter trage.

Bild

St.-Jean-de-Monts

Andi ist ein Nachzügler. Sein Vater ist ein pensionierter Studienrat, seine Schwester war schon aus dem Haus, als Andi zur Welt kam. Auf dem Rückweg von der Atlantikküste besuchen wir Andis Eltern, die am Stadtrand von Paris ein Feriendomizil haben. Mir fällt auf, wie wenig seine Eltern ihn verstehen oder auf ihn eingehen. Sie behandeln ihn wie ein Kind und können wenig mit diesem androgynen Mädchenschwarm anfangen, der unmerklich unter ihrer Obhut groß geworden ist. Groß ja, aber nicht erwachsen.

Wieder in Berlin entwickeln sich unsere Leben unterschiedlich. Ich gehe nicht mehr tanzen mit ihm. Ich lege jetzt selber Scheiben auf, im ersten Tolstefanz in der Sächsischen Straße. Andi kommt nur einmal vorbei, es gefällt ihm nicht. Ich wohne mit Ilona, meiner ersten großen Liebe in einer WG in der Schlüterstraße. Nach der Trennung von Ilona ziehe ich zu einem Freund in die Knesebeckstraße. Währendessen hat Andi seine einzige längere Beziehung. Dreieinhalb Jahre ist er mit seiner Traumfrau zusammen. Die Trennung die folgt erlebt er als traumatisch. Er fühlt sich tief verletzt, betrogen und er macht den Fehler zu verallgemeinern. Danach wird er von “den Frauen” sprechen und es wird ihm an diesem Grundvertrauen fehlen das erforderlich ist, um eine partnerschaftliche Beziehung einzugehen. Ich versuche ihm diese Misogynie auszureden, aber da hat sich etwas festgesetzt bei ihm.

Richtig erwachsen kommt er mir nie vor, auch in seinem späteren Leben nicht. Er war Peter Pan ähnlich, der immer ein Junge blieb. Ich konnte mir Andi nie in einem Büro oder in einer Fabrik vorstellen. Er versuchte das Leben leicht zu nehmen, “easy” war eines seiner Lieblingswörter. Ich weiß nicht was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht das Taxi fahren zum Gelderwerb entdeckt hätte. Das Taxi fahren ermöglicht ihm weiter seinen Träumen nachzuhängen, so braucht er keine weitreichenden Entscheidungen treffen. Er verdient gut dabei, er fährt lange Schichten, ist freundlich und bekommt viel Trinkgeld. Er ist sich durchaus dieser Schwebe bewusst, in der sich seine Existenz befindet. Taxi fahren ist kein richtiger Beruf für einen Schöngeist, einen begabten Musiker wie ihn. Aber er fährt weiter und er leidet darunter, dass die Menschen, die er fährt ein richtiges Leben führen, eine richtige Arbeit haben und eine richtige Familie. Das Alles hat er nicht und er fühlt, da ist ein Spalt zwischen ihm und seinen Fahrgästen und er weiß nicht wie er diesen Spalt überwinden soll, um ins richtige Leben zu gelangen. Er kauft sich ein kleines Studio zusammen, vom Taxigeld und pfriemelt nächtelang an seinen Tracks, ist aber nie so richtig zufrieden.

Bild

Ausflug 1990

In der Zeit nach dem Mauerfall machen wir viele Ausflüge. Ich habe noch keinen Führerschein, den schenke ich mir erst zum 40sten Geburtstag und er hat einen gewissen Spielraum die bequeme Daimler-Droschke privat zu nutzen. Meist nehmen wir meine Mutter mit. Sie und er mögen sich, so wie meine Mutter hätte er sich seine eigene auch gewünscht. Wir besuchen Langschaftsgärten in Branitz und bei Dessau, dort besuchen wir auch das Bauhaus. Wir fahren nach Bad Muskau an der polnischen Grenze. Auch dort hat Fürst Pückler einen grandiosen Park geschaffen, die abgebrannte Ruine eines Schlosses krönt die Lausitzer Parklandschaft an der Neisse. Meine Mutter hat sentimentale Erinnerungen, sie war im Krieg dort ausquartiert mit ihrer Arbeitsstelle, hat dort das erste Mal allein gewohnt. Mein Vater hat sie auf Fronturlaub besucht, als Alles noch offen war, ob sie wirklich ein Paar werden oder gar heiraten und ein Kind bekommen. Wir besuchen auch Bad Liebenwerda, wo meine Familie mütterlicherseits herkommt. Meine Oma musste es 1910 verlassen um in Berlin in “Stellung” zu gehen. 15 war sie da.

Bild

Bad Liebenwerda, 1990

Anfang der 90er Jahre besucht er mich in meinem Büro im Offenen Kanal Berlin. Das ich so eine richtige Aufgabe finde, hatten wir beide nicht erwartet. Er würde gern weg vom “auf dem Bock sitzen” und fremde Leute kutschieren. Er hat eine Idee, er würde gern mit Musik Geld verdienen. Er hat eine fünfstellige Summe ausgegeben, um sich ein fast professionelles Tonstudio aufzubauen. Er würde gern Filme vertonen, Filmmusik schreiben, Jingles für Werbung oder On-Air-Promotion fabrizieren. Ich kann ihm erklären, wie so etwas technisch funktioniert. Doch ich kann ihm nicht helfen in die Branche zu kommen. Eigentlich braucht man Beziehnugen dafür und die bekommt nur, wenn man irgendwie in diesem Bereich arbeitet, egal als was. Und einen langen Atem muss man haben. Soziale Kompetenz hilft viele Kollegen kennen zu lernen. Und nie darf man müde werden auf eine Chance zu warten. Andi hat weder einen langen Atem noch ausgeprägte soziale Kompetenz. Ich biete ihm an, eine Produktion zu suchen die jemanden braucht der die Filmmusik komponiert, damit er erste Erfahrungen sammeln kann. Das will er aber nicht. Ich kann nur vermuten, er hat Angst zu versagen, sich vor fremden Leuten zu blamieren.

Ich zeige Andi noch den Sender, dann fahren wir in Richtung Kudamm um bei mir noch ein Bier zu trinken. Ich glaube es passierte im Bahnhof Seestraße. Kurz nach dem Losfahren macht der U-Bahnfahrer eine Vollbremsung, wir die Fahrgäste hören ein schrilles Quietschen und das Licht geht aus. Die Türen sind blockiert, wir können uns denken was da passiert es. Erst nach zehn Minuten werden wir von Feuerwehrleuten aus dem Bahnhof geführt. Nur in eine Richtung dürfen die Fahrgäste den Bahnhof verlassen. In Richtung des Triebwagens wird niemand gelassen, dort wo ein armer Teufel eben sein Leben verloren hat, nicht ohne dabei den Zugfahrer zu traumatisieren. Das Schlimmste, das was ich nicht vergessen werde, ist der Geruch. Die U-Bahn ist gesperrt, die Busse sind voll, also laufen wir einfach vom Wedding bis zum Kranzler-Eck, mitten durch den Tiergarten, wo wir uns als Teenager fotografiert haben. Wir laufen stumm nebeneinander. Eigentlich wollten wir bei mir am Rankeplatz noch ein Bier trinken. Wir lassen es, es ist uns nicht danach. Vor dem Kudamm-Eck umarmen wir uns zum Abschied.

Bild

Dänemark 1993

Noch einmal machen wir zusammen Urlaub, wir wohnen in einem Wohnwagen an der Ostsee in Dänemark. Wir reden nicht viel, machen lange Wanderungen, spielen Karten. Es fehlt uns nichts, wir sind zufrieden. Manchmal abends fühlen wir eine Leere, dann geht einer von uns zu der netten Kaufmannsfrau und bringt ein halbe Flasche Gammel Dansk zurück. Große Flaschen gibt es nicht. Ich arbeite viel in den 90er Jahren. Er fährt Taxi und macht Musik. Er findet tatsächlich eine Band mit der er eine Weile zusammen spielt. Er nimmt sogar ein Album auf mit “Prussia”, er ist inzwischen auf den Bass umgestiegen. Das ist nochmal ein Entwicklungsschritt von ihm, das Soli spielen auf der Gitarre aufzugeben und brav den Bass zu bedienen. Vielleicht wird er doch noch erwachsen.

Die Nachricht ist ein Schock. Meine Mutter ruft mich an, berichtet das Andis Schwester sie informiert hat, meine neue Telefonnummer hat sie nicht gefunden. Andi ist tot, völlig überraschend ist er krank geworden. Er hat keine Luft mehr bekommen, es soll ein Pilz in seiner Lunge gewesen sein. Die Ärzte konnten nichts mehr tun. Das ist jetzt viele Jahre her, trotzdem vermisse ich Andi, ich denke oft an ihn und träume von ihm. Bis heute.

Marcus Kluge

Dieser Text ist jetzt auch in gedruckter Form erhältlich. Das “Xanadu-Fanheft” vereinigt Geschichten, Fotos und Materialien zu Kindheit und Jugend in den 1960er und frühen 1970er Jahren. “A Saucerful of Löschpapier”, “Halber Mensch” und “Porno, Hasch und Rauschgifthunde” ergründen das Klima in der Mauerstadt West-Berlin. Für 5 Euro kann man das Heft bei marcusklugeberlin@yahoo.de bestellen, oder für 18 €  zusammen mit dem Roman (Inkl. Verpackung und Porto innerhalb Deutschlands)

“Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll in West-Berlin” Roman, 148 Seiten Format DINA5 beschnitten, mit 13 Illustrationen, erschienen Juli 2015 bei “Edition Assassin”, 13Euro inkl. Verpackung und Porto.

Bestellbar bei: marcusklugeberlin@yahoo.de

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

IMG_20131012_0016 (2)

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

Bild

Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

Bild

Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

Bild

Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

Bild

Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

Bild

Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

IMG_20130730_0003 (2)

Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

Bild

Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

Bild

Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

Bild

Marcus Kluge

Obwohl wir hier schon etwas weiter in die Zukunft geblickt haben, weil es mir wichtig war die Scheidung als Kriegsfolge nicht zu verschweigen, wird die Reihe fortgesetzt. Die nächste Geschichte handelt von meiner Geburt und meinem Kindermädchen, die zu “My Fair Lady” wurde.

Die ganze Serie findet Ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Neue Seite: „Nackte, Nazis, Nervensägen“ – Offener Kanal Berlin – Drei Geschichten

Drei Geschichten über die frühen, wilden Jahre des legendären Senders, der heute erwachsen geworden ist und sich “ALEX” nennt.

“1985 hält die mediale Zukunft Einzug in West-Berlin, ein sogenanntes Kabelpilotprojekt wird gestartet. Das ich, als Profi, Teil davon sein werde, kann ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Ich bin 30 und hatte noch nie eine “richtige” Arbeit, also nie einen Fulltime-Job gehabt und war nie rentenversichert. Ich versuchte es probeweise als Tankwart, Babysitter, Altenpfleger, Werbetexter, Verkäufer und Journalist, ohne das mir dieses “Was bin ich?”-Spiel Spaß machte und ohne überzeugenden Erfolg in einer dieser Professionen. 1986 heirate ich und weil ich keine andere Arbeit finde, beginne ich an der Hochschule der Künste als Pförtner. Daneben mache ich beim OKB Fernsehsendungen, unbezahlt, aber nicht ohne Gewinn. Ich lerne das Handwerk und 1988 habe ich die Möglichkeit die Disposition zu übernehmen und den ungeliebten Pförtnerjob zu kündigen. 18 Jahre werde ich bleiben.”

Teil 1 -„ Achterbahn und heiteres Beruferaten”

http://wp.me/p3UMZB-1ls

funkmarc1-2

“Es ist schon merkwürdig, aber der Offene Kanal Berlin ist in den Berliner Medien nur selten thematisiert worden. Zumindest bis 2003, also solange ich dort gearbeitet habe. Zu seiner Eröffnung im Jahre 1985* wurde im Zusammenhang mit dem Kabelpilotprojekt über ihn berichtet. Eigentlich wäre der neuartige, emanzipatorische Ansatz, “jeder kann senden”, es Wert gewesen seine Entwicklung zu begleiten, doch die Profis in den Redaktionsstuben vernachlässigten das Thema geradezu sträflich. In den zwei Jahren 1986-87, die ich Nutzer war, sowohl wie in den 15 folgenden, ist nur über den Sender berichtet worden, wenn es “schlechte” Nachrichten gab. Vielleicht ist wirklich der zynische Spruch, “only bad news is good news”, eine Erklärungshilfe dabei. Ich will nicht verschweigen, dass es sehr selten auch einmal positive Resonanz gab, doch diese ging unter gegenüber den Schlagzeilen, die über angebliche Skandale spekulierten. Reißerische Artikel nach dem Muster “Mumien, Monstren, Mutationen” zu schreiben macht eben auch mehr Spaß, als über medienpädagogische Ansätze, experimentelle Sendeformen oder Seniorenredaktionen zu berichten und es bringt Auflage bzw. Quote.”

Teil 2 – „Nackte, Nazis, Nervensägen”

http://wp.me/p3UMZB-1hR

img_20140224_0002

Meine Freundin und ich haben beschlossen unsere komplizierte Beziehung zu stabilisieren, indem wir heiraten. Wir ziehen endgültig zusammen, aber erst im Sommer 1986 finde ich eine Arbeit.Ich werde Pförtner in der HdK und bin entsetzt einen hartgesottenen Nazi als Kollegen zu bekommen. Der ungekrönte König der Pförtnerloge ist Herr Schulz, er ist Nazi und macht keinen Hehl daraus. Ein “Neo” wäre an ihn verschwendet, nichts ist neu an ihm. Er ist ein alter, eingefleischter Nazi, obwohl er erst Mitte vierzig ist. Täglich erzählt er den Musikstudenten, dass auf deutschen Boden im Dritten Reich nie ein Jude getötet wurde. Schulz war Kranführer, seit er im Suff aus dem Führerhäuschen fiel, kann er nicht mehr richtig laufen und gilt als schwerbehindert. Den Führerschein hat man ihm abgenommen, weil er im Straßenverkehr immer wieder handgreiflich wurde. Mehrfach hat er Autofahrer attackiert, die ihm “Quer” kamen. Er hat sie ausgebremst, ist, trotz Behinderung. an deren Fahrertür gehumpelt, hat den Gegner aus dem Wagen gezogen und verprügelt. Er kann sehr jovial sein, ist hochintelligent und halbwegs gebildet. Und er kann unglaublich nerven. Zu meiner Bestürzung ist niemand hier bereit, etwas dagegen zu tun, dass Schulz regelmäßig die Ausschwitzlüge verbreitet. Es dauert nicht lange bis wir Feinde werden. Hier erzähle ich die ganze Geschichte:

Teil 3 – http://wp.me/p3UMZB-1Ob

FilmDieter (2)

 

Berlinische Leben – “Der Kebabtraum” / “Helden ’81” Kapitel Zwölf / von Marcus Kluge / 1981

Das “Tempodrom-Kapitel” meines unveröffentlichten Romans “Helden ’81”.

Normalerweise fanden Punk- und andere Rock-Konzerte in meist mehr oder weniger schmuddligen Klubs statt, am Abend oder in der Nacht, vor einem ziemlich betrunkenen oder auch bedingtem Publikum. Das Tempodrom bot eine Alternative, in einem Zirkuszelt fanden oft schon am Nachmittag Auftritte der angesagtesten Berliner und auswärtigen Bands statt. Die ehemalige Krankenschwester Irene Moessinger hatte sich mit Hilfe einer Erbschaft den Traum erfüllt Zirkusdirektorin zu werden. 1980 machte sie ihr Etablissement am Potsdamer Platz auf und im März 1981 war sie schon wieder pleite. Glücklicherweise entdeckte zu dieser Zeit der Berliner Senat sein Herz für die Off- und Sub-Kultur der Stadt und mit einer Finanzhilfe ging der Spielbetrieb weiter. Der verwaiste Potsdamer Platz war auf jeden Fall eine geniale Ortswahl der Chefin. Wenn man mit Besuchern auf dem weitgehend leeren Platz am Rande der Berliner Mauer stand, konnte sich niemand vorstellen, dass hier einmal das Herz der drittgrößten Stadt der Welt schlug; in den 1920er Jahren war der Platz tatsächlich der verkehrreichste weltweit. Von einem Trödelmarkt am Wochenende und ein paar Souvenirständen abgesehen, herrschte dort bis 1980 gähnende Leere.

Am Wochenende hatten die Veranstaltungen im Tempodrom ein wenig den Charakter von alternativen Sonntagsspaziergängen, man zeigte sich und traf alte und neue Bekannte. Eigentlich sollte an diesem Sonntag ein Punkfestival mit auswärtigen Bands stattfinden, doch nachdem die meisten abgesagt hatten, machte das Booking ein Line-Up aus Berliner Bands daraus, die eigentlich gar nicht zusammenpassten, nur Slime blieb als einziger Import übrig. Nach einer unbekannten Schülerband mussten die Politpunks Slime auf dem undankbaren zweiten Platz um 17 Uhr spielen.

Ich kam natürlich mal wieder zu früh. Kurz vor 14 Uhr war der Haupteingang noch verrammelt, aber ich fand schnell den “Lieferanteneingang”. Aus dem Zirkuszelt kamen punkige Töne, dort war es ziemlich kalt, bis zum Beginn in drei Stunden würden die aufgestellten Heizungen hoffentlich Wirkung zeigen. Auf der Bühne erkannte ich “Slime“, ich machte schonmal ein paar Bilder mit meiner alten Spiegelreflex-Kamera. Dann suchte ich mir einen Weg hinter die Bühne und wartete auf die Musiker. Das Interview fand stilgemäß in einem Zirkuswagen statt. Ein kleiner Bullerofen bullerte vor sich hin und auf den Tisch hatten nette Heinzelmännchen Thermoskannen mit heißem Tee und Kaffee gestellt. Neben den Bandmitgliedern Dirk, Elf und dem Drummer Stephan war noch eine Frau dabei, die nichts sagte. An Anfang waren die drei etwas zurückhaltend, dann merkten sie, dass ich kein sturer Politfreak war und das Gespräch wurde freundlicher. Wir sprachen über “Bullenschweine“, das bekannteste und umstrittenste Stück der Gruppe, über politisches Engagement, Geld und Faschos. Mein alter Kassettenrekorder lief und nahm alles auf. Ich musste unbedingt daran denken nach 45 Minuten umzudrehen. Es klappte nur weil das Mädchen stumm im richtigen Moment die Kassette umdrehte und wieder Play und Record gleichzeitig drückte. Ich dankte ihr kopfnickend.
Mein erstes Interview lief hervorragend, über manche Sätze wie: “Eine Zensur findet natürlich statt!”, oder: “Die taz ist ‘ne Schweinezeitung!”, freute ich mich und sah sie schon als Zwischenüberschriften. Kurz bevor das Tape zu ende war, hatten die Jungs genug und nachdem ich vor dem Zirkuswagen noch ein paar Fotos geschossen hatte, packte ich zufrieden meinen Kram zusammen. Die Band hatte sich sogar freundlich bei mir bedankt und freute sich auf die Veröffentlichung. Hoffentlich würde Papparazzi meinen Text auch nehmen. Ich rechnete schon mal aus, was damit verdienen würde. Die taz zahlte 75 Pfennige für die Zeile und 30.- Mark für ein Foto. 300.- Mark müssten drin sein, ich rieb mir die Hände, meine erste journalistische Arbeit.

Inzwischen hatte sich das Gelände belebt, es spielte noch keine Band, aber viele Besucher standen Schlange, um Bier zu kaufen und ich schloss mich an. Roberto und August hatte ich zu 18 Uhr bestellt, ich wollte vorher noch in Ruhe den Auftritt von “Slime” sehen. Aber im Prinzip war meine Arbeit getan und ich konnte mich ein bißchen bespaßen. Die Vor-Band war ziemlich schlecht und als ich das Zelt wieder verließ, kam mir Uschi entgegen, die Mitbewohnerin von Gudrun. Sie hatte zwar wieder ihre schwarze Lederjacke an, aber diesmal trug sie mehr als nur einen grünen BH darunter. Ein enger schwarzer Pullover modellierte ihre Brüste und ein ebenfalls schwarzer Lack-Minirock ließ viel von ihren fischnetzgemusterten Beinen sehen. Mit einem Bier in der Hand sprach mich Uschi an:
“Na du? Ich dachte, du bist jetzt Familienvater in Neukölln. Hat’s nicht geklappt mit Gudrun?”
“Ja, stimmt auffallend genau. Es gab da ein Missverständnis. Aber wieso weißt du nichts davon, hat dir Gudrun nichts erzählt?”
“Nee, sie mir nix erzählt. Schon, weil ich nicht mehr da wohne. Sie hat mich nämlich rausgeschmissen. Deshalb dachte ich, du wärst jetzt schon eingezogen.”
“Wieso hat sie dich rausgeworfen?”
“Keine Ahnung, es gab Streit und ich hatte keine Lust klein beizugeben.”
“Das glaube ich dir aufs Wort. Sag mal wollen wir reingehen, ich glaube MDK spielen jetzt.”

Drinnen tobte das Mekanik Destrüktiw Kommandöh, die Jungs machten einen rauen Punk und provozierten gern das Publikum, bis sie mit “Spaß muss sein” die Spannung auflösten. Mit dem Sänger Volker und Bassmann Edgar hatte ich mal im SO36 Bier getrunken und einen sehr sympathischen Eindruck gehabt. Uschi und ich tanzten bis ich Roberto ins Zelt kommen sah.
Ich begrüßte ihn und schlug vor, dass wir Uschi mit in unsere Planungen einbeziehen sollten, er war sofort einverstanden. Roberto holte drei Bier von der Bar und wir stellten uns an einen Biertisch und erklärten Uschi, worum es ging. Wie konnten wir Alex Legrand die wertvolle Leica abluchsen, ohne das wir in Gefahr gerieten, in den Knast zu kommen?

Ich hatte Roberto vorbereitet, dass August seinem vermeintlich toten Freund Ari sehr ähnlich sah, trotzdem stand Roberto mit weit geöffnetem Mund, staunend da, als August Deter uns entdeckt hatte und auf uns zu kam. August trug wieder seinen schwarzen Trench-Coat mit hochgestelltem Kragen, der ihm ein wenig das Aussehen von Graf Dracula, oder auch Graf Zahl aus der Sesamstraße gab. August gab uns allen höflich die Hand, Uschi zuerst, dann mir und als er Roberto seine Hand reichte, stammelte dieser fragend:
“Ari, bist du das?”
August zuckte mit den Schultern und antwortete:
“Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wer ich bin. Aber wenn ich dich so angucke, kommst du mir schon bekannt vor.”, er trat auf Roberto zu und umarmte ihn. August hatte wohl spontan beschlossen Roberto zu mögen und Roberto lies sich darauf ein.
Inzwischen war Umbaupause und ich machte einen Vorschlag:
“Sagt mal, wollen wir uns nicht irgendwo ein ruhiges Plätzchen suchen für unser Palaver? Im Moment ist es noch ruhig, weil Pause ist, aber danach spielen, glaube ich, ‘ne Hardcore-Band, dann wird’s so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht mehr hören.”
Uschi schlug vor in das kleinere Zelt zu gehen, wo man Getränke und Snacks kaufen konnte. Dort war es leider sehr voll und wir standen planlos am Eingang, bis mir eine Idee kam:
“Kommt mal mit, wir probieren mal was.”
Ich führte die kleine Gruppe zu dem Zirkus-Wohnwagen, indem ich am Nachmittag das Slime-Interview gemacht hatte und es war tatsächlich leer, der kleine Ofen war noch heiß und wir machten es uns gemütlich. Roberto hatte einen Jutebeutel dabei, aus dem er Mini-Flaschen mit Magenbitter hervorzauberte und verteilte. Gestärkt eröffnete ich die Diskussion:
“Ich könnte mir vorstellen, wenn wir Alex Legrand die ganze Geschichte erzählen, können wir ihn bei seiner Ehre packen. Sowas wie, er würde die Leica eigentlich unrechtmäßig besitzen und moralisch betrachtet gehörte die Kamera Robertos Familie. Und wenn er sie uns nicht gibt, tun die Gangster der Familie was an.”
Roberto schüttelte den Kopf:
“Nee, der wird sagen, geht doch zur Polizei, die kann euch schützen. Ich kann ihm doch nicht verraten, dass es um eine illegale Drogen-Schmuggelei ging bei diesem Darlehen und das ich unter Beobachtung eines Bewährungshelfers stehe. Dann bin ich doch gleich unten durch bei ihm. Außerdem hat er die Kamera ganz legal bei einem Trödler in Bratislava gekauft, wieso soll er ein schlechtes Gewissen haben?”
Jetzt dachte Uschi laut nach:
“Hat Legrand denn irgendeine Schwäche? Glücksspiel oder Drogen? Nee? Na dann Sex. Ich könnte ihn verführen und dann erpressen wir ihn? Was macht er denn so, hat er ‘ne Frau? Erzähl doch mal ein bißchen was über ihn, Roberto.”
Roberto erzählte was er über die aktuelle Situation des Schauspielers herausbekommen hatte:
“Die Villa am Wannsee hat er nicht mehr, offensichtlich geht’s ihm nicht mehr so üppig finanziell, er hat wohl schon lange keine gute Rolle mehr bekommen. Er wohnt jetzt in einer Eigentumswohnung am Winterfeldplatz. Mit Baby Sommer ist er schon seit Mitte der 70er nicht mehr zusammen. Ob es ‘ne andere Frau gibt, hab ich nicht herausbekommen.”
Wir rätselten herum, entwickelten immer wildere Pläne, doch es war nichts dabei, was den Hauch von einer Chance bot, erfolgreich zu sein. Indem er auf die Zirkusathmosphäre anspielte, überlegte Roberto laut:
“Gab es nicht mal einen Film “Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, oder so ähnlich? Regisseur war Alexander Kluge, glaube ich. Bloß das wir keine Artisten sind, wir sind gerade mal Statisten!”
August nahm seinen Gedanken auf und verkündete mit leiser Stimme:
“Genau, wir sind nur Statisten. Aus der Rolle müssen wir raus. Wir müssen Akteure, Artisten werden. Wir müssen sowas wie Regisseur, Produzent, Schauspieler und Drehbuch-Autoren werden. Versteht ihr mich?”
Wir anderen schüttelten unsere Köpfe, nein, wir hatten keine Ahnung was er meinte. August präzisierte:
“Wir müssen einen Film drehen. Einen Film mit einer richtig schönen Rolle für Alex Legrand.”
“Einen richtigen Film?”, fragte Roberto.
“Ja, einen richtigen Film über Robertos Vater und seine Erlebnisse im Dritten Reich, seine Aktionen im Widerstand und den Terror in dem Lager bei Bratislava. Und über die Geschichte der Leica natürlich. Wir drehen einen richtigen Film!, er machte eine dramatische Pause und sprach dann weiter:
Einen richtigen Phantom-Film !“, August grinste nun und ich überlegte ob August nicht mehr Tassen im Schrank hatte, oder ob das tatsächlich eine tolle Idee war, Legrand mit einem Phantom-Film zu ködern. Ich war mir unsicher und schwieg erstmal. Aber Uschi, Roberto und August begannen mit Ideen zu jonglieren, wie man Legrand überzeugen könnte, dass wir wirklich, ausgestattet mit Geld aus Hollywood, Produzenten eines großangelegten Filmprojektes seien und ihn, Legrand, als idealen Darsteller für den bösen Helden des Dramas, den SS-Offizier, auserkoren hatten. Nach einer Weile schob ich meine Bedenken zur Seite, beschloss, dass die Flinte ins Korn zu werfen immer noch später Zeit wäre, und beteiligte mich an den munteren Spekulationen. Bald wurde ich von einer Euphorie ergriffen, die meine Zweifel an dieser offensichtlichen Schnapsidee zunehmend kleiner werden lies, bis sie sich vorläufig in die Katakomben meiner Denkfabrik zurückzogen.

Als ich am Montagmorgen erwachte, stellte ich mit Genugtuung fest, dass ich inzwischen in einer weitläufigen Erdgeschosswohnung am Winterfeldplatz wohnte. Sie befand sich etwa dort, wo bis kurzem die Kneipe Slumberland war, die mich immer an den Winsor McCay-Cartoon “Little Nemo in Slumberland” erinnerte. Durch das große Glasfenster konnte ich in Spiegelschrift lesen “Marcus Kluge & Co. Privatdetektiv – Private Dick”. In diesem Moment betrat ein Kellner den Raum. Mit einem Frühstückstablett und der Morgenzeitung balancierte er schwankend über die riesige Liegefläche meines Bettes. Ich trank etwas Kaffee und widmete mich dann der Zeitung, Innensenator Lummer war tot aufgefunden worden. Man hatte ihm einen Holzflock durchs Herz getrieben, logischerweise, wie das Blatt bemerkte, denn wie hätte man den stattbekannten Vampir sonst umbringen können. Ich weinte ihm keine Träne nach, seine Politik war genauso scheußlich, wie seine Platten mit angeblich Altberliner Liedern. Aber sein Tod würde natürlich aufgeklärt werden müssen, wie aufs Stichwort brachte der Kellner das Telefon. Patti Smith von der Mordkommision Eins in der Keithstraße wollte mich treffen. Sie hatte Bedenken mit den Nachforschungen zu beginnen, ohne sich meiner Mitarbeit versichert zu haben. Ich sagte ihr widerwillig stöhnend zu, ich würde in einer halben Stunde am Tatort sein. Der Ober half mir bei der Garderobe, Smoking, Fliege und schwarze Lackschuhe, meine alltägliche Arbeitskleidung. Vor der Tür wartete schon mein Chauffeur Roberto mit dem renn-grünen Bentley, der seit seinem letzten Tuning fliegen konnte. Das war praktisch, denn der Tatort war der Funkturm. Hier auf der Besucherplattform lag der tote Innenpolitiker halbnackt in Lederjacke und High-Heels. Mir war klar, dass der Oberstaatsanwalt gern einen der üblichen Verdächtigen als möglichen Täter gesehen hätte. Einen wie den international bekannten Vampirjäger wie Rudi Dutschke zum Beispiel, aber ich wusste schon jetzt, dass ich dem Oberstaatsanwalt einen solchen Gefallen nicht tuen würde. Denn die Beweislage war eindeutig und zeigte nach Süden, nach Bayern, um genau zu sein. Ich zählte die ausgezutzelten Därme von elf Weißwürsten, fünf leere Weißbierflaschen der Marke St. Malefizius und anhand der Salzkrümel wusste ich, es waren mindesten ein halbes Dutzend Brezeln verzehrt worden. Es gab also nur einen Menschen, der als Täter für dieses Verbrechen in Frage kam, der bayerische Ministerpräsident und Großvampir Franz-Josef Strauß. Offensichtlich ein Streit unter Vampiren nach einem gemeinsamen Frühstück, darüber wer denn nun der Bösere und damit größere Vampir war, schien in einem tödlichen Handgemenge fatal ausgegangen zu sein. Da Strauß den tödlichen Holzpflock bereits mitgebracht haben muss, würde sogar ein Vorsatz angenommen werden können. Die saubere Lösung eines schmutzigen Falles, ich konnte wieder einmal stolz auf mich sein. Ich rieb mir zufrieden die Hände und lies mich von Mordkommisarin Patti Smith loben. Daraufhin lobte ich ihre ausgezeichnete Idee, mich zum Tatort zu holen. In diesem Moment sprachen mich einige Hippie-Künstler an, sie hatten eine begehbare, oder besser gesagt, berutschbare Plastik an den Funkturm gebaut. Durch diese durchsichtige Röhre konnte man 124 Meter bis zum Boden rutschen. Ich probierte es aus und kam mir vor wie in einem verlängerten Geburtskanal, ständig wechselten die Texturen und Materialien, Fell, Gumminoppen, Seide. Nach oben rotierende Rollen verhinderten, dass man zu schnell nach unten stürzte. Gegen Ende wurde es enger, dunkler und fühlte sich zunehmend sexuell erregend an. Endlich gab mich der Kanal frei. Vor mir stand das Batmobil, Batman stieg aus, kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand:
“Kluge, ich brauche sie. Ich habe da einen Fall und komme nicht weiter.”
In diesem Moment wachte ich auf, ich hatte furchtbare Kopfschmerzen.

Ich rekapitulierte ängstlich den gestrigen Abend, aber einen Filmriss schien ich nicht gehabt zu haben. Nachdem es im Zirkuswagen kalt geworden war, hatten wir unsern Standort zu einem Döner-Imbiss in der Potsdamer Straße verlegt. Dort hatten wir bei Kümmerling, Tee und türkischem Essen unser Filmprojekt ausgearbeitet. Aus der Schnapsidee war ein echter Kebabtraum geworden. Gestern Abend hatte sich alles plausibel angehört, heute hatte ich erhebliche Zweifel. Dazu kam, dass ich mich bereit erklärt hatte, den Erstkontakt bei Legrands Agentin am Kudamm herzustellen und ein halbwegs professionell wirkendes Exposé für den Film würde ich auch schreiben müssen. Offensichtlich ging mir meine Gabe nein sagen zu können, zunehmend abhanden. Zu Selbstmitleid lies ich mich nicht hinreißen, aber ich umarmte mein neues Ich auch nicht. Ich war es leid, allem aus dem Weg zu gehen, also würde ich auch die Konsequenzen dieses Verhaltens tragen müssen. Als Soundtrack für diesen Morgen wählte ich eine Platte von Mekanik Destrüktiw Komandöh. “Der Tag schlägt zu” schien mir ein gutes Motto für unser Vorhaben zu sein.

Nach einem Kaffee, einer Paracetamol-Tablette und zwei Zigaretten war mein Kopf halbwegs frei und ich überlegte, wie ich mich in bezug auf Gudrun weiter verhalten würde. An diesem Montag müsste sie meinen Brief haben und ich sollte sie heute noch anrufen, in der Hoffnung, mein Brief hätte sie umgestimmt und mein Verhalten erklärt. Doch als erstes rief ich die Auskunft an, lies mir die Nummer von Constanze von Barnim geben und rief in der Künstler-Agentur an: “Hello, this is Jonathan Harker for Warner Brothers. May I speak to …”
Ich wurde unterbrochen:
“Sprechen sie ooch deutsch?”, fragte mich eine älter klingende Frauenstimme.
“Yes, natürlich. Mein Fehler, sorry. Mein Deutsch ist nur etwas eingeroasted. Kann ich bitte mit Frau wonn Barnim sprechen? Es ist wegen ein Film drehen in Berlin nächstes Jahr.”
“Moment bitte.”
Ein paar Augenblicke später meldete sich eine energische, aber gepflegte Stimme:
“Ich grüße sie, was kann ich für sie tun, Mr. Harker?”
Ich bemühte mich den amerikanischen Akzent nicht zu übertreiben:
“Ich arbeite für Mel Greenstreet, den Producer von Warner Brothers. Es geht um den Dreh von Shooting Evil im nächsten Sommer in Berlin und Prag. Sie haben vielleicht von den Project gehört?”
“Ja, ich glaube schon.”, behauptete Frau von Barnim und ich wusste, dass sie log, denn wir hatten uns das Filmprojekt erst gestern ausgedacht.
“Wir suchen eine lokale Casting-Agentur. Einige Rollen sind besetzt, Bruno Ganz spielt die Hauptrolle, Jack Nicholson eine wichtige Nebenrolle. Die meisten Nebenrollen wollen wir hier casten, das wird sicher finanziell interessant für sie. Außerdem brauchen wir Extras, Stetisten heißt es, oder?”
Sie verbesserte mich nicht, ich ahnte, dass ihr das Geschäft gelegen kam, also lies ich die Katze aus dem Sack:
“By the way suchen wir noch einen Actor für eine sehr wichtige Nebenrolle, den Villain, den Bösewicht. Wir hatten da an einen von ihren Clients gedacht, Alex Legrand. Den werrtreten sie doch?”
“Ja, das tue ich seit fast 25 Jahren, aber es könnte ein Problem geben. Herr Legrand spielt eigentlich nur positive Helden.”
“Yes, yes. Wir wissen. Aber Mister Greenstreet hat sich in der Kopf gesetzt, die Rolle against the fur zu casten. So wie Karlheinz Böhm in Peeping Tom*. Augen der Angst gilt heute als sein bester Film, das war doch der deutsche Titel? Das könnte die Karriere von Herr Legrand etwas drive geben. Er hatte nicht viele Rollen lately, oder?”
Frau von Barnim hatte jetzt etwas Stress in der Stimme:
“Ich verstehe was sie meinen, lassen sie mich erstmal mit Herrn Legrand sprechen, dann rufe ich sie zurück. Einverstanden?”
“Ja, einverstanden, aber es ist Mel Greenstreet sehr wichtig selbst mit Alex Legrand zu treffen, verstehen sie?”
Ich gab ihr meine Telefonnummer und wir verabschiedeten uns. Mein Herz pochte wie verrückt und der Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Aber ich hatte keinen Zweifel, dass die Agentin mich für echt hielt. Etwas vom Schauspieltalent meines Vaters schien bei mir durchzuschimmern. Ich fühlte mich zwar geschafft nach dieser Hochstapelei, aber gleichzeitig fühlte mich euphorisch. Wenn ich jetzt noch Gudrun von meinen ernsthaften Absichten überzeugen könnte, wäre ich dem Glück so nahe, wie niemals zuvor in meinem Leben, dachte ich. Ich zählte innerlich bis zehn, zündete mir eine Zigarette an und wählte Gudruns Nummer.

– wird fortgesetzt –

Illustrationen: Rainer Jacob http://about.me/rainer.jacob

*Peeping Tom:
http://de.wikipedia.org/wiki/Augen_der_Angst

Editorial: Drei Jahre Blog & Bleistreustraße – Geschichten, Bilder, Orte – 1910 bis heute

Marcus 1959.2014-06-21-17-36-38

Heute vor drei Jahr habe ich dieses Blog gegründet. Ich suchte einen öffentlichen Ort für meine autobiografischen Texte und ein Publikum. Beides habe ich hier gefunden. Seitdem hat die Statistik 120 000 Zugriffe auf Beiträge oder Homepage des Blogs registriert. Zuerst stand meine Familie im Vordergrund, dann reagierte ich auf das starke Interesse am Berlin der Mauerjahre und schrieb darüber. Nebenbei ist ein Roman erschienen, ein zweiter fast fertig und eine es entstand eine umfangreiche Sammlung an Familiengeschichten. In letzter Zeit waren meine Fotovergleiche “Lost and Found” sehr erfolgreich. https://marcuskluge.wordpress.com/berlin-lost-and-found-foto-serie/ Den Lesern und Fotoguckern danke ich herzlich für ihr Interesse und die freundlichen Rückmeldungen, die ich immer wieder erhalte.

img_20131217_0004img_20130802_0001Ilona 1976.

Das Entscheidende für mich ist die Tatsache, dass ich überhaupt wieder schreibe. Vor 2013 war ein Drehbuch für einen Film über Kathy Acker im Jahre 1990 der letzte persönliche Text, der mir gelang. Dann schrieb ich 23 Jahre nur noch beruflich, nichts eigenes. Zu untersuchen woher meine Blockade kam, würde an dieser Stelle zu weit führen, aber sie war massiv und ich hatte die Hoffnung wieder schreiben zu können aufgegeben. Im Frühjahr 2013 verfasste ich kleine Texte und postete sie bei Facebook und sie wurden von einigen Usern geliked. Letztlich war diese Akklamation entscheidend und ich machte weiter. Am 13. 9. 2013 stellte ich drei kurze Texte in mein Blog, unter anderem die Geschichte “Große Liebe Bleistreustraße” und schon die Reaktion in den ersten Tagen war toll. Im Lauf der Monate wuchsen die Stücke im Umfang von 600-800 Wörtern auf 2500-3000 Wörter und das wurde eine zeitlang mein Wochenpensum. Ich hatte Nachholbedarf, in 23 Jahren hatte sich viel angesammelt. Nun schreibe ich langsamer und hoffe bald den zweiten Roman, “Helden 81”, druckreif fertig zu bekommen. Seit einem halben Jahr arbeite ich an einer kleinen Reihe von TV-Doks über die 70er und 80er Jahre in West-Berlin, unter anderem ist die Story über meine erste große Liebe Ilona und die Bleistreustraße das Thema für eine Episode. Ein unabhängiger Fernsehproduzent ist auf meine Storylines und Key Visuals aufmerksam geworden und hat einen kleinen öffentlich-rechtlichen Spartensender dafür interessieren können. Noch glaube ich nicht so recht an die Realisierung, aber ich hoffe darauf.

Die Bleistreustraßen-Story: http://wp.me/p3UMZB-17J

1975064_3878970508896_1304231574_n

Key Visuals Off-Kudamm-Atmo: http://wp.me/p3UMZB-1uU

10986728_4852329522263_50532681015384714_o

Marcus Kluge

Berlinische Leben – “The Fundamental Things Apply – Eventually” / Helden ’81 – Kapitel Elf / von Marcus Kluge / November 1981

Heute vor 34 Jahren starb Ingrid Bergman in London, die, wenn sie noch lebte,  heute 101 Jahr alt geworden wäre. Obwohl sie als Star und Filmikone gefeiert wurde, hatte sie nichts Laszives und eignete sich kaum als Pin-Up-Girl. Eher verkörperte sie eine neuartiges Frauenbild, dass den stets etwas naiv wirkenden Flapper den 20er und 30er Jahre überwunden hatte und souverän, ihrem Intellekt, wie in “Casablanca”, oder auch bewusst ihrem Gefühl, wie in “Notorious”, folgte.  Dieses elfte Kapitel meines “Schöneberg ’81” Romans ist eine Hommage an sie und den Michael Curtiz Film der, wie kaum ein anderes US-Melodram, meine Generation von deutschen Filmfans begeistert hat.

img_20150125_0003

(Bisher: Roberto ist wegen seiner Schulden zum Gangsterboss bestellt und ich muss ihn begleiten. In der Gruppe habe ich den rätselhaften August Deter kennengelernt, könnte er eine Hilfe sein? Gudrun meldet sich nicht und mir schwant Böses.)

Der Tag hatte schon schlecht angefangen. Es war ein Freitag, der Tag bevor ich mit Roberto, den Boss der Pistaziengang treffen sollte, ein Termin vor dem ich ziemlichen Bammel hatte. Ich war relativ früh aus dem Bett gekommen, nach dem ersten Kaffee und zwei Zigaretten entschied ich, es wäre höchste Zeit Gudrun anzurufen, damit sie nicht auf falsche Gedanken käme. Damit wollte ich dem Tag einen Kick in die richtige Richtung geben. Der Versuch schlug fehl. Meine Einleitung:
“Hallo Gudrun, nachdem du dich nicht gemeldet hast, wollte ich doch mal einen schönen Tag wünschen, bevor du mich wieder ganz vergisst!”,
wurde von einer unfreundlichen Gudrun mit barschen Worten gekontert:
“Du hast ja Nerven hier so einfach anzurufen, nachdem du dich Montag so heimlich aus dem Staub gemacht hast!”
Ich war geplättet und in kürzester Zeit wurde mein Körper und vor allem mein Hirn von Stresshormonen überflutet und ein Sirren in meinen Ohren wurde so laut, dass ich kaum noch hören konnte, was Gudrun mir sonst noch zu sagen hatte. Offensichtlich empfand sie mein Verschwinden so, als ob ich unsere Liebesnacht im nachhinein zu einem One-Night-Stand erniedrigt hätte. Das Briefchen, das ich zurück gelassen hatte, war völlig anders angekommen, als von mir geplant. Wenn ich doch bloß früher angerufen hätte!

Zusätzlich fiel mir jetzt wieder ein, dass morgen der Tag war, an dem wir diesen Ghobadi treffen sollten. Gern wäre ich wieder ins Bett gegangen, noch lieber hätte ich mein Leben an der Garderobe abgegeben, um mir später ein anderes, besseres zurückgeben zu lassen. Roberto schuldete Ghobadi eine für mich horrende Summe, etwas fünfstelliges nahm ich an. Wie war ich da reingeraten, nachdem ich mich sonst erfolgreich aus allem raushalten konnte? Statt mich hängenzulassen, setzte ich mich an die Maschine und begann zu schreiben. Ich arbeitete an die Filmtexten für Werbeagentur, bis mir einfiel, es wäre wichtiger Gudrun einen Brief zu schreiben und den Versuch zu wagen, doch noch mal zu erklären, wieso ich abgehauen war und das es nichts mit Gudrun oder der Situation zu tun hatte.

IMG_20150125_0006_0001

Um mich in Stimmung zu bringen legte ich eine Platte mit Ausschnitten aus Warner Brothers Filmen auf, die auch Musik und Dialoge aus “Casablanca” enthielt. Bogart sagte zwar nicht:
“Play it again, Sam!”
Das war eine Erfindung von Woody Allen für seinen Film aus dem Jahr 1972 gewesen. Nein, Bogart sagte:
“Play it, Sam! You played it for her, you can play it for me.”
Und der brave Sam spielte “As Time Goes By”.

“You must remember this
A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh.
The fundamental things apply
As time goes by.
And when two lovers woo
They still say, “I love you.”
On that you can rely
No matter what the future brings
As time goes by.”

IMG_20150125_0001_0001

Ein paarmal zog ich einen angefangenen Text wieder aus der Maschine und warf ihn fort, doch dann gelang mir ein freundlicher, stimmiger Brief, den ich mit einer Prise Komik abrundete. Ja, die richtigen, wichtigen Sachen, Menschen und Ideen tauchten auf. Nur geschah das, meiner Erfahrung nach nie zu früh, sondern eher kurz bevor es zu spät war.

Bevor ich am Nachmittag zur Gruppe beim Psychiater Philippus aufbrach, hatte einer plötzlichen Eingebung folgend das kleine Notizbuch eingesteckt, in dem Robertos Vater seine Erlebnisse als Widerstandskämpfer und Lagerhäftling im Dritten Reich aufgeschrieben hatte. In der Gruppe machte ich mir selbst Luft, ich schilderte das unangenehme Gespräch am Morgen mit Gudrun und wie ich mich falsch verstanden sah. Ich bekam erst sehr viel Mitgefühl und gute Worte von den anderen, aber die Diskussion behielt mich im Fokus und das fühlte sich zunehmend peinlich an. Besonders ein Gruppenmitglied schoss sich auf mich ein und zeigte nicht nur Verständnis für Gudrun, sondern kritisierte mich hart, weil mir mein Schlaf wichtiger als die sich anbahnende Liebesbeziehung war. Ich ärgerte mich, hatte aber weder Lust noch Kraft dagegen zu halten. Zu meinem Erstaunen mischte sich nun August in die Diskussion, den ich für absolut egozentrisch gehalten hatte und nahm mich in Schutz. Zum ersten Mal war er mir sympathisch und mir kam eine Idee.

Nach dem Ende der Gruppensitzung wartete ich, eine Zigarette rauchend, vor dem Haus auf August. Es dämmerte und der Novemberabend roch nach Winter, das erste Mal in diesem Herbst. “Schneeluft” nannten manche Menschen das auch. Aus unerfindlichen Gründen verband ich diesen Geruch und diese Tageszeit mit den 70er Jahren. Keine andere Situation war typischer für das zuende gegangene Jahrzehnt. Der Beginn der Nacht am Anfang des Winters, wenn ich wieder einmal feststellte, dass der vergangene Tag mich nicht weitergebracht hatte. Schon weil ich gar nicht wusste, wo ich eigentlich hin wollte. Dieses Gefühl wollte ich hinter mir lassen, aber war ich denn wenigstens auf dem richtigen Weg?
Ich sprach ihn an, als August das Eckhaus in der Uhlandstraße verließ und er freute sich über meine Einladung, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Wir liefen die Uhlandstraße in Richtung Kantstraße und setzten uns dann im Schwarzen Café in eine ruhige Ecke im Ersten Stock. Erst sprachen wir über die Gruppe und den Professor. Über die Gründe, wieso wir die Gruppe besuchten brauchten wir nicht zu sprechen, denn darüber hatten wir uns in den Sitzungen ein Bild machen können. Wir tranken Flaschenbier und ich stellte August ein paar Fragen, die mich schon länger beschäftigten:
“Kannst du dich denn nicht an deine Familie und deine Heimat erinnern?”
“Ja und nein, ich komme wohl aus Wien und ich habe eine Vorstellung, wie meine Eltern waren, oder sind. Aber nichts konkretes, wie der Name fällt mir ein.!”, war seine enttäuschende Antwort.
Ich bohrte weiter:
“Wo hast du diesen Namen her, August Deter?”
“Der stammt aus der Klinik, Philippus meint, der sei ein Insider-Scherz unter Psychoheinis. Keine Ahnung was er meint.”
“Und wovon lebst du, du brauchst doch Geld?”
“Das kommt von so einer Stiftung, Seelenhilfe heißt die. Die haben mich unter ihre Fittiche genommen und haben mir auch Papiere besorgt. Die haben was mit der katholischen Kirche zu tun und sind wohl sehr einflussreich in Süddeutschland.”
“Wieso bist du nun ausgerechnet nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte da so ‘nen Zettel bei mir, da stand diese Pension in Berlin drauf und ich hatte das vage Gefühl, ich müsse in Berlin irgendeine Mission erfüllen. Mein Betreuer bei der Seelenhilfe meinte, ich solle dem nachgehen und der hat mir auch Philippus empfohlen.”
Langsam brachte ich das Gespräch auf meinen Freund Roberto und sein Problem:
“Ich wollte dir was zeigen!”, ich holte das Notizbuch von Robertos Vater heraus, zeigte ihm die Fotos und machte ihn auf die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem SS-Offizier aufmerksam. August wurde still, ich bestellte noch zwei Bier und dann begann ich ihm die Geschichte von Roberto, seinem Vater und dann von Ari und dem Schmuggel nach Kanada zu erzählen. Ich berichtete von Aris Selbstmord in Wien und schließlich von der Pistazien-Bande, die nun von Roberto das Geld zurückhaben wollte, das Ari für den Kanada-Coup geliehen hatte.
August hörte aufmerksam zu und begann bald zu nicken, so als ob er die Geschichte schon kannte, oder sich zumindest etwas Ähnliches gedacht hatte.
Ich wusste zwar nicht, worin Augusts Beitrag zur Lösung des Problems bestehen sollte, trotzdem war ich sehr froh, als er signalisierte, er würde uns helfen, irgendetwas würde uns schon einfallen, um die Ansprüche der Gangster zu befriedigen. Ich fühlte mich auf jeden Fall schlagartig besser.
Wir tranken noch ein paar Bier und redeten über Filme, das Wissen darüber und die Liebe zum Film hatte Augusts Amnesie nicht tangiert. Genau wie Ari mochte August Bogart-Filme, besonders die aus der schwarzen Serie und natürlich “Casablanca”.

IMG_20150125_0004

Ich probierte, ob er wie Ari auch manche Dialoge auswendig konnte:
“Let’s see. The last time we met…”
Ohne zu zögern, setzte er das Gespräch mit Bogarts Text fort:
“It was La Belle Aurore.”
“How nice, you remember. It was the day the germans marched into Paris.“, ich sprach Ingrid Bergmanns Sätze. August antwortete:
“Not an easy day to forget. I remember every detail. The germans wore grey; you wore blue.”
Wir schüttelten uns vor Lachen, es waren ziemlich viele Biere gewesen.
Wir verabredeten uns für Sonntag im Tempodrom, dann zahlten wir. Auf der Kantstraße verabschiedeten wir uns, natürlich auch stilgemäß. August gab mir das Stichwort:
“You still owe me ten thousand francs.”
Ich sprach den, von Claude Rains gespielten, Polizeichef:
“And that ten thousand francs should pay our expences.”
“Marcus, I think this is the beginning of a beautiful friendship!”

Roberto und ich fuhren mit der U-Bahn nach Dahlem-Dorf und begaben uns auf die Suche nach der Adresse von Ghobadi. Schnell fanden wir sie, wir klingelten an einer kleinen Gittertür mit dem Schild: “Konsulat der Volksrepublik Nord-Samaan”. Wir wurden von einem wohlbeleibten Herrn in Empfang genommen, unter dessen Jacket sich eine Waffe abzeichnete. Das Haus war ein großer, einstöckiger Bungalow, keine Villa, wie ich es erwartet hatte. Im Haus tastete ein zweiter, ebenfalls kräftig gebauter Herr uns auf Waffen ab. Hundertmal hatte ich sowas im Kino gesehen, nun erlebte ich es zum ersten Mal am eigenen Leib. Ein seltsames Gefühl. Der zweite Bodyguard, auch er mit einer Beule unterm Sakko, führte uns in einen Raum, dessen Wände üppig mit Ölgemälden behängt war, der Hausherr hatte wohl eine Schwäche für Familienportraits. Das Genre aus dem 18. Jahrhundert, das im Englischen Conversation Piece und im Italienischen grupo di famiglia genannt wurde. Ich war natürlich kein Experte, aber die Bilder hatten eine hohe Qualität, soviel war klar. Trotz des Wandschmucks war der Raum ungemütlich, es war kalt und es gab keine Sitzgelegenheiten; nur ein großer Perserteppich in der Mitte machte ihn etwas wohnlicher. Der Raum schien klimatisiert zu sein, ich schaute auf eine Anzeige an der Wand, 17° Celsius bei 68% Luftfeuchtigkeit schien das amtliche Klima für Ölgemälde zu sein.
Der wandelnde Schrankkoffer lies uns allein, Roberto und ich schauten uns nicht an und wir wechselten auch kein Wort. Mir war klar, dass Roberto die Muffe genauso ging wie mir. Etwa zehn Minuten lies man uns warten, dann kamen die beiden Bodyguards und brachten Sitzkissen sowie ein Tischchen. Die Möbel drapierten sie auf dem Perserteppich, sodass eine orientalische Sitzgruppe entstand. Einer der beiden verschwand wiederum, während sich der andere wie eine Wache neben die Tür stellte. Wir blieben stehen und schauten uns die Bilder an, jedenfalls taten wir so, als ob.
Eine leise, aber durchdringende Stimme lies uns zusammenfahren, wir drehten uns um, der Hausherr hatte den Raum betreten:
“Salam meine Herren. Ich bin hocherfreut, sie zu begrüßen.”
Er blieb etwa zwei Meter vor uns stehen und deutete ein Verbeugung an, auch wir verbeugten uns tief; ich verbeugte mich unwillkürlich tiefer als der Hausherr und Roberto auch. Ghobadi sah, mit seiner Augenklappe, tatsächlich etwas wie Moshe Dayan aus. Er hatte graumelierte Haare, einen gepflegten Bart und trug einen grauen Tweed-Anzug, der perfekt saß. Bei ihm deutete keine verräterische Beule auf eine Feuerwaffe hin:
“Mein Name ist Mohsen Ghobadi, eigentlich bin ich auch Berliner, ich lebe seit einem Vierteljahrhundert hier.”, er trat nun auf Roberto zu:
“Sie sind also der Herr Oderberger. Ich versichere ihnen meine herzlichstes Beileid zum Tod ihres Vaters. Aber ich hörte, sie haben sich noch von ihm verabschieden können.”
Ghobadi sprach ausgezeichnetes Deutsch, nur ein leicht ölig-verwaschener Akzent verriet, dass er kein Muttersprachler war und er war sehr gut informiert. Er schüttelte Roberto die Hand, der sowas wie “Danke schön” stammelte.
“Wen haben sie denn da mitgebracht?”
Ghobadi blickte neugierig in meine Richtung und ich entschloss mich, zurück zu ölen:
“Sehr geehrter Herr Konsul, ich bin hocherfreut sie kennenzulernen. Mein Name ist Kluge, ich bin Schriftsteller und Journalist und sozusagen als Freund und seelische Unterstützung von Herrn Oderberger hier.”
“Sehr erfreut, Herr Kluge. Freundschaft ist etwas Großartiges, fast so wertvoll wie die Familie. Das ist bei ihnen im Westen leider etwas in Vergessenheit geraten.”
Ghobadi hatte mich mit seinem unbedeckten, blauen Auge scharf angesehen, sodass ich froh war, als er sich wieder Roberto zuwendete:
“Dass ihre Schwester ihr Kind verloren hat ist natürlich auch ungemein traurig, das war sicher nicht unsere Absicht. Aber wenn die Dinge eine gewisse Dringlichkeit erreicht haben, passieren solche Missgeschicke, durch die auch Unschuldige Schaden nehmen. Da kann ich ihnen die Verantwortung auch nicht abnehmen, Herr Oderberger! Das wäre für sie viel praktischer, wenn ein Orientale die Schuld tragen müsste, nicht war?”, er grinste jetzt unverhohlen frech.
“Aber sie und ich wissen, und sicher weiß auch der Herr Kluge, dass die Verantwortung allein bei ihnen liegt.”
Roberto räusperte sich, er war kurz davor etwas zu sagen, doch es blieb beim Wollen. Ich hörte erstaunt über mich selbst, wie ich sagte:
“Aber die Gewalt ging nun mal von ihren Mitarbeitern aus.”
Ghobadi schaute mich etwas mitleidig an:
“Vordergründig haben sie Recht, aber versetzen sie sich in meine Lage. Ein alter Geschäftsfreund aus Indien hat mich gebeten diese Schulden einzusammeln und ich habe Herrn Oderberger mehrfach Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Aber er hat über viele Wochen keine verbindliche Zusage gemacht. Zweitausend Euro war das einzige, was wir von ihm bekommen. Ein Bruchteil der 30000 Dollar, die, ohne Zinsen, fällig sind. Herr Oderberger hat sich sogar versteckt. Sein Verhalten war respektlos gegen meinen Freund und mich und man könnte auch sagen: betrügerisch. Verzeihen sie mir das starke Wort, aber es ist doch treffend, oder?”
Sein Deutsch war makellos, es war besser, als das der meisten Deutschen. Fast hätte ich Verständnis für ihn gehabt. Ich hätte gern noch etwas über Gewalt gegen eine wehrlose Frau gesagt, doch es war mir nicht möglich Ghobadi zu unterbrechen; ich hatte einfach nicht die Traute, seinen dominanten Redefluss zu stoppen:
“Lassen sie es sich eine Lehre sein, was den Schütz ihrer Familie angeht. Es ist traurig, wenn man erst durch Schaden lernt. Niemand weiß das besser als ich. Aber setzen wir uns doch.”
Er zeigte auf die Sitzgruppe auf dem Teppich. Einer seiner Diener brachte Teegeschirr und Gebäck, er machte uns mit Zeichensprache aufmerksam, unsere Schuhe auszuziehen, dann setzten wir uns. Ohne Schuhe war es ganz schön kalt. Ghobadi verlies kurz den Raum und kam dann mit einer Mappe zurück und setzte sich auch. Der Bedienstete goss uns Tee ein und nötigte uns von den Keksen zu nehmen. Schweigend tranken wir Tee und knabberten Gebäck, schließlich ergriff Ghobadi wieder das Wort:
“Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.”
Wenn ich die Augen zusammen kniff, hätte ich mir vorstellen können, in einem orientalischen Basar zu sitzen und einem Geschichtenerzähler zuzuhören. Es war fast gemütlich, wenn ich bloß keine Angst gehabt hätte.
“Vor rund 30 Jahren war ich der glücklichste Mann Teherans, ich hatte eine wundervolle Frau, zwei Töchter und ich war als Geheimdienstchef einer der mächtigsten Männer des Landes. Mein Freund Mohammad Mossadegh war Premierminister einer demokratisch gewählten Regierung. Er hatte mich zum Geheimdienstchef gemacht, weil ich ein überzeugter Demokrat war, ich hatte in Oxford und Heidelberg studiert und Gewalt machte mir überhaupt keinen Spaß. Gut beim Geheimdienst ist ein gewisses Maß an Druck ünvermeidlich, doch wir versuchten soweit wie möglich ohne Folter und solche Greuel auszukommen. Doch dann stürzte die CIA Mossadegh, ein Agent namens Kermit Roosevelt* schaffte es mit sehr viel Geld, das Land zu destabilieren und schließlich einen Putsch zu organisieren. Diese Aktion nannte der CIA “AJAX”, es war das Vorbild für jeden Staatsstreich der USA seitdem. Wir waren wohl zu naiv und zu friedfertig, um mit der abgefeimten Bosheit dieses Kermit Roosevelt fertigzuwerden. Übrigens sagt man, Kermit soll das Vorbild gewesen sein, nachdem Ian Fleming seine Romanfigur James Bond geformt hat. Kermits Helfer brachten, vor meinen Augen, meine Frau und meine Töchter um, ich wurde entführt und lange gefangen gehalten. Seien sie froh, dass sie ihre Familie noch haben. Die einzige Familie, die ich noch habe, sind diese Bilder.”, wobei er aufstand und auf die Gemälde an den Wänden zeigte.
Ghobadi baute sich vor mir auf, nun zog er eine Art Urkunde aus der Mappe und präsentierte sie mir:
“Das hier ist der Schuldschein. Neben Herrn Olt, der ja leider verstorben ist, hat ihr Freund Herr Oderberger unterschrieben. Seien sie doch so freundlich und lesen sie die Summe vor, Herr Kluge.”
Ich stand auf und nahm das Papier in die Hand.
“30000 Dollar plus Zinsen steht hier.”, las ich laut vor.
“Ich will realistisch sein. Sie haben das Geld nicht, also schauen wir ob es etwas anderes gibt, um ihre Ehre wiederherzustellen. Mein Geschäftsfreund sprach von einer Kamera, die eigentlich im Besitz ihrer Familie sein sollte, Herr Oderberger. Eine Leica, ein sehr seltenes Stück.”
Nun stand Ghobadi direkt vor Roberto, der bei der Erwähnung der Leica zusammenzuckte. Roberto brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Dann sagte er:
“Ja, aber die Leica gehört jemand anderem. Ich kann sie doch nicht stehlen!”
“Nun, wenn sie sie nicht stehlen wollen, müssen sie sich etwas einfallen lassen. Sie sind doch jung, kreativ und risikofreudig, wie ihre Schmuggeleien zeigen.”

In diesem Moment wurde mir übel, ich hatte Angst mich übergeben zu müssen. Genau das war, was ich unbedingt in meinem Leben vermeiden wollte. Riskante Situationen wie diese, die mich möglicherweise in den Knast bringen konnten. Wieso hatte ich mich bloß auf dieses Treffen eingelassen, nun war ich ebenso dran wie Roberto. Karl Valentin soll gesagt haben:
“Der Kopf ist rund damit die Gedanken ihre Richtung ändern können.”
So etwas passierte gerade in meinem Kopf. Meine Angst, mein Ärger verwandelte sich in Wut und diese Wut richtete sich gegen Moshe Ghobadi. Ich fauchte ihn an:
“Sie drohen uns also, wenn wir die Kamera nicht beschaffen, üben sie Gewalt gegen Robertos Familie. Was ist daran moralischer, als das Handeln von Kermit Bond Roosevelt, der ihre Familie umbringen lies. Sollten sie aus ihrer Erfahrung heraus nicht jeder Gewalt abschwören.”
Ghobadi war überrascht und er versuchte amüsiert zu wirken, doch ich schien einen Wirkungstreffer erzielt zu haben. Er baute sich vor mir auf. Ich wich nicht zurück und er zischte:
“Der Mensch ist eine gewalttätige Species. Das was sie hier im Westen Zivisisation nennen ist eine hauchdünne Schicht, die man durch Manipulation jederzeit, bei jedem beseitigen kann. Und gerade sie, Herr Kluge, als Deutscher sollten vorsichtig sein über andere zu urteilen. Sie haben doch sechs Millionen Juden auf bestialische Weise umgebracht.”
Er hatte mich an einem wunden Punkt erwischt, ich drehte irgendwie durch und schubste ihn heftig, so dass er ein paar Schritte rückwärts stolperte. Ich brüllte:
“Ich hab sie doch nicht umgebracht, sondern meine Vorfahren. Ich bin kein Nazi. Aber sie vielleicht!”
Der Wächter neben der Tür hatte seine Waffe gezogen. Die Übelkeit stieg wieder in mir hoch, ich war entsetzt über mein Verhalten. Ghobadi schien nicht besonders geschockt zu sein, im Gegenteil, er ginste:
“Quod erat demonstrandum, meine Herren. So leicht ist es, mit Manipulation Menschen zur Gewalt zu bewegen. Aber setzen wir uns doch wieder.”
Roberto hatte uns mit großen Augen beobachtet und schien in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Ghobadi sprach, als ob nichts geschehen wäre, weiter über seine Gemälde:
“Die einzige Familie die ich noch habe sind meine Bilder. Ich liebe sie wie meine Kinder. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen. Und hin und wieder muss ich eine neues adoptieren. Derzeit liebäugele ich mit einem von David Cosgrove. Er war ein nicht sehr bekannter Porträtist des späten 18. Jahrhunderts. Der Sammler, der es besitzt, will es eigentlich nicht verkaufen, doch der Zufall will es, dass er auch ein fanatischer Sammler von Leica-Kameras ist.”
Ich unterbrach Moshe Ghobadi:
“Und wir sollen jetzt ihr Problem lösen, indem wir die Leica klauen, die wahrscheinlich unbezahlbar ist.”, mein Mut erstaunte mich und Roberto schaute angstvoll in meine Richtung.
Ghobadi legte den Kopf schief und sprach in einem freundlicheren Ton weiter:
“Meine Herren, ich will sie doch nicht übers Ohr hauen. Sehen sie doch unsere Beziehung als eine geschäftliche. Ich mache ihnen ein Angebot, Herr Oderberger kann seine Schulden bezahlen und ich würde ihnen bei Übergabe der Leica noch ein angenehmes Sümmchen bar auf die Hand geben. Herr Oderberger könnte seine Familie unterstützen, in Goa ein neues Geschäft aufmachen und sie Herr Kluge…”, Ghobadi klopfte mir auf die Schulter:
“… könnten sich auch einen Traum erfüllen. Wie wäre es, wenn ich den Schuldschein zerreiße und 60000 Mark draufzahle?”

Ich handelte noch ein wenig, die Summe stieg etwas und Ghobadi lies Champagner bringen, um unseren Geschäftsabschluss zu feiern. Auf dem Rückweg waren Roberto und ich bester Laune bis uns bewusst wurde, dass wir keinen blassen Schimmer hatten, wie wir die Kamera aus Alex Legrands Besitz in unseren bringen sollten. In der S-Bahn saßen wir stumm nebeneinander. Mein inneres Radio spielte “As Time Goes By” und ich wunderte mich über mich selbst.

IMG_20150125_0002_0001

“It’s still the same old story
A fight for love and glory
A case of do or die.
The world will always welcome lovers
As time goes by.”

– wird fortgesetzt –

*Kermit Roosevelt:

http://en.wikipedia.org/wiki/Kermit_Roosevelt,_Jr.

http://articles.mcall.com/2004-07-19/news/3560416_1_iranian-oil-iran-s-oil-kermit-roosevelt

Illustration: Rainer Jacob

Lost and Found-Marathon: “Off-Kudamm Atmo” / Eine Spurensuche

Solange ich noch nicht wieder auf Fototour gehen kann, werde ich bis Ende Juli alle Lost and Found-Geschichten in einem Sommermarathon rebloggen. Dann müsste ich mich von OP und anhaltendem Infekt erholt haben und an neuen Projekten arbeiten können (In Planung sind: Mehr Schöneberg, Kreuzberg, Mitte/Lustgarten/Schloss und Pankow).

Heute beginnt der Marathon mit der Spurensuche nach meiner verlorenen Zeit in den Nebenstraßen des Kudamms, wo ich vor vier Jahrzehnten lebte und liebte.

“Große Liebe, Blei-Streu-Straße, WG und Tolstefanz” / 1973-75

Ein halbes Jahr sind wir sehr glücklich. In der WG feiern wir Heiligabend, die erste weihnachtliche Feuerzangenbowle, der noch viele folgen werden, nur in anderen Räumen mit anderen Menschen. Vorn wohnt ein Schlagersänger, sein Raum hat eine kleine Bühne. Vorher war ein Bordell in der Wohnung. 1975 zahlten wir 1500.-DM für 200qm. Ganz hinten wohnt Schilys geschiedene Frau Christine mit ihrer sechsjährigenTochter Jenny.

DSCN0023

DSCN0022

2016. Ein paar Meter weiter sitzt ein wassertrinkender Franz Josef Wagner, wie ein fleischgewordenes Symbol für die Gentrifizierungsgeier, die vor 40 Jahren diesen Kiez zu ihrem Projekt machten und Leute wie mich und meine Wohn-Genossen vertrieben.

DSCN0093 (2)

Steinplatz: oben 2016, unten 1976 Ilona.

10986728_4852329522263_50532681015384714_o

img_20131217_0001

DSCN0048

 DSCN0056 (2)

2013-09-21-18-47-09_NEW

DSCN0054 (2)

Wenn wir nicht arbeiten, gehen wir ins Filmkunst 66 in die Spätvorstellung. Da laufen immer tolle Filme, an ein Festival mit Melodramen kann ich mich gut erinnern. Unser Lieblingsfilm ist natürlich Cabaret, Ilona hat durchaus etwas von einer Sally Bowles. Unter der S-Bahnbrücke schreien wir, drücken und küssen uns, bis die glotzenden Passanten zu sehr nerven und wir weitergehen, um Mark-Pizza zu essen oder in der Knesebeckstraße Billiard zu spielen.

welt-am-draht-neu

1975064_3878970508896_1304231574_n

Von der Atmosphäre des Café Bleibtreu ist nicht viel geblieben, besonders das Filmkunst 66 fehlt. Die Schießerei  am 27. Juni 1970, zwischen der Bande von Kiez-König Klaus Speer und einer konkurrierenden iranischen Gangstergruppierung, nur noch eine verblichene Erinnerung. Streitpunkt war die lukrative Vorherrschaft in der Bordellszene. “Der Schusswechsel, in der seitdem Blei-Streu-Straße genannten Nebenstraße des Kudamms, kostete ein Todesopfer und drei Verletzte.”

DSCN0043 (2)

img_20130720_00081

Als ich sie kennenlernte, arbeitete Ilona in Dralles Teestube in der Pfalzburger Straße. Für den “Xanadu”Roman zeichnete Rainer Jacob den Ort mit Blick auf den Ludwigkirchplatz und stellt “Beaky”, den Protagonisten, vor. Unten: der Ort heute.

DSCN0121 (2) DSCN0123

DSCN0038 (2)DSCN0039 (2)

Oben Bleibtreustraße 15, unten die Boutique “Moosgrund” mit ihrem Markenzeichen, der Baumwurzelscheibe, die in Ermangelung einer artgerechten Umgebung, seit 40 Jahren immer wieder geflickt werden muss.

DSCN0030 (2)

DSCN0126 (2)

Wir arbeiten im Ur-Tolstefanz in der Sächsischen Straße. Sie hinterm Tresen, ich als DJ. Es ist die Ära des Philly-Sound. Zum Sonnenaufgang gehen wir ins Borriquito um die Energie der Nacht loszuwerden, auschillen würde man heute sagen. Ilona ist Spanienfan, sie isst Conejo, ich Tintenfisch.

DSCN0012

Das Tolstefanz soll schließen. Angeblich hat man ein oder zwei Dealer erwischt, außerdem stand im Stern, hier würden RAF-Leute verkehren. Ich habe nie welche gesehen, nur einmal hat eine ungeschickte Zivi-Frau mich anwerben wollen. Vielleicht war sie auch von der Stasi, das wußte man ja nie genau damals. Es gibt eine rauschende Abschiedsparty im Tolstefanz. Alle Stammgäste lassen noch einmal die Sau raus. Dietmar Kracht, Star des Rosa von Praunheim-Films “Die Berliner Bettwurst” und exhibitionistischer Selbstdarsteller demonstriert, dass man Joints auch mit dem Gesäß rauchen kann. Kurz danach stirbt er. Es sind wilde Zeiten und viele werden sie nicht überleben. Meist sind Drogen der Grund, AIDS gibt es noch nicht, die Krankheit wird der neue Killer werden.

luzi4

Dann leben wir uns auseinander. Ich bin arbeitslos, habe kaum Geld. Ilona verdient gut in einem Kneipenjob, fliegt nach London, entdeckt die Rocky Horror Show und kauft bei BIBA trendige Klamotten im Art-Deco Stil.

IMG_20131219_0001 (2)

img_20130731_0003

Mir geht es nicht gut, ich habe abgenommen, merke, dass sie mir entgleitet. Sie bringt mir auch was mit, aber sie ist auf dem Sprung und will weiter, am liebsten in den Süden. Schließlich trennen wir uns. Sie geht nach Ibiza, ich erkenne sie auf einem Foto im “Stern”. Sie posiert mit anderen hübschen Mädchen auf einem schnellen Motorboot und hat offensichtlich viel Spass.

img_20131217_0005

Ein halbes Jahr später treffe ich sie in der Bleibtreustraße, sie ist wieder in Berlin und arbeitet als Nanny bei Jürgen Barz, dem Benjamin von Insterburg und Co. Ich besuche sie in der Xantener Straße, Jürgen, der nicht da ist, hat einen Videorekorder. Ich bin begeistert, so etwas wünsche ich mir schon seit 1965. Damals sah ich in der Micky Maus den Prototyp eines solchen Heimgeräts, 20 000 $ sollte das Teil damals kosten. Wir kucken “The Pink Panther”, Ilona erzählt von ihrer Enttäuschung auf Ibiza.

DSCN0127

Ein Jahr später fliegt sie wieder auf die Insel, diesmal läuft es besser. Sie bleibt und lebt immer noch dort, als wir uns in den 90ern auf der Funkausstellung wiedersehen. Dort laufen wir uns alle zwei Jahre über den Weg. Sie macht Promotion für “Filmbrillen” oder was immer ihr der Messe-Service vermittelt. Mit diesen regelmäßigen Jobs in Deutschland sichert sie sich zumindest eine kleine Rente. Ich produziere Fernsehsendungen für den Offenen Kanal Berlin und gehe in dieser Aufgabe ziemlich auf. Zwischendurch esse ich mich durch die VIP-Lounges. Sie ist bodenständig geworden, hat Mann, Haus und Café. Mein Herz macht jedesmal einen Sprung, wenn ich sie sehe. Doch wir leben in unterschiedlichen Welten und haben uns wenig zu sagen. Was bleibt ist die Erinnerung.

DSCN0017 (2)

Text + Fotos 2016: M.K. – Illus und Fotos 70er: Rainer Jacob

 

„Are You Experienced?“ oder „Wie ich Hendrix verpasste“ / 4. September 1970 – A Day in the Life

Am 4. September gab es in der Deutschlandhalle ein kleines Festival, als letzter Act und Hauptattraktion trat Jimi Hendrix auf. Außerdem standen Ten Years After, Procul Harum und Canned Heat auf dem Plakat. Die Zeitschrift „Stern“ war Mitveranstalter und ich hatte mir für 16.- Mark eine Karte gekauft. Ich war da an diesem Abend in der Deutschlandhalle. Aber Hendrix habe ich nicht gesehen. Ich wusste es damals nicht, natürlich nicht, doch es war das vorletzte Konzert das Jimi Hendrix jemals geben sollte. Zwei Wochen später war er tot, er starb am 18. September 1970 in London, im Alter von 27. Er hatte eine Mischung aus Rotwein und Schlaftabletten zu sich genommen und erstickte an Erbrochenem.
Als ich von Hendrix Tod in der Zeitung las, war ich traurig, ich ärgerte mich und ich verdrängte die Erinnerung an den 4. September 1970. Erst 44 Jahre später fiel er mir wieder ein und ich erinnerte mich, was damals geschah. Ich erinnerte mich, wieso ich den wahrscheinlich größten Gitarrenvirtuosen der 60er Jahre nicht erlebt hatte und ich erinnerte mich noch an etwas anderes. Es war auch der Tag, an dem ich meine Unschuld verlor.
6524_3

Ich hatte mal wieder die Schule gewechselt. Es war die fünfte Schule in sechs Jahren und das erste Mal, dass der Wechsel freiwillig war. Anfang 1970 hatte man mir mitgeteilt, kein Gymnasium in West-Berlin würde mich noch aufnehmen. Der Schulrat, den ich konsultierte, es war ein CDU-Mann, der später in einem Bauskandal auftauchte, verriet mir was ich schon geahnt hatte. Man bestrafte mich für mein politisches Engagement. „Ich wäre selbst schuld“, meinte er.

Dann ging ich ein halbes Jahr auf eine Privatschule, wo ich ausschließlich von gescheiterten Existenzen unterrichtet wurde. Ich war auf dem besten Wege selbst eine zu werden. Es war zwar unterhaltsam, aber ziellos. Also suchte ich eine Realschule, um wenigstens die Mittlere Reife zu machen. Der Direktor der Alfred-Wegener-Schule im großbürgerlichen Dahlem war bereit mich zu nehmen. Der Mann hatte eine Schwäche für Kultur und war beeindruckt, dass meine Mutter mit Schauspielern und Schriftstellern befreundet war. In seiner Schule fanden auch regelmäßig Nachdrehs für die damals beliebten „Pauker-Filme“ statt. Das einzige was mich an dem Mann irritierte war seine Kleidung, er trug stets braune Anzüge in eben jener Farbe, die die SA-Uniformen hatten.

Diese Schulwechsel empfand ich als qualvoll. Ich war eigentlich introvertiert bis zur Sozialphobie, aber ich maskierte meine Verfassung mit Extrovertiertheit und ich spielte den Klassenclown. Dadurch blieb ich zwar Außenseiter, aber wenigstens beliebter Außenseiter. Leider kostete dieses Auftreten viel Kraft und das sollte Folgen haben.
Zunächst legte ich mich mit dem Mathematiklehrer an. Der hatte die Angewohnheit die Schüler zu Beginn jeder Stunde mit einem Spiel zu „wecken“. Er stellte Rechenaufgaben und warf dann ein Stück Kreide auf einen der Schüler, der blitzschnell antworten musste. Er benutzte den Ausdruck „flink wie Windhunde“. Damit war er sehr „flink“ zu meinem Feind geworden. Als dann die Kreide in meine Richtung flog, verschränkte ich meine Arme und blieb selbstverständlich auch stumm. Erst als er mich nach meiner Verweigerung befragte, erklärte ich ihm: „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!“, hätte schon einmal eine Jugend verdorben und für den Krieg tauglich gemacht und man solle doch vorsichtig sein mit solchen Begriffen. Ich setzte noch hinzu, Einstein wäre in der Schule im Kopfrechnen sehr schlecht gewesen und ich nähme mir an ihm ein Vorbild. Der Lehrer war sauer, weil ich ihn in die Nazi-Ecke stellte, doch er ließ sie Sache auf sich beruhen. Später stellte er sich als Sozialdemokrat und Willy Brandt-Fan heraus. Es war einfach normal, auch 25 Jahre nach Kriegsende noch, solche Nazi-Sprüche zu benutzen. Er hatte sich „nichts“ dabei gedacht. Ich aber hatte damit einen Spitznamen bekommen, ich hieß nur noch „Einstein“. Die Anekdote sprach sich bald herum und da ich optisch ziemlich auffällig war, mit meinen langen Haaren, wusste bald jeder in der Schule, wer ich war. Ein paar Tage später wurden die Schulsprecher gewählt und ich wurde einer der Stellvertreter. Glücklicherweise brauchte ich das ganze Schuljahr lang nicht in Funktion zu treten.
640px-Jimi_hendrix_woodstock

Hendrix’ Stratocaster.

An jenem Freitag, dem 4. 9., hatte ich nach der fünften Stunde frei und als ich aus dem Schultor trat, stellte ich fest, es regnete kräftig. Vor dem Tor stand eine Schülerin aus der Parallelklasse mit einem Schirm, Susanne Fleischbauer. Sie hatte braune, lockige Haare, strahlende, blaue Augen und einen Kussmund. Ich hatte sie in der Raucherecke kennengelernt, sie war mir sympathisch und ich hatte mir vorgenommen mich bei Gelegenheit mit ihr zu verabreden. Mehr aus Jux klagte ich: „Igitt, da werden ja meine schönen Haare nass.“ Erstaunlicherweise ließ sich Susanne darauf ein und bot an, mich mit ihrem Schirm zur Haltestelle des Einsers zu bringen. Wir unterhielten uns gut bis mein Bus in Richtung Innenstadt kam und Susanne stieg mit ein, obwohl sie nach Zehlendorf-Mitte gemusst hätte. Wir sprachen über das Super Concert und sie war neidisch auf mich. Wir sprachen über die Bands, die auftreten würden und kamen auch auf Birth Control zu sprechen, eine Berliner Band, die das Vorprogramm bestritt und sie teilte mir beiläufig mit, sie würde die Pille nehmen. Sie wäre auch gern in die Deutschlandhalle gegangen, aber sie war verhindert, wegen eines Familientreffens. An der Blissestraße stieg sie mit mir aus und wir liefen die drei Ecken bis zu meiner Wohnung Arm in Arm. Mittags war ich allein zuhause, meine Mutter war in ihrem Phonoklub, mein Vater wohnte nicht mehr bei uns und mein Bruder arbeitete auf dem Flughafen Tempelhof.
In meinem winzigen Zimmer, neben einem schmalen Bett war nur Platz für ein Bücherregal, zogen wir uns aus und schließlich taten wir „es“. Ich hatte mir mein erstes Mal natürlich romantischer vorgestellt, aber ich war froh es hinter mir zu haben, weil ich auch Angst davor hatte. Angst etwas falsch zu machen und mich zu blamieren. Aber „es“ war total einfach und machte sehr viel Spaß. Erst Jahre später wurde mir klar, dass sie mich verführt hatte. Ich war ja viel zu schüchtern, um ein Mädchen zu verführen. Auf jeden Fall war ich schwer begeistert, wir schliefen gleich nochmal miteinander, bevor sie nach Zehlendorf-Mitte und ich in die Deutschlandhalle musste. Schon auf der Fahrt dorthin spürte ich Anzeichen für eine Verliebtheit bei mir.

Band72-1

Birth Control.

In der Halle spielte bereits „Birth Control“*, für die es eine Ehre war, als einzige Vorgruppe zu fungieren. Wie die meisten deutschen Bands damals, interessierten mich Birth Control nur am Rande, doch ich fand sie ziemlich gut an diesem Nachmittag. 1966 hatte sich B.C. aus den „Earls“ und den „Gents“, Berliner Beatbands der ersten Stunde, gebildet, Gründungsmitglied war unter anderem Hugo Egon Balder. Der wurde allerdings recht bald durch Bernd Noske als Drummer ersetzt. Noske wurde auch zum Sänger und zur integrativen Kraft hinter der Band, er starb erst kürzlich, im Februar 2014. In den ersten Jahren spielten Birth Control vor allem Cover, dann entwickelten sie einen breiten Blues mit langen Solo-Einlagen. 1969 hatten sie ein dreimonatiges Engagement in einem Nachtklub in Beirut. 1971 spielten sie als erste deutsche Band im Londoner Marquee Club, 1972 erschien ihr einziger Hit: „Gamma Ray“. Das Lied wurde 1990 auch von der Techno-Szene adaptiert.

Doch so ganz flog der Funke nicht zu mir über, an diesem Nachmittag in der Deutschlandhalle. Ich war auch noch in Gedanken bei Susanne. Ich kam erst richtig in Stimmung, als Procul Harum ihren bombastischen Rock aufführten. „A Whiter Shade of Pale“ spielten sie zwar nicht. Aber auch Stücke wie „A Salty Dog“, gesungen vom charismatischen Gary Brooker, waren damals schon Klassiker und das Publikum freute sich.

Bei Canned Heat** gerieten die schwer zu begeisternden Berliner schier aus dem Häuschen und ich mit ihnen. Der Rauch von diversen Joints brachte ein wenig Woodstock ins provinzielle West-Berlin und Bob „The Bear“ Hite verbreitete gute Laune. Kaum zu glauben, es war nur einen Tag her, das man Alan „Blind Owl“ Wilson, Gitarrist und Gründungsmitglied der Band, leblos in der Nähe Bob Hites Haus gefunden wurde. Kurz bevor die Band in die Maschine nach Berlin stieg, erfuhren sie von Al Wilsons Tod.

Canned_Heat_1970Canned Heat,  Bear in der Mitte, Al Wilson 2. v. rechts.

„On September 3, 1970, just prior to leaving for a festival in Berlin, the band was shattered when they learned of Wilson’s death by barbiturate overdose; found on a hillside behind Bob Hite’s Topanga home. Believed by de la Parra and other members of the band to have been a suicide, Wilson died at the age of 27“ WiKi

Der Show in der Deutschlandhalle war es nicht anzumerken und ich wusste nichts davon. Internet oder Twitter gab noch nicht und die Zeitungen meldeten nur den Tod von Weltstars. Meine Stimmung konnte gar nicht besser sein. Ich dachte wieder an Susanne und den unglaublichen Nachmittag, der hinter mir lag und freute mich schon, sie wiederzusehen.

Die Umbaupausen dauerten sehr lange, so war es bereits deutlich nach 22 Uhr, als Ten Years After auf die Bühne kamen. Neben Eric Clapton gehörte Alvin Lee damals zu meinen absoluten Gitarrengöttern. Aber nach einer halben Stunde merkte ich, ich hatte genug gute Musik gehört und konnte nichts mehr aufnehmen und ich war müde. Außerdem war ich in Gedanken schon am nächsten Morgen in der Schule, wenn ich Susanne wiedersehen sollte. Darauf freute ich mich sehr und ich wollte ihr nicht allzu unausgeschlafen entgegentreten. Ich war ja überzeugt, nun würde Susanne meine Freundin werden und ein großartiger Lebensabschnitt stand mir bevor. So dachte ich mir das. Also traf ich die Entscheidung, die ich ein paar Wochen später sehr bedauern würde. Ich hatte auch gehört, dass Hendrix zur Zeit ohnehin keine sehr guten Konzerte gab. Ich würde ihn mir anhören, wenn er das nächste Mal in Berlin Station machen würde. Wieso auch nicht?

Ob Hendrix an diesem Abend gut war, darüber streiten sich die Zeugen. Die Mehrheit des Berliner Publikums war wohl mit Hendrix unzufrieden. Robin Trower, der Gitarrist von Procul Harum berichtet von diesem Gig und er hat eine Erklärung:
I think it was above their [the audience’s] heads you know? I mean, I couldn’t take in a lot of what he was doing and I’m a musician, a guitarist, so you can imagine what it was like for them.
So anyway, then I was walking up and down outside the dressing room after he’d come off, and I was sort of saying, “Should I go in?” Then I burst into the dressing room all of a sudden and said, “Er, I’ve gotta tell you, it was the best thing I’ve ever seen.”
Which it was. And he said, “Uh, thank you, but, uh, naw.” And I just went, “Whoops, that’s it,” and walked out again.

Are_You_Experienced_-_US_cover-edit
Danach soll ihm Gerd Augustin*** backstage Uschi Obermayer vorgestellt haben. Der Musikmanager erinnert sich: “…Ich brachte nun auf Hendrix’ Deutschland-Tour, Uschi (Obermaier) in Berlin mit Jimi zusammen. Das war genau drei Wochen vor seinem Tod. Uschi war überglücklich, als ich sie mit in Hendrix’ Garderobe nahm, wo außer uns nur noch der Drummer Mitch Mitchell und seine Freundin Karen abhingen. Dort ließen wir es uns dann richtig gut gehen.”

Zwei Tage vor dem Berliner Auftritt hatte Hendrix ein Gig in Aarhus nach drei Songs abgebrochen. Mit den Worten: „I’ve been dead a long time!“ verabschiedete er sich vom Publikum. Sein letztes Konzert auf der Insel Fehmarn, am 6.9., geriet zu einem Desaster. Hendrix kehrte nach London zurück, wo ihn seine Freundin Monika Dannemann am Vormittag des 18.9.1970 leblos fand. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Er hatte nach Dannemanns Aussagen, neun Schlaftabletten genommen, die 18-fache Normal-Dosis von Vesparax, einem Barbiturat, das heute nicht mehr verschrieben wird. Es gab trotzdem keinerlei Anzeichen für einen Selbstmord. Hendrix war 27 als er starb. Genau einen Monat nach dem Super Concert starb auch Janis Joplin mit 27, an einer Überdosis Heroin. Am 1. 10. 1970 wurde Hendrix in seiner Heimatstadt Seattle beigesetzt.

IMG_20131127_0004

Der Autor 1970.

Ich fuhr nach Hause, konnte aber lange nicht einschlafen, zu viel ging mir durch den Kopf. Trotzdem war ich am nächsten Morgen bester Laune. In der ersten großen Pause hielt ich Ausschau nach Susanne, sie kam aber nicht in die Raucherecke. Erst als ich nach der letzten Stunde auf sie wartete, passte ich sie ab, ich hatte den Eindruck, sie wollte mir aus dem Weg gehen. Ich verstand die Welt nicht mehr und stellte sie zur Rede.
Erst druckste sie herum, sie war merkwürdig kleinlaut, schließlich fand sie Worte, doch ich kann mich nicht daran erinnern, wie sie sich genau ausdrückte. Zu heftig traf mich ihr Geständnis. Ich fühlte mich, als hätte man einen Kübel mit Eiswasser über mir ausgeschüttet. Sie würde schon zwei Tage für ein Jahr als Austauschschülerin in die USA gehen. Bis dahin hätte sie auch keine Zeit mehr mich zu sehen. Sie hatte sich wohl bewusst mit mir eingelassen, weil durch ihre Reisepläne eine Beziehung nahezu ausgeschlossen war. Ich habe eine ziemliche Weile gebraucht, bevor ich mich wieder mit einer Frau einließ und ich war misstrauisch geworden, durch meine Erfahrung.
Sechs Wochen vor Ende des Schuljahrs wurde ich krank, es rächte sich, dass ich permanent gegen meine Natur den extrovertierten Klassenclown spielte. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, hatte wohl auch einen Infekt verschleppt und mir eine schwere Lungenentzündung zugezogen. Der Direktor mit den braunen Anzügen gab mir trotzdem die Mittlere Reife. Vielleicht wollte er mich nicht ein weiteres Jahr auf seiner Schule.

Als Susanne ein Jahr später zurück kam, war an eine Beziehung nicht mehr zu denken, zu viel war passiert. Als Geschenk brachte sie mir einen schönen Arbeitsoverall aus den Staaten mit.

Inzwischen habe ich mir Jimis Auftritt vom 4. 9. 1970 bei You Tube herausgesucht und angehört. Nein, es wäre nicht mein Geschmack gewesen und selbst heute kann ich dem egozentrierten Spiel von Hendrix, an diesem Abend, wenig abgewinnen. Es mag artistisch wertvoll sein, aber ich bevorzuge eher bodenständigen Blues, mein Musikgeschmack ist nicht raffiniert.

Susanne ist also nicht meine erste Liebe geworden, aber eine Verbindung gab es trotzdem. Zwei Jahre später lernte ich zufällig Ilona kennen, sie erzählte mir, ich könne sie bei einer Modenschau wiedersehen. Aber wie sollte ich ohne Einladung da reinkommen? Ich beschloss mich als Pressefotograf zu tarnen. In der Modeszene waren gerade amerikanische Overalls total in und ich zog den von Susanne geschenkten an. Mit Overall und Kamera wurde ich problemlos eingelassen. Ich sah Ilona wieder und sie wurde meine erste große Liebe.

M. K.


* http://de.wikipedia.org/wiki/Birth_Control

** http://de.wikipedia.org/wiki/Canned_Heat

***Gerd Augustin:
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ra&dig=2011%2F09%2F22%2Fa0022&cHash=0515723d28f9b052f5c6a4577fdccde8

Fotos: ©M. Kluge oder creative commons

Erste Liebe: https://marcuskluge.wordpress.com/2014/09/12/familienportrait-grose-liebe-blei-streu-strase-wg-und-tolstefanz-1973-74-3/

Berlinische Räume – “Off-Kudamm Atmo” / Eine Spurensuche Teil 1

“Große Liebe, Blei-Streu-Straße, WG und Tolstefanz” / 1973-75

Ein halbes Jahr sind wir sehr glücklich. In der WG feiern wir Heiligabend, die erste weihnachtliche Feuerzangenbowle, der noch viele folgen werden, nur in anderen Räumen mit anderen Menschen. Vorn wohnt ein Schlagersänger, sein Raum hat eine kleine Bühne. Vorher war ein Bordell in der Wohnung. 1975 zahlten wir 1500.-DM für 200qm. Ganz hinten wohnt Schilys geschiedene Frau Christine mit ihrer sechsjährigenTochter Jenny.

DSCN0023

DSCN0022

2016. Ein paar Meter weiter sitzt ein wassertrinkender Franz Josef Wagner, wie ein fleischgewordenes Symbol für die Gentrifizierungsgeier, die vor 40 Jahren diesen Kiez zu ihrem Projekt machten und Leute wie mich und meine W-Genossen vertrieben.

DSCN0093 (2)

Steinplatz: oben 2016, unten 1976 Ilona.

10986728_4852329522263_50532681015384714_o

img_20131217_0001

DSCN0048

 DSCN0056 (2)

2013-09-21-18-47-09_NEW

DSCN0054 (2)

Wenn wir nicht arbeiten, gehen wir ins Filmkunst 66 in die Spätvorstellung. Da laufen immer tolle Filme, an ein Festival mit Melodramen kann ich mich gut erinnern. Unser Lieblingsfilm ist natürlich Cabaret, Ilona hat durchaus etwas von einer Sally Bowles. Unter der S-Bahnbrücke schreien wir, drücken und küssen uns, bis die glotzenden Passanten zu sehr nerven und wir weitergehen, um Mark-Pizza zu essen oder in der Knesebeckstraße Billiard zu spielen.

welt-am-draht-neu

1975064_3878970508896_1304231574_n

Von der Atmosphäre des Café Bleibtreu ist nicht viel geblieben, besonders das Filmkunst 66 fehlt. Die Schießerei  am 27. Juni 1970, zwischen der Bande von Kiez-König Klaus Speer und einer konkurrierenden iranischen Gangstergruppierung, nur noch eine verblichene Erinnerung. Streitpunkt war die lukrative Vorherrschaft in der Bordellszene. “Der Schusswechsel, in der seitdem Blei-Streu-Straße genannten Nebenstraße des Kudamms, kostete ein Todesopfer und drei Verletzte.”

DSCN0043 (2)

img_20130720_00081

Als ich sie kennenlernte, arbeitete Ilona in Dralles Teestube in der Pfalzburger Straße. Für den “Xanadu”Roman zeichnete Rainer Jacob den Ort mit Blick auf den Ludwigkirchplatz und stellt “Beaky”, den Protagonisten, vor. Unten: der Ort heute.

DSCN0121 (2) DSCN0123

DSCN0038 (2)DSCN0039 (2)

Oben Bleibtreustraße 15, unten die Boutique “Moosgrund” mit ihrem Markenzeichen, der Baumwurzelscheibe, die in Ermangelung einer artgerechten Umgebung, seit 40 Jahren immer wieder geflickt werden muss.

DSCN0030 (2)

DSCN0126 (2)

Wir arbeiten im Ur-Tolstefanz in der Sächsischen Straße. Sie hinterm Tresen, ich als DJ. Es ist die Ära des Philly-Sound. Zum Sonnenaufgang gehen wir ins Borriquito um die Energie der Nacht loszuwerden, auschillen würde man heute sagen. Ilona ist Spanienfan, sie isst Conejo, ich Tintenfisch.

DSCN0012

Das Tolstefanz soll schließen. Angeblich hat man ein oder zwei Dealer erwischt, außerdem stand im Stern, hier würden RAF-Leute verkehren. Ich habe nie welche gesehen, nur einmal hat eine ungeschickte Zivi-Frau mich anwerben wollen. Vielleicht war sie auch von der Stasi, das wußte man ja nie genau damals. Es gibt eine rauschende Abschiedsparty im Tolstefanz. Alle Stammgäste lassen noch einmal die Sau raus. Dietmar Kracht, Star des Rosa von Praunheim-Films “Die Berliner Bettwurst” und exhibitionistischer Selbstdarsteller demonstriert, dass man Joints auch mit dem Gesäß rauchen kann. Kurz danach stirbt er. Es sind wilde Zeiten und viele werden sie nicht überleben. Meist sind Drogen der Grund, AIDS gibt es noch nicht, die Krankheit wird der neue Killer werden.

luzi4

Dann leben wir uns auseinander. Ich bin arbeitslos, habe kaum Geld. Ilona verdient gut in einem Kneipenjob, fliegt nach London, entdeckt die Rocky Horror Show und kauft bei BIBA trendige Klamotten im Art-Deco Stil.

IMG_20131219_0001 (2)

img_20130731_0003

Mir geht es nicht gut, ich habe abgenommen, merke, dass sie mir entgleitet. Sie bringt mir auch was mit, aber sie ist auf dem Sprung und will weiter, am liebsten in den Süden. Schließlich trennen wir uns. Sie geht nach Ibiza, ich erkenne sie auf einem Foto im “Stern”. Sie posiert mit anderen hübschen Mädchen auf einem schnellen Motorboot und hat offensichtlich viel Spass.

img_20131217_0005

Ein halbes Jahr später treffe ich sie in der Bleibtreustraße, sie ist wieder in Berlin und arbeitet als Nanny bei Jürgen Barz, dem Benjamin von Insterburg und Co. Ich besuche sie in der Xantener Straße, Jürgen, der nicht da ist, hat einen Videorekorder. Ich bin begeistert, so etwas wünsche ich mir schon seit 1965. Damals sah ich in der Micky Maus den Prototyp eines solchen Heimgeräts, 20 000 $ sollte das Teil damals kosten. Wir kucken “The Pink Panther”, Ilona erzählt von ihrer Enttäuschung auf Ibiza.

DSCN0127

Ein Jahr später fliegt sie wieder auf die Insel, diesmal läuft es besser. Sie bleibt und lebt immer noch dort, als wir uns in den 90ern auf der Funkausstellung wiedersehen. Dort laufen wir uns alle zwei Jahre über den Weg. Sie macht Promotion für “Filmbrillen” oder was immer ihr der Messe-Service vermittelt. Mit diesen regelmäßigen Jobs in Deutschland sichert sie sich zumindest eine kleine Rente. Ich produziere Fernsehsendungen für den Offenen Kanal Berlin und gehe in dieser Aufgabe ziemlich auf. Zwischendurch esse ich mich durch die VIP-Lounges. Sie ist bodenständig geworden, hat Mann, Haus und Café. Mein Herz macht jedesmal einen Sprung, wenn ich sie sehe. Doch wir leben in unterschiedlichen Welten und haben uns wenig zu sagen. Was bleibt ist die Erinnerung.

DSCN0017 (2)

Text + Fotos 2016: M.K. – Illus und Fotos 70er: Rainer Jacob

Familienportrait –„Margys und Abschied vom Kudamm“ / 1975-77

800px-Rolf_Zacher_(Berlin_Film_Festival_2010)

Gestern starb der Schauspieler und Musiker Rolf Zacher. Machs gut, Rolf!

Aus diesem Anlass reblogge ich meine kleine Margys-Geschichte. Rolf Zacher gehörte zu den Stammgästen des Lokals in der Joachimsthaler Straße.

1975 endet meine erste große Liebe. Ich ziehe aus der WG in der Schlüterstraße aus und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu meiner Mutter zu ziehen bis ich etwas Neues finde. Mit 20 ist das ein bisschen peinlich, nicht sehr. Tagsüber hänge ich noch viel in der Bleibtreustraße herum und treffe Hartmut, zu dem ich in die Knesebeckstraße ziehe. Abends gehe ich ins Margys in der Joachimsthaler Straße. Heute ist im gleichen Haus das Ku’dorf. Im Ku’dorf bin ich nur ein einziges Mal gewesen. Es war am 27. November 1975, dem Tag der Eröffnung. Mein Freund Robert T. Odeman, ein schwuler Literat, hatte mich dazu eingeladen, er hatte haufenweise Gutscheine für Speise und Trank und meinte, es könne lustig werden. Wurde es aber nicht. Die Berliner Mischung aus Filz und Schickeria der 70er Jahre war mindestens genauso unerträglich, wie besoffene Touristen. Na gut, wahrscheinlich schlimmer. Ich sage nur Lokalpolitiker…

Welt am Draht NEU

1975064_3878970508896_1304231574_n

Café Bleibtreu

Das Margys war aber gut, es lag im ersten Stock, im Sommer konnte man draußen auf der Terrasse stehen und feiern, es gab keine Anwohner, die sich beschwert hätten. Die Musik war gut und hier gab es eine nette Mischung von Tänzern, erotischen Abenteurern, Jungen, Mittel-Alten, Promis und natürlich gab es auch das gehobene Drogenvolk. Drogen waren nun mal in der 70er Jahren universal vorhanden. Die Schauspieler Y Sa Lo und Rolf Zacher waren Stammgäste, Y Sa am Anfang ihrer Karriere, Rolf war schon länger im Geschäft. In den 50er Jahren verdiente er als Rock’n’Roll-Tänzer in Rolf Edens Lokalen Geld. Von der Gage bei “Lautlose Waffen” (1966) kaufte er sich einen Porsche. Nach einem schweren Unfall wurde er mit Opiaten behandelt, als die nicht mehr gegen die Schmerzen halfen, landete er beim Heroin. Über 70 Entziehungsversuche und mehrere Gefängnisaufenthalte später, gelang es ihm in den 1980er Jahren, seine Sucht zu überwinden. Zachers Karriere brachte ihn weit, bis zur „Zauberberg“ Verfilmung von Geißendörfer, doch auch in die Niederungen der TV-Unterhaltung und in die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Y Sa Lo gelangte zu eher kurzfristigem Ruhm in Fassbinder Streifen, dann machte sie Hörspiele und Theater, später unterrichtete sie Filmschauspiel.

12189818_10205212211729084_8909071415807701360_n

Joachimsthaler Straße

Im Frühjahr 1977 flippt Hartmut plötzlich und unerwartet aus. Nachdem er fünf Tage nicht geschlafen hat, glaubt er die Lösung für die deutsche Teilung zu kennen. Die Wiedervereinigung stehe vor der Tür, meint er. Kurz danach steht er vor der Tür der Nervenheilanstalt Wittenau und bittet um Einlass. Ich muss ausziehen.
Ich arbeite stundenweise in einer Buchhandlung in Friedenau. In der Rheinstraße 14 finde ich eine winzige Wohnung mit Kohleofen und Außenklo. Ich ziehe ein, weg vom Kudamm und seinen Nebenstraßen, und beschließe Schriftsteller zu werden. 

2015-10-06-0001 (2)

Einzug Rheinstraße

img_20130901_00011

Hof Rheinstraße

https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Zacher

Text: M.K. – Zeichnungen und Fotos: Rainer Jacob (Mit Ausnahme des Bildes von der Joachimsthaler Straße)

Familienportrait Teil 25 – “Sag mir wo die Blumen sind” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / 3. und letztes Kapitel / 1961- heute

Mein Bruder, meine Cousinen und ich, 1961 im Grunewald

1961 wird alles anders.

In Hamburg nimmt eine unbekannte Band unter dem Namen “The Beat Brothers” mit Tony Sheridan “My Bonnie” auf. Die Aufnahme wird in Deutschland 100 000mal verkauft. Die Musiker der Gruppe lassen sich ihre Haare zu Moptops schneiden, “Pilzköpfe” sagt man in Deutschland, ihr Name ist nun “The Beatles”. Sie werden nicht nur Mode und Musik nachhaltig beeinflussen, sie werden den ganzen Erdball verändern. Der sowjetische Kosmonaut Yuri Gagarin fliegt als erster Mensch in den Weltraum. Barbie bekommt einen Freund namens Ken, in Berlin wird eine Mauer errichtet, die jeden Kontakt zwischen und Ost und West unterbindet und ich bringe mir englisch bei. Ich will die Musik im AFN besser verstehen und die amerikanischen Comics, wie Batman oder Spider-Man lesen können, die ich mir in den Hefte-Tausch-Läden besorge. 1961 ist auch das Jahr in dem die venezolanischen Kluges nach West-Berlin kommen.

IMG_20140111_0009

Wolfgang und Notburga in Tokyo (vorn, Mitte, 1969)

Erst einmal wohnen sie bei uns. Mein Bruder und ich kampieren mit den beiden Mädchen aus Venezuela im großen Wintergartenzimmer mit Blick auf den Volkspark. Ich bin mit sieben Jahren der Kleinste, Ingrid ist neun, die kleine Notburga ist elf, Thomas ist 13. Wir verständigen uns auf deutsch, mit spanischen und englischen Ausdrücken. Als wir im Sommer ins Strandbad Wannsee gehen, will Ingrid nicht ins Wasser. Sie hat Angst vor Haifischen. Abends quatschen wir lange, ich hatte mir ja immer Schwestern gewünscht. Leider dauert der Ausnahmezustand nicht lange.

Image Wolfgang

Wolfgang wird meine erste männliche Stil-Ikone. Er trägt amerikanische Oberhemden, die Zigaretten stets in der Brusttasche, schicke Krawatten aus Caracas, seine Haare sind mit Pomade locker gelegt. Obwohl er viel arbeitet und sicher auch Stess hat, strahlt er Ruhe aus und gibt jedem Gesprächspartner das Gefühl, ganz für ihn da zu sein. Die große Notburga sieht im piefigen West-Berlin wie ein Filmstar aus. Selbst im Kopftuch scheint sie den Seiten eines Modemagazins entsprungen zu sein.

Image Notburga

Wolfgang arbeitet als Manager für die Charterfluglinie “Saturn Airways” im Flughafen Tempelhof. Nachmittags besuche ich ihn öfter dort, er nimmt sich für mich Zeit, zeigt mir das imposante Gebäude, ich darf sogar aufs Rollfeld mit ihm. Anschließend bekomme ich Coco-Cola, echte amerikanische, ich bilde mir ein, dass sie viel besser schmeckt als deutsche.

Die amerikanischen Kluges ziehen in die Nähe vom Flughafen. Alle 20 Minuten donnert ein Clipper im Tiefflug über das Haus. Dann mieten sie einen Bungalow in Lichtenrade, er wirkt sehr amerikanisch, innen und außen. Sie behalten aber auch die ganze Zeit eine Wohnung in Österreich, in Ach an der Salzach, wo Notburgas Vater nach dem Krieg praktizierte. Viele Einwohner können sich an ihren ehemaligen Arzt, Dr. Baumgartner erinnern. Für die große Notburga wird es ein Stück Heimat gewesen sein, dort auszuspannen. Auch meine Familie macht hier Urlaub, im Sommer 1963. Im Dorfkino sehen wir Dr. No, den ersten Bond-Film. Man muss nur über eine Brücke gehen, dann ist man in Burghausen, Deutschland. In Österreich wird auch der Sohn von Wolfgang und Notburga, Johannes, geboren, am 27.2.1964. Die Eltern legen wert darauf, dass er nicht in Deutschland zur Welt kommt, nie soll er eine deutsche Uniform tragen.

Image

Die große Notburga mit dem kleinen Johannes

IMG_20140929_0002

Marcus 1961, Volkspark Wilmersdorf

Als meine Mutter krank wird und in eine Klinik muss, wohne ich eine Zeitlang in der Villa in Lichtenrade. Die große Notburga kümmert sich sehr freundlich um mich. Ich habe angefangen mir das Kochen beizubringen, Notburga unterstützt mich und zeigt mir exotische Gerichte, die sie auf den vielen Reisen rund um den Globus mit Wolfgang kennen gelernt hat. Suki-Yaki wird mein neues Leibgericht. Wolfgang zeigt mir seine technischen Geräte, wie das Uher-Report-Tonbandgerät und seine Filmkamera. Das Haus ist voll mit süd- und nord-amerikanischer Kultur, Platten, Büchern, Bildern und Kunstgegenständen, ich fühle mich sehr wohl. Die größte Entdeckung ist jedoch der kleine Fernseher in der Küche. Dort kann ich das amerikanische Soldatenprogramm sehen, das nicht nur in Dahlem, sondern auch am Flughafen Tempelhof, einen kleinen Sender betreibt. Zu einer Zeit, als das deutsche Fernsehen um 17 Uhr beginnt und um 23.30 Uhr endet und in West und Ost gleichermaßen langweilig ist, wird das für mich zu einer Offenbarung. Serien wie Dragnet, Addams Family oder The Outer Limits begeistern mich. Jeden Abend läuft die Tonight Show mit Johnny Carson, der Prototyp der Late Night Show. In Deutschland wird es 30 Jahre dauern, bis das Format adaptiert wird. Carson ist großartig und ich lerne viel über US-Pop-Kultur. Jeden Sonnabend kommt ein Gruselfilm der B-Klasse, meist aus den 50er Jahren. “The cheaper they are the better they are!”, wie es Frank Zappa ausdrücken wird.

Image

Johannes und die kleine Notburga

In Berlin ist für Wolfgang das obere Ende der Karriere-Leiter erreicht, die Familie zieht in den Taunus, nahe dem Rhein-Main-Flughafen. Hier will Wolfgang seine Vison verwirklichen. Durch 20 Jahre Berufserfahrung im Fluglinien-Geschäft und seine unzähligen Reisen, ist er zum Experten geworden. Jetzt will er seine Expertise in einem weltweiten Linienflug- und Straßenatlas einbringen. Ein gigantisches Projekt, das er fast allein auf die Beine stellt, selbst Illustrationen wie die Concorde zeichnet er eigenhändig. Die Flug- und Straßenkarten ergänzt ein umfangreicher Informationsteil, ein mehrsprachiges Wörterbuch ist auch dabei. Leider hat das Produkt keinen durchschlagenden Erfolg. Vielleicht war er mit seiner Idee auch zu früh, 15 oder 20 Jahre später, in einer globalisierten Welt, hätte er wohl mehr Erfolg mit seinem wegweisenden Projekt gehabt.

Image

Wolfgangs Atlas

Am 2. Juli 1971 sehe ich ihn zum letzten Mal. Auf unserem Weg nach Paris, besuchen wir ihn und die große Notburga, in der Nähe von Frankfurt. Es ist Nachmittag, er hatte sich hingelegt, Notburga will ihn eigentlich schlafen lassen, aber er besteht darauf, uns Hallo zu sagen. Als er im Morgenmantel die Treppe herabkommt, bin ich bestürzt, er sieht alt aus und müde, sehr müde. Ich habe eine Ahnung, ich werde ihn nicht wiedersehen. Nach einer Stunde verabschieden wir uns, wir noch eine lange Strecke vor uns.

In der folgenden Nacht bin ich zum ersten Mal in Paris. Während ich um 3 Uhr morgens am Boulevard St-Michel sitze, stirbt ein paar Ecken weiter Jim Morrison in seiner Badewanne.

https://marcuskluge.wordpress.com/2013/12/09/familienportrait-marathon-tag-15-paris-zum-ersten-1971/

Image

Notburga, Johannes, Wolfgang, Mitte der 70er Jahre

Image

Johannes, Marcus, 1977 in Berlin

Nach dem Atlas-Projekt zieht Wolfgangs Familie zurück nach Venezuela. Nur die kleine Notburga ist inzwischen in Deutschland verheiratet und hat einen Sohn, sie bleibt in Europa. In Amerika kann Wolfgang an seine beruflichen Erfolge nicht mehr anknüpfen. In Venezuela ist geschäftlicher Erfolg häufig mit Korruption und Vetternwirtschaft verbunden, aber das liegt dem geradlinigen Wolfgang nicht. Die große Notburga geht wieder arbeiten. Wolfgang geht es gesundheitlich nicht gut. Es rächt sich, dass er sich nie geschont hat und auch nie Sport getrieben hat. Er muss ins Krankenhaus, nimmt es wie Urlaub, scherzt es ginge ihm großartig, nach der Erholung im Spital. Niemand rechnet mit der Katastrophe, die sich nun ereignet. Am 24. April 1979 stirbt Wolfgang Kluge an einem Herzinfarkt, keine 50 Jahre Lebenszeit waren ihm vergönnt. Ingrid erkennt die Warnsignale bei ihrem Vater und fährt ihn nach Caracas in Krankenhaus, doch schon auf der Panamericana, mitten im Verkehr, verlassen ihn die Lebensgeister für immer. Er stirbt in ihren Armen.

Image

Notburga, die den eigenen Schmerz tragen muss, macht sich große Sorgen um ihre Kinder, besonders Johannes. Wolfgang und er standen sich besonders nah. “Wie zwei verschworene Lausbuben”, seinen sie gewesen, schreibt die Witwe meiner Mutter. Johannes ist 14 einhalb, er frisst den Schmerz in sich hinein, auch Notburga verschließt sich. Sechs Monate später schreibt Notburga meiner Mutter, dass sie wieder zueinander gefunden haben. Aber Johannes hat unter dem Druck der Trauer seine Kindheit aufgeben müssen. Er ist nun vollends erwachsen. Schon länger hatte er den Plan auf die Luftwaffenakademie zu gehen, er will fliegen. Dadurch würde sein Studium nicht die Eltern belasten. Notburga hat Vorbehalte, “Du weißt wie ich den Militarismus hasse.”, schreibt sie. Natürlich ist sie trotzdem einverstanden. Der nunmehr 15jährige will auch in den Schulferien arbeiten gehen, um für die kleine Familie beizutragen, das redet sie ihm aus. Für die Luftwaffe ist er zu groß gewachsen und die Brille stört. Er geht zum Heer, sein Kompaniechef ist ein ehrgeiziger Offizier namens Hugo Chavez. Johannes hält ihn damals schon für ziemlich durchgeknallt. 1992 versucht sich Chavez durch das Militär an die Macht zu putschen. Der Umsturz misslingt, nach zwei Jahren wird er begnadigt. 1998 wird er Präsident, er ist vor allem im Ausland umstritten. 2013 stirbt er an Krebs, noch heute besteht die Regierung aus seinen Weggefährten. Zu denen hätte auch Johannes gehören können, doch dieser erkennt früh den Karrieristen, der mit blankem Populismus Anhänger um sich schart, die einen Personenkult betreiben, der Chavez’ Narzissmus schmeichelt.

Image

Johannes beim Militär

Es ist merkwürdig und traurig, dass offenbar alle Kluge-Männer zu früh auf ihren Vater verzichten mussten. Bei meinem Vater war das so, bei Wolfgang, bei Johannes und auch bei mir. Nach der Scheidung meiner Eltern, da war ich zwölf, hat sich mein Vater nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet, er hat mir nie geschrieben oder sich sonst um mich gekümmert. Ein paar Mal habe ich ihn besucht, die Initiative ging dabei von mir aus. Aber auch bei diesen Treffen hat er nie gefragt, wie es mir ginge, was ich machte oder wie meine Pläne wären. Sicher sind die Einzelschicksale unterschiedlich und können kaum verglichen werden, aber das Fehlen einer Vaterfigur fühlt sich sehr ähnlich an und es ist ein elementarer Mangel, nicht nur in meiner Familie.

Image

Notburga bei mir in Berlin, Anfang der 90er

Image

In Los Castores. Anfang der 90er Jahre

1993. Vier Wochen bleiben wir in Venezuela. Wir wohnen bei Notburga und Johannes in Los Castores, einer bewachten Wohnanlage, wo auch andere Familienmitglieder zu Hause sind. Auch Ingrid, die in der Nähe wohnt, treffe ich hier wieder. Neben Merida in den Anden, lernen wir Prado Largo kennen, dort hat die Familie seit langem Urlaub gemacht. Wir wohnen bei Notburgas Schwester Titti und ihrem Mann Diethard. Klimamäßig komme ich mir vor wie im Dschungel. An die 40° bei hoher Luftfeutigkeit sind nicht so mein Wohlfühlwetter. Danach verbringen wir noch eine Woche auf der Karibikinsel Margarita, mit Seebrise und Baden im Atlantik fühle ich mich dort besser aufgehoben. Wir wohnen in einer Ferienwohnung, die der kleinen Notburga und ihrem Mann gehört.

Um 22 Uhr am 3. Dezember 1993 soll unser Rückflug vom Maiquetia-Flughafen abheben. Nach einer tränenreichen Verabschiedung stellen wir fest, dass unser Flug erhebliche Verspätung hat. Erst morgens um 1.30h können wir die Lufthansa-Maschine besteigen. Wir erfahren, dass die Witwe des Drogenbosses Pablo Escobar mit dem gleichen Clipper aus Frankfurt zurückgeflogen ist, nachdem sie vergeblich in Deutschland um Asyl gebeten hat. Escobar wurde am Vortag von einem Elite-Kommando in Medellin erschossen. Deutsche Geheimdienstler haben die Maschine und das Gepäck stundenlang durchgecheckt, weil sie einen Racheanschlag befüchteten. An Bord zeigt sich die Lufthansa großzügig mit den alkoholischen Getränken, meine 70jährige Mutter, die eigentlich Flugangst hat, schläft bald seelig. Ich kann nicht schlafen. Ich denke über Wolfgang und Notburga nach, über den Krieg und seine Folgen, die für Generationen nachwirken. Ich denke an die Verletzungen, die Schuld, die Vertreibung und das Schweigen, dass in so vielen Familien herrscht und das auch die Kinder stumm macht. Ein Lied kommt mir in den Sinn, ich habe es seit der Kindheit nicht mehr gehört. Notburga hat es mir damals vorgespielt. Pete Seeger hat es geschrieben, Marlene Dietrich hat es in Deutschland bekannt gemacht.

Sag mir wo die Blumen sind
Wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind
Was ist gescheh’n
Sag mir wo die Blumen sind
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehn
Wann wird man je verstehn

Image Venezuela 1959

Die große Notburga stirbt am 20. Dezember 1995 an einem Lungenemphysem und einer Lungenentzündung. Meine Mutter erliegt am 15. Mai 2005 einem Krebs, der ihre Lunge befallen hatte. Beide haben viel und gern geraucht.

Die “kleine” Notburga lebt heute mit ihrem Mann im Taunus, nachdem sie fast ein Leben lang für Fluglinien wie die venezolanische Viasa gearbeitet hat. Ingrid wohnt in der Nähe von Caracas, genau wie ihr Bruder, Johannes W. Kluge, der am 17. Oktober 2009 geheiratet hat.

Ich danke Johannes für seine Unterstützung, seine Hinweise und sein Gedächtnis, ohne ihn hätte ich diese Geschichte nicht aufschreiben können.

Marcus Kluge

Der erste Teil:

Familienportrait Teil 23 – “Hitlerjunge, Weltenbummel und Clipper Club Caracas” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 1 / 1930-52

Der zweite Teil:

Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

Mein erstes Buch könnt Ihr hier bestellen:

marcusklugeberlin@yahoo.de

Berlinische Räume – „Eine Insel gegen den Zeitgeist“ / SO 36, 80er Jahre, Kneipennächte / von Cornelia Grosch

Ewig schmierig und schmuddelig, so war unser Schaufenster, obwohl wir es oft putzen ließen. Aber das Nikotin und die Ausdünstungen der Gäste hinterließen schnell wieder neue Spuren. Draußen war es – in meiner Erinnerung – immer dunkel. Drinnen auch, die Wände wurden nikotingelb, dann nikotinbraun. Die Beleuchtung war schummerig, die Einrichtung eher altmodisch. Das war unsere kleine Insel gegen den Zeitgeist.

2014-08-10_18 (2) (2)

In Großbritannien begannen die 80er Jahre schon 1979. Margaret Thatcher wurde Premierministerin und krempelte das Land mehr um, als irgendjemand sonst seit Menschengedenken. Die „Eiserne Lady“ legte sich mit Gewerkschaften und den staatlichen Unternehmen an und privatisierte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Außenpolitisch lag sie auf einer Linie mit den USA.

1981 war dort Ronald Reagan Präsident geworden und damit begannen sie westweltweit, die 80er Jahre. Sie sollten anders enden, als sich alle Hauptakteure, aber auch wir, das Volk, vorstellen konnten. Zunächst hieß es die Gesellschaft optimieren, den Kommunismus bekämpfen, aufrüsten. Die Welt erhielt einen ungeheuren Modernisierungsschub, der auch teilweise überfällig war, der aber einher ging mit Brutalität und Kälte.

2014-08-10_27 (2)

Gerade noch glaubten wir, die Irrwege der Siebzigerjahre überwunden zu haben mit ihren linksradikalen, aber in Wirklichkeit totalitären Gruppen. Meinhof, Ensslin und Baader waren tot, zusammen mit ihren Opfern, das war auch weitgehend als Irrweg erkannt, wenn auch noch nicht in der vollen Tragweite.
Ich hatte endlich erkannt, wo ich hingehörte: in die linke undogmatische Alternativ-Szene bzw. „Scene“. Deswegen hatte ich das gutbürgerliche Charlottenburg und eine ehe-artige Beziehung hinter mir gelassen und war nach SO 36 gezogen. Hatte ein Haus mit besetzt, in der BI SO 36 mitgearbeitet und abends oft die Zeitschrift der BI in den Kneipen verkauft.

Die Kneipen waren faszinierend, denn ich war ja immer noch auf der Suche nach dem Traumprinzen. Dort saßen sie. Und da ich selber schüchtern war, hatte ich mich längst an den Alkohol als kommunikationsfördernde Droge gewöhnt. Ich wollte dazugehören, zu dieser schillernden Scene, dem Jodelkeller, dem Elefanten, der Roten Harfe, dem Slainte. Nachdem ich bei einer Jodelkeller-Razzia einen Bullenknüppel abbekam, war ich „drin“. In der Kreuzberger Kneipenscene grassierte damals eine irre Angst vor Spitzeln. Wer aber mit Kopfverletzungen und blauen Augen einen Tag später im Jodelkeller auftauchte, konnte kein Spitzel sein. So einfach war das.

Anfang der Achtziger war ich also längst in diesen Kreisen bekannt, hatte einen der wildesten Trunkenbolde der Scene kennengelernt und bekam dieses Kneipenleben immer weniger mit meinem restlichen Leben in Einklang. Nachdem ich 1982 endlich mal einen tollen Architektenjob hatte und ahnte, dass sowas nie wieder kommt, beschloss ich daher, nun etwas ganz anderes zu machen.
Mit meinem Trunkenbold war ich nach Gomera ausgewandert und wieder zurückgekehrt, weil es da nicht so lief, wie wir dachten. Als Alternative hatten wir uns aber auf Gomera überlegt, dass wir in Kreuzberg eine Kneipe aufmachen wollten, natürlich nur in „unserem“ Kiez, rund um die Oranienstraße.

Wir waren pünktlich zum 1. Mai 1983 wieder in Kreuzberg, feierten auf dem Lausitzer Platz und verkündeten unsere Idee weiträumig. Die Zeit war günstig, weil der Jodelkeller wegen Sanierung dichtgemacht hatte und die Stammgäste heimatlos waren.

2014-08-10_49 (2)

Ein Lokal in der Oranienstraße war auch bald gefunden, Vorbesitzer Türke; um den Mietvertrag abschließen zu können, mussten wir aber alle Beziehungen spielen lassen. Werner Orlowsky, der damalige Baustadtrat von Kreuzberg, musste für uns ein gutes Wort einlegen, dann klappte es. Wir renovierten mit Hilfe unserer späteren Gäste, von denen viele Handwerker waren. Am 11. November 1983 eröffneten wir unsere Kneipe. Sie war von Anfang an voll. Die heimatlosen Jodelkellergäste waren da. Außerdem, das war ein offenes Geheimnis, kamen alle, um zu gucken, ob wir das packten, eine Kneipe zu führen. Keiner traute uns beiden das zu, wir kannten beide den Kneipenbetrieb nur von vor dem Tresen. Ich als Konzessionsträgerin musste eine halben Tag zur Industrie- und Handelskammer, wo Dias gezeigt wurden, was man in einer Kneipe alles nicht machen durfte. Besonders erinnere ich mich noch daran, dass man Gummistiefel nicht auf dem Herd trocknen sollte. Das war meine komplette Ausbildung!

Rätselhafterweise klappte es aber ganz gut, obwohl ich lange, auch danach noch, Alpträume hatte: lauter fremde Menschen kamen in die Kneipe, bestellten alle etwas und ich fand keine Zettel, um die Bestellungen aufzuschreiben.

Mit der Zeit entwickelte sich zwischen meinem Partner und mir eine Art Arbeitsteilung: à la Belle et la Bête. Schön war ich zwar nicht, aber ich war die Nette. Auch hinter dem Tresen war mein Harmoniebedürfnis groß und ich wollte, dass die Gäste sich wohlfühlten. Mein Partner dagegen hatte den Hang zu Ausrastern. Es hatte hohen Unterhaltungswert, ihm bei so etwas zuzusehen, wenn man nicht selber Grund des Ausrasters war. Er erteilte auch gerne Hausverbote. Ich wiederum sorgte dann am nächsten Tag dafür, dass die Wogen wieder geglättet wurden. Ob unsere Gäste uns für bescheuert hielten, weiß ich nicht, nehme es aber an. Auf alle Fälle sorgten wir beide dafür, dass es bei uns nicht langweilig wurde.

Diese Kneipe war leider kein typisches Ecklokal, sondern ein in Berlin genauso oft vertretener Typ: der Schlauch. Ganz vorne das Schaufenster mit unserem schönen alten Stehtisch, an einer Seite der Tresen, auf der anderen Tische und Stühle. Hinten das „Spielzimmer“ mit Kicker, Flipper und Zigarettenautomaten, dahinter die Toiletten. Im Keller Kühlraum für Bier und Getränke, Kohlenkeller und Lagerräume.

Die Einrichtung: mit Absicht im Anti-Achtzigerjahre-Stil eingerichtet, also nicht hell und gestylt, sondern schummrig und höhlenartig. Hier wollten wir uns verkriechen und warten, dass die Achtzigerjahre vorbeigingen und wieder bessere Zeiten anbrechen würden.
Die Musik: natürlich nichts Achtzigerjahremäßiges. Mein Partner und unser Mitarbeiter, den wir vom Jodelkeller übernommen hatten, standen auf Blues und ähnliches. Johnny Winter, John Lee Hooker, aber auch David Peel oder die Edgar Broughton Band gehören zu meinen akustischen Erinnerungen. Ich spielte mehr meine eigenen Mixtapes, aufgenommen bei RIAS-Treffpunkt oder S-F-Beat, aber auch bei mir fanden sich weder Depeche Mode, Talking Heads noch die Neue Deutsche Welle.
2-17 (2)
Die Gäste: eine wilde Mischung aus allem, was da wohnte, arbeitete oder sonst irgendetwas dort zu tun hatte. Überwiegend Ex-Jodelkellergäste, aber auch Afrikaner aus dem afrikanischen Zentrum nebenan, einzelne Frauen und Kinder (nachmittags), alte Bekannte + neue Bekannte aus den Parallelwelten. Später hatten wir auch viele Punks als Stammgäste, die auch um die Ecke oder gegenüber in besetzten Häusern wohnten. 99,9% unserer Gäste waren Stammgäste, aber zum Glück kamen auch manchmal Touris rein (die je nach Ausgangslage angepöbelt oder umarmt wurden). Viele unserer Stammgäste verdienten ihr Geld als Handwerker, arbeiteten aber meistens nur so viel, um leben zu können. Dazu brauchte man nicht viel, die Mieten und das Bier bei uns waren billig. Es gab aber auch den klassischen Studenten, der Taxi fuhr, den Filmvorführer, der nach der Arbeit kam, eine Lehrerin, die oft als letzte ging, aber am nächsten Morgen wieder unterrichten musste. Nicht zu vergessen die Künstler, die auch bei uns ausstellten.

Nachdem ich meine anfängliche Unsicherheit überwunden hatte und meistens doch Zettel zum Aufschreiben der Bestellungen da waren, genoss ich den Job. Er war anstrengend, aber ich war die wichtigste Frau im Lokal. Das war toll und für mich eine ganz neue Erfahrung!

Das wichtigste an dem Job war nicht das richtige Zapfen von Bier, sondern das Schaffen von Stimmungen, die durch die Auswahl der Musik, aber auch durch meine Interaktionen mit den Gästen geschaffen werden mussten. Wenn Aggressivität in der Luft lag, legte auch ich Blues auf. Leute rauszuschmeißen war für mich ungefährlich, aber manchmal langwierig (es gab anscheinend ein Tabu, Frauen zu hauen; mir ist nie was dabei passiert). Wenn aber, was öfter vorkam, nachmittags gleich nach dem Öffnen noch nicht viel los war, dann musste ich meine lebhaftesten Mixtapes auflegen und mich um die Gäste kümmern, mich mit ihnen unterhalten, Würfel spielen oder zusehen, dass sie sich untereinander beschäftigen konnten. Jeder Stammgast musste als Persönlichkeit behandelt werden. Ich kam mir oft eher als Therapeut, Rettungssanitäter oder Frau Dr. Sommer (Beratung in allen Lebenslagen) vor. Das war eben das Plus, was die Gäste erwarteten, sonst wäre es auch in den Achtzigern billiger gewesen, sich einen Sixpack zu kaufen und zu Hause zu trinken.

Es war ein tolles Leben, ich hatte endlich einen Job, für den man nicht früh aufstehen musste (15 Uhr reichte, um das Lokal um 17 Uhr aufmachen zu können), ich verbrachte auch freiwillig meine Freizeit dort, weil die Leute so toll waren und hatte – nach der privaten Trennung von meinem Partner – freie Auswahl unter den Männern, die sich bei uns rumtrieben.

Nachdem ich aber 4 Jahre hinterm Tresen stand, wurde auch das langsam langweilig. Ich kannte meine Stammgäste in- und auswendig, trank zu viel, sah kein Tageslicht mehr und keine normalen Menschen. Wie krass das war, merkte ich eines Wintermorgens, als ich gegen 5:30 morgens nach Hause ging und mir graue, geduckte Wesen begegneten, die zur Arbeit gingen. Ich bedauerte sie, merkte aber erst später, dass ich selber ja von der Arbeit kam und eigentlich genauso bedauernswert war. Dass auch eine Arbeit, die man sich selbst ausgesucht und eingerichtet hatte, anstrengend und öde sein konnte, musste ich erst langsam erkennen.

Nachdem ich 1987 einen anderen Mann kennengelernt hatte, der nicht Stammgast bei uns war und dadurch auch wieder ein Leben neben der Kneipe hatte, kündigte ich Anfang 1988 meinen Ausstieg an, wollte allerdings erst aufhören, wenn meine Nachfolge geklärt wäre. Mein Kneipenpartner wollte das nicht wahrhaben und es passierte nichts. Zum Glück wurde ich im Frühjahr 1988 schwanger und hatte somit einen Grund aufzuhören. Einen besseren Zeitpunkt für eine Schwangerschaft konnte es nicht geben!

Epilog:
Ein neues Leben begann für mich, ich machte aber weiterhin Abrechnung, Buchführung und den Behördenkram, weil ich auch weiterhin die Konzessionsträgerin blieb. Es war also immer noch „meine“ Kneipe.
Bis zum Mauerfall lief die Kneipe mit wechselndem Personal, aber im Wesentlichen unverändert weiter, dann kam ein Jahr Pause, weil das Haus saniert wurde.

Nachdem wir Ende 1990 wieder eröffneten, hatte sich die Welt um uns herum komplett geändert. Deutschland war wiedervereint. Die Achtzigerjahre waren zwar vorbei, die Siebzigerjahre kamen aber leider auch nicht wieder. Kreuzberg wurde uninteressant, alles wandte sich den östlichen Bezirken wie Mitte und Prenzlauer Berg, später auch Friedrichshain, zu.
Die in unserer Nähe lebenden Ossis (hinter dem Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße) interessierten sich nicht für uns, es waren eben typische Hochhausbewohner und mit ein paar netten neuen Leuten aus dem Osten ließ sich nicht annähernd an die früheren Zeiten anknüpfen. Hinzukam, dass einige Stammgäste wegzogen – und was noch häufiger passierte – wegstarben. Jahrzehntelanger Alkohol- und Nikotin-Abusus forderte seinen Tribut. Der Kneipe gings schlecht.

Mein (Kneipen-)Partner führte Live-Musikabende ein, die dann auch tatsächlich für ein volles Haus sorgten, aber eben nur einmal die Woche. Zum Glück konnte das Trauerspiel dann 2000 durch Verkauf beendet werden, ohne allzu großen Verlust zu machen. Ich musste noch mal zum schönen Amtsgericht am Lietzensee, um gegen die heißgehasste GEMA zu prozessieren und unsere Schulden bei der Berufsgenossenschaft bezahlen, weil diese Verträge auf mich liefen. Dann war die Kneipe Geschichte.

C. G.

„A Day in the Life“ Die Serie hat jetzt eine eigene Seite!

2015-10-07-0004 (2)

Im Oktober 2015 hatte ich Zahnschmerzen. Zum Schreiben reichte die Konzentration nicht, also begann ich mit alten Kontaktbögen herumzuscannen. Heraus kam die Rekonstruktion eines Tages im Jahre 1978. Die kleinen Bildchen sind nicht sehr scharf und detailreich, aber gerade das Weiche hat einen Reiz. Die Bilder sind sozusagen “noninvasiv” und lassen noch Raum für die Imagination des Betrachters. Zudem hat Rainer damals schon “frameübergreifend” gearbeitet und so ergeben sich interessante Gegenüberstellungen.  Die Foto-Strecke mit kleiner Geschichte kam gut an und so wurde eine Serie daraus. Auf dieser Seite sind alle bisher erschienen Folgen verlinkt. Gute Unterhaltung!

So fing es an:

Zahnschmerzen führen nicht zu kreativen Einfällen, doch es scheint Ausnahmen zu geben. Gestern morgen merkte ich schnell, dass die Konzentration nicht zum Schreiben reichte. Also begann ich, meinem “Das Beste in Schwarz-Weiß-Wochen”-Motto folgend, mit den Kontaktbögen aus den späten 70er und frühen 80er Jahren zu spielen, die Rainer kürzlich mitbrachte. Als man noch mit Negativfilm arbeitete, legte man die Filmstreifen auf ein DIN A4 Fotopapier und belichtete sie dann. Somit hatte man ca. 30 Positivbilder im Format 24×36 Millimeter und konnte auswählen, was sich zu vergrößern lohnte. Ein Bogen gefiel mir besonders gut, Rainer hatte offensichtlich einen Sommertag mit der Kamera dokumentiert. Rainer streifte durch die Stadt, ging mit Freunden essen und abends schaut man sich Fassbinders “Despair” im Delphi an. Gute Unterhaltung bei der Rekonstrution eines West-Berliner Tages, 38 Jahre danach.

Teil 1 rekonstruiert einen Sommertag im Jahr 1978.

http://wp.me/p3UMZB-1f4

Teil 2 beschreibt zwei Frühlingstage im Orwell-Jahr 1984. Ein Rockstar besucht mich in meiner bescheidenen Außenklo-Wohnung in der Rheinstraße. Am zweiten Tag unternehme ich mit Herbert einen Selbstversuch im Dauerfernsehen.

http://wp.me/p3UMZB-1gY

Teil 3 entführt uns in ein Loft im Kreuzberg des Jahres 1977, wo Claudia Skoda ihre erste Modenschau veranstaltet. Rainer kommt zum fotografieren, während ich in Liebesdingen unterwegs bin.

http://wp.me/p3UMZB-1nm

Der 4. Teil führt in den legendären Schneewinter 1978-79. Im März ’79 wird es endlich wärmer. Rainer und ich gehen mit der Kamera den Lenz suchen.

Berlinische Räume : „Der Lenz ist nah“ / A Day in the Life 1979

Familienportrait – “Der verlorene Mann” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 4 / 1946-49

“Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen” soll der Grieche Platon schon vor 2400 Jahren geschrieben haben. Alle anderen tragen den Krieg mit sich, so lange sie leben und sie geben ihr Trauma an ihre Kinder weiter. Wäre es also besser, wenn die überlebenden Männer nicht aus dem Krieg zurückkommen würden? Wäre es nicht besser für ihre Frauen und Kinder? Ich bin froh, dass ich diese hypothetische Frage nicht beantworten muss. Denn die Überlebenden kommen zurück, meistens jedenfalls und so war es auch mit meinem Vater.

Genauso wie Penelope ihren geliebten Odysseus, so hat auch Käte Helmut nicht vergessen. Obwohl sie fast drei Jahre nichts von ihm gehört hat. Vielleicht ist er bei den Kämpfen um die Marienburg gefallen? Er könnte aber auch in russischer Gefangenschaft sein. Sie weiß, als deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, könnte er dennoch tot sein, ohne das sie es erfährt. Mindestens ein Drittel der deutschen Gefangenen überleben die Gefangenschaft nicht. Es ist fast hoffnungslos, aber ein Gefühl hindert sie, Helmut ganz abzuschreiben.

Bild

Käte arbeitet täglich 10 Stunden bei der Polizei

Die Befreiung von den Nazis und vom Krieg macht sie glücklich, daran ändert auch der Hunger nichts. Ihre Arbeit macht ihr Spaß, auch wenn ihr Dienst selten kürzer als zehn Stunden dauert. Es suchen so viele Menschen ihre verschollenen Lieben und sie freut sich, dass sie denen helfen kann. Das Leben geht weiter und im Herbst 1947 lernt sie einen Mann kennen, er umwirbt sie, eine Liebschaft beginnt. Anfang 1948 ist sie schwanger, genau weiß sie nur, sie will dieses Kind. Bei dem Mann ist sie sich nicht so sicher. Sie bleibt bei ihren Eltern in der Kaiserallee (heute Bundesallee) wohnen, inzwischen arbeitet sie im Polizeirevier 12 in Mitte. Der Dienst hindert sie allzuviel zu grübeln. Die Arbeit hatte ihr noch ihr Onkel Paul besorgt. Am 1. Mai 1946 hat er sich dann vor die Heidekrautbahn gelegt. Seine Witwe, meine Großtante Lotte wird nie erfahren, wieso. Ein paar Wochen vorher hatte er einen Unfall bei der Bergung einer Fliegerbombe. War es wegen der daraus entstandenen Kopfverletzung, seit der sein Bewußtsein getrübt war, oder weil er im Dritten Reich, als Polizist, schlimme Dinge tat, mit denen er nicht leben konnte? Vielleicht kam auch beides zusammen?

Bild

Kriegsgefangene in Sibirien

Der Sommer 1948 ist heiß. An einem Sonntagmittag klingelt es bei Käte und ihren Eltern, vor der Tür steht ein deutscher Soldat. Er ist nicht mehr jung, sehr dünn und bleich, trotz der Sonne draußen. Der zerschlissene Soldatenmantel schlottert ihm um die Hüften. Erst nachdem er angefangen zu sprechen, und auch dann erst nach einer Weile, erkennt ihn Käte. Helmut ist aus dem Krieg zurückgekehrt, sie umarmen sich, beide schluchzen, weinen. Es dauert bis sie ihre Fassung wiederfinden.

Die Wochen die folgen werden schwierig. Schwierig für Käte, die hochschwanger eine Entscheidung treffen muss. Schwierig für Helmut, der es übelnimmt, dass sie das Kind eines Anderen unterm Herzen trägt. Bei allen Entbehrungen der Gefangenschaft in Sibirien, der Kälte, dem Hunger, dem Verlust jeglicher Menschenwürde, hat er nie die Hoffnung verloren, dass Käte auf ihn warten wird.

Obwohl sie nicht weit auseinander wohnen, sie in der Kaiserallee, nahe der Berliner Straße, er in der Brandenburgischen Straße, schreiben sie sich wieder Briefe. Nun freiwillig, nachdem es so lange vom Krieg erzwungen war, hilft es ihnen, ihre Situation zu klären.

Seit 24. Juni wird West-Berlin von den Sowjets blockiert. Seitdem wird die Stadt von US-amerikanischen Flugzeugen versorgt, die Luftbrücke nennt man die beispiellose Unternehmung. Auch die anderen westlichen Allierten beteiligen sich. Britische Maschinen landen in Gatow, die Franzosen richten extra für die Luftversorgung den Flughafen Tegel ein. Die Westberliner leben hauptsächlich von Trockenkartoffeln und Brot. Ein “kartenfreies” Stück Kuchen kostet acht Mark, ein Tageslohn. Der “Otto-Normalverbraucher” wird sprichwörtlich, ein spindeldürrer Gert Fröbe spielt ihn in dem Film “Berliner Ballade”.

Bild

Helmut mit meinem Halbbruder Thomas in der Bundesallee

Käte und Helmut einigen sich, Käte gibt dem “Anderen” den Laufpass, sie wird ihn nicht wiedersehen. Das Ungeborene werden sie aufziehen, als ob Helmut sein Vater wäre. Am 2. September 1948 wird mein Bruder Thomas geboren. Käte hat Glück, es gibt gerade Strom im Kreissaal, das ist nicht die Regel. Am 16. März 1949 feiert die kleine Familie Verlobung, Abendgarderobe wird erbeten.

Bild

Die Einladung schreiben sie auf Ausweisformulare, Papier oder Pappe gibt es nicht im blockierten Berlin.

Helmut hat ein Programm vorbereitet, er rezitiert Hauptmann, Goethe, Tucholsky und Shakespeare. Es wird getanzt. Das kalte Buffet wird schlicht ausgefallen sein. Die Blockade endet erst am 12. Mai 1949.

Bild

Entfernung einer Blockade Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße (Co: Walter Heilig/Creative Commons)

Am 8. September hat Helmut in der Tribüne Premiere, endlich kann er wieder auf der Bühne stehen.

IMG_20130730_0003 (2)

Er spielt mit Heli Finkenzeller in “Die kleine Hütte” von André Roussin. Es ist ein kalter 8. September, die Premierengäste werden gebeten Kohlen mitzubringen, damit man das Theater heizen kann. Es wird ein großer Erfolg. 1957 wird das Stück mit David Niven und Ava Gardner verfilmt. Am Tag nach der Premiere heiraten meine Eltern.

Helmut wird mit der Inszenierung von den Amerikanern auf ein Festival eingeladen. Helmut schreibt auf Briefpapier von American Airways: ” Nach jedem Bild Applaus. Zum Schluss doller Beifall. Gustaf (Gründgens) lehnte sich zurück und klatschte bis alles raus war. Nach der Vorstellung kam Gründgens zu uns und lobte meine Darstellung und Regie.” Leider kann mein Vater später nicht an diesen Erfolg anknüpfen.

Bild Maijachen nannte er Käte in Briefen

In den Jahren danach bauen meine Eltern ein Geschäft auf. Mein Vater wirbt Mitglieder, meine Mutter verkauft ihnen Bücher und Platten. Es ist ein Buchklub, doch meilenweit entfernt vom “Bertelsmann Käsering”, wie sie die Konkurrenz taufen. Die Deutschen sind hungrig auf Schriftsteller, die in der Nazidiktatur nicht den Weg nach Deutschland fanden. Sartre, Camus, Hemingway und die vielen Deutschen, die nur im Exil oder heimlich schreiben konnten. In der Musik gilt ähnliches, Swing, Hot und Cool Jazz, aber auch moderne Klassik findet viel Interesse.

Bild

Jazz und moderne Klassik findet viel Interesse

Bild

Viele gute Jahre, ein Ball in den 50ern

Ein befreundeter Leser schrieb kürzlich, ich würde meinen Eltern ein Denkmal setzen. Dieses Kompliment muss ich leider zurückweisen. Denkmäler werden aus edlen Stoffen, wie Bronze oder Marmor modelliert. Sie sind stilisiert und fast immer idealisiert. Mein Werkstoff ist jedoch das Leben und dieses ist eben fast nie ideal. Und so wird diese Geschichte nicht wie ein Märchen mit den Worten: “Sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.”, enden. Viele gute Jahre haben meine Eltern. 1954 werde ich, als Wunschkind, nur mit dem falschen Geschlecht geboren, ich sollte ein Mädchen werden. 1960 promoviert Helmut in Philosophie, im gleichen Jahr eröffnet meine Mutter einen großen, schicken Laden in der Rankestraße. Doch Mitte der 60er Jahre holen das Paar die Schatten der Vergangenheit ein. Neun Jahre Krieg und Gefangenschaft haben meinen Vater nicht nur körperlich gezeichnet, auch seelisch hat er tiefe Narben zurückbehalten. Die Details sollen privat bleiben, jedenfalls hat meine Mutter viele Gründe 1967 die Reißleine zu ziehen und die Scheidung einzureichen.

Mein Vater findet erneut eine Ehefrau, als er krank wird pflegt sie ihn, bis er kurz nach seinem 63. Geburtstag an den Spätfolgen von Krieg und Gefangenschaft stirbt. Meine Mutter findet noch eine Liebe, die in den 70er unglücklich endet. Trotzdem blickt sie auf ein erfülltes, zufriedenes Leben zurück, als sie 2005 in ihrem 83. Lebensjahr stirbt.

Bild

Marcus Kluge

Obwohl wir hier schon etwas weiter in die Zukunft geblickt haben, weil es mir wichtig war die Scheidung als Kriegsfolge nicht zu verschweigen, wird die Reihe fortgesetzt. Die nächste Geschichte handelt von meiner Geburt und meinem Kindermädchen, die zu “My Fair Lady” wurde.

Die ganze Serie findet Ihr hier:

„Familienportrait” – Die Serie

Berlinische Leben – “Ein Hügel voller Narren” / Roman von Marcus Kluge mit Illustrationen von Rainer Jacob / West-Berlin Herbst 1981

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_n– Der Text ist aktualisiert und ihr findet die Links zu 15 Kapiteln. Zwei stehen noch aus, dann ist auch dieser Roman fertig.-

Schon bevor ich “Xanadu ’73” abgeschlossen hatte, begann ich über eine Fortsetzung nachzudenken. Mitte Juli 2014 begann ich “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Wie in Xanadu steht erneut eine “Schelmen-Figur” im Zentrum und erneut ist es ein ehemaliger Schulfreund, jemand der wie Beaky nie richtig erwachsen geworden ist. Anders ist, dass Roberto unbedingt sozial aufsteigen will. Er will die kleine Welt seiner Herkunft, den winzigen Fotoladen seines Vaters in der Pfalzburger Straße, hinter sich lassen und ein Mitglied des internationalen Jetsets werden. Ein paar Stufen hat er genommen, er hat sich mit dem Schauspieler und Playboy Alex Legrand und dessen Freundin Baby Sommer angefreundet. Er hat im Hippie-Paradies Goa eine Pension aufgebaut und dort auch prominente Gäste gehabt. Aber eben bevor ihn der Leser kennenlernt, hat er einen Rückschlag erlitten. Er hat hoch gepokert, in dem er 250 Kilo Haschisch nach Kanada geschmuggelt hat und er ist erwischt worden. Zwei Jahre war er in Kanada im Knast.

Am 22. September 1981 treffe ich den Rückkehrer im Café Mitropa, es ist der Tag an dem Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Auf der Straße geraten wir in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und müssen vor der wildgewordenen Polizei flüchten. Roberto erkennt seine Heimatstadt kaum wieder.
Doch das ist nicht sein einziges Problem, Gangster sind hinter ihm her, sie wollen Geld zurück, das er mit seinem missglückten Schmuggel verloren hat. Als ich Roberto bei mir wohnen lasse, gerate auch ich in den Strudel einer atemberaubenden Geschichte mit überraschenden Wendungen, die bis zum Widerstand gegen das Nazi-Regime während des 2. Weltkriegs zurückführt. Daneben erkunden wir das legendäre Nachtleben, besuchen Klubs wie das SO 36 und die Music-Hall. Wir erleben Bands, zum Beispiel die “Einstürzenden Neubauten” und die “Goldenen Vampire” und treffen originelle Zeitgenossen.

“Ein Hügel voller Narren” ist eine spannende Kriminalerzählung vor dem Panorama von Hausbesetzerbewegung und Punkszene im West-Berlin des Jahres 1981. Weitere Themen sind Liebe, Freundschaft und der Beruf des Schriftstellers. Besonders interessiert mich die Generation, der in den 50ern Jahren Geborenen. Die Eltern sind oft noch vom Krieg traumatisiert, aber es wird nie darüber gesprochen. Wir, ihre Kinder, begreifen nur langsam, dass eine Aufarbeitung der kollektiven Schuld nie stattgefunden. Das Dritte Reich wurde nur verdrängt und alte Nazis konnten weiter Karriere machen. Der Roman ist der zweite Band meiner West-Berlin-Trilogie. Jedes Kapitel wird mit einer Bleistiftzeichnung von Rainer Jacob illustriert.

Bisher erschienen sind diese Kapitel:

Kapitel 1: http://wp.me/p3UMZB-PT

Kapitel 2: http://wp.me/p3UMZB-QA

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-R1

Kapitel 4: http://wp.me/p3UMZB-RT

Kapitel 5: http://wp.me/p3UMZB-Sl

Kapitel 6: http://wp.me/p3UMZB-T5

Kapitel 7: http://wp.me/p3UMZB-Ux

Kapitel 8: http://wp.me/p3UMZB-VH

Kapitel 9: http://wp.me/p3UMZB-Xg

Kapitel 10: http://wp.me/p3UMZB-YI

Kapitel 11: http://wp.me/p3UMZB-11h

Kapitel 12: http://wp.me/p3UMZB-13k

Kapitel 13: http://wp.me/p3UMZB-18U

Kapitel 14: http://wp.me/p3UMZB-1d8

Kapitel 15: http://wp.me/p3UMZB-1mv

Familienportrait – “Die Welt geht unter” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 3 / 1945

Am 10. November 1942 verlässt Zarah Leander Deutschland. Sie wird nicht wieder ins deutsche Reich zurückkehren. Kurz vorher hat Goebbels noch versucht sie mit Schmeichelei und Geschenken umzustimmen. Doch Zarah hat begriffen, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen kann. “Davon geht die Welt nicht unter” singt sie vor Wehrmachtsoldaten und SS-Männern im UFA-Film “Die große Liebe”. Dieser Film ist mit 27 Mio. Zuschauern der erfolgreichste überhaupt im Dritten Reich und hat am 12. Juni 1942 im UFA-Palast am Zoo Premiere. “Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen” ist ein weiterer Schlager aus “Die große Liebe”, der auch Teil der Durchhaltepropaganda wird. Aber es geschieht kein Wunder und für die Deutschen geht im Frühjahr 1945 tatsächlich die Welt unter.

Käte bekommt Anfang 1945 den letzten von über 100 Feldpostbriefen von Helmut. Er ist zuletzt in Marienburg, dem heutigen Malbork stationiert. Die im 13. Jahrhundert erbaute Zentralburg des Deutschritterordens hat für die Nazis besondere Bedeutung. Helmut berichtet von einer Feierstunde in einem der Remter, so heißen die Speisesäle der Ordensburg. Dabei trägt er den “Cornet” von Rilke vor. Die klassische Soldatenballade “schwankt zwischen Glorifizierung des Heldentodes und der Sinnlosigkeit (jungen) Sterbens, Gefühlen von überzogener Ehre, Verlust und Traurigkeit.” Was er dabei fühlt, kann er wegen der Zensur nicht an Käte schreiben.

Bild Helmut deutet an, er würde Käte bald näher kommen, hofft wohl auf einen Rückzug. Dazu kommt es nicht. Ende Januar besetzen sowjetische Truppen die Stadt Marienburg. Die “Festung” wird sechs Wochen gegen die Rote Armee gehalten und am 8. März 1945 geräumt. Viele hundert Soldaten kommen ums Leben, deren “Hundemarken” keiner sammelt.

IMG_20131012_0005

Auch in Berlin beginnt der von der Propaganda beschworene “Endkampf”. Alte und Halbwüchsige werden zum “Volkssturm” eingezogen. Verweigerer werden sofort hingerichtet. Oma Elisabeth und meine Mutter überlegen den Straßenkampf in der U-Bahn abzuwarten. Glücklicherweise kommt Onkel Paul, der wieder bei der Polizei arbeitet, kurz in der Perleberger Straße vorbei. Er warnt die beiden vor der U-Bahn und besorgt ihnen Plätze im Bunker an der Schumannstraße neben dem Deutschen Theater. 40 Jahre später wird meine Tochter dort tanzen gehen.

Dass sie die U-Bahn meiden, ist ein großes Glück. Am 2. Mai sprengt die SS den Tunnel unter dem Landwehrkanal. Das gesamte unterirdische Verkehrsnetz wird dadurch geflutet. Ob nur wenige oder etwa 100 Zivilisten ertrinken weiß man nicht genau, auch das Motiv für die Tat bleibt im Dunkeln.

Zwei Wochen bleiben sie im Bunker. Unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen passieren hier kleine und große Tragödien. Der Schauspieler Aribert Wäscher, der in Hunderten Filmen mitgewirkt hat, unter anderem in Riefenstahls Mammutproduktion von Tiefland (1940-44), klagt und zetert laut vor sich hin. Eine daneben sitzende Mutter hat es schwer ihre Kinder bei Laune zu halten. Nach einem Tag und einer Nacht geht sie zu Wäscher, ohrfeigt ihn, danach verstummt der große Mime.

Bild Oma, Anfang der 40er Jahre

Nach etwa zehn Tagen hören Oma und Käte, es würde zwei Ecken weiter Milch aus sowjetischen Beständen ausgegeben. Sie besorgen sich Kannen und verlassen den Bunker. Der Theatervorplatz ist Niemandsland zwischen den Stellungen des Volkssturms und der Russen. Oma holt ein Taschentuch hervor, schwenkt es und betritt den Platz. Tatsächlich läßt das Feuer nach und die Frauen überqueren den Platz. Es sind die längsten 200 Meter ihres Lebens.

Für den Rückweg zeigt ihnen ein Soldat einen Umweg, sie kommen heil zurück in den Bunker. Nach weiteren drei Tagen sind die Kampfhandlungen zuende. Sie können den Bunker verlassen. Was sie draußen erwartet hat apokalyptisches Ausmaß. Überall lodern noch Brände, der Rauch beißt in den Augen. Es riecht nach verbranntem Fleisch, nicht nur Leichen liegen auf den Straßen, auch viele Pferdekadaver sind der Verwesung preisgegeben. An Laternenmasten hängen Tote, die Schilder um den Hals haben. Darauf stehen Sätze wie, ” Ich war zu feige mein Vaterland zu verteidigen”, oder ähnliches. Auf dem Weg in die Perleberger Straße sehen sie mehr Ruinen als bewohnbare Häuser.

Bild Käte mit Freundin Inge im Tiergarten

Zuhaus verbrennen sie Fotos und Dokumente, auf denen Hakenkreuze zu sehen sind. Russische Soldaten erschießen Männer und Frauen, bei denen so etwas gefunden wird. Für Vergewaltigungen reicht es, dass Frauen anwesend sind. In der Nacht weckt sie Krach im Vorderhaus. Es scheinen plündernde Soldaten zu sein. Oma malt Käte rote Punkte ins Gesicht und steckt sie ins Bett, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätte, ein Kopftuch verbirgt die verlockend blonden Haare. Sie haben Glück, noch bevor der Mob ins Hinterhaus eindringt, unterbindet Militärpolizei das Geschehen.

Am nächsten Morgen beschließt Oma Moabit zu verlassen. Tiergarten soll russisch werden, wogegen Wilmersdorf und Steglitz von Amerikanern kontrolliert werden soll. Sie packen ihr wichtigstes Hab und Gut auf einen Handwagen und durchqueren den Tiergarten. Am Zoo passieren sie das ausgebombte Aschingers, sie ziehen die Kaiserallee hoch, die heutige Bundesallee. Oma kennt die Straße gut. Vor dem Ersten Weltkrieg ist sie hier sonntags zum Zoo gelaufen. Nun, 30 Jahre später, hat sie zwei Weltkriege hinter sich.

Die kühle Mainacht verbringen sie im Volkspark. Am nächsten Morgen hören sie von einer leeren Wohnung in der Kaiserallee 181, gleich hinter der Berliner Straße. Sie besetzen die Wohnung, später werden sie behaupten, der Mietvertrag wäre verbrannt. Meine Oma wohnte in dem Haus bis sie, Anfang der 60er Jahre, eine Neubauwohnung in der Prinzregentenstraße bezieht.

Von Helmut hört Käte jahrelang nichts, sein Schicksal bleibt zunächst ein Rätsel für sie.

Bild Das letzte Foto: Helmut, 3. v.re.

– wird fortgesetzt –

Marcus Kluge
Alle bisher veröffentlichten Folgen sind hier verlinkt:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait – “Sire, geben sie Gedankenfreiheit” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 2 / 1943-44

Kriege enden nicht wirklich, wenn eine Partei gewinnt und die andere kapituliert. Kriege wirken fort, sie sind nachhaltig. Noch heute leiden, laut der Uni Leipzig, ca. 3.4% der 60- bis 90-jährigen Deutschen an einer posttraumatischen Belastungstörung infolge des 2. Weltkriegs. Ein Drittel der GIs, die aus dem Irak zurückkommen, haben psychische Probleme. Alkoholismus beobachtet man häufig, die Morphiumsucht wurde früher “Soldatenkrankheit” genannt, so häufig war die Abhängigkeit unter Veteranen. Kurz gesagt: Mit Ende des Krieges fangen viele Probleme erst an.

Die Teilnehmer eines Krieges, egal ob Kombattanten oder Nichtkombattanten, dürfen daran nicht denken. Für sie ist es nötig sich vorzustellen, dass im Frieden alles wieder gut wird und die Träume, die ihnen den täglichen Wahnsinn überstehen helfen, wahr werden. Käte stellt sich vor mit Helmut eine Familie zu gründen und ein eigenes Geschäft zu führen, am liebsten was mit Büchern. Helmut möchte Karriere machen, als Schauspieler und Regisseur und er stellt sich Käte als die Frau an seiner Seite vor.

IMG_20131012_0016

Käte träumt

In Berlin wird das Leben durch die fast allnächtlichen Bombenangriffe bestimmt. Die Nächte bringt Käte häufig ohne Schlaf im Luftschutzkeller zu. Tags drauf sieht sie dann, wo Bomben hässliche Löcher im Straßenbild verursacht haben und das drückt die Stimmung zusätzlich. Die Briefe die ihr drei oder viermal in der Woche, der Briefträger bringt, zeigen Käte aber doch es geht noch schlimmer.

Gerade nachdem Helmut seine Verwundung am rechten Oberarm halbwegs auskuriert hat, wird er wieder in die verlausten Schützengräben geschickt. Das hat Folgen, er erkrankt an Wolhynischem Fieber. Es wird auch Trench Fever genannt, weil es in den Schützengräben des 1. Weltkriegs erstmals beobachtet wurde. Beispielsweise die Schriftsteller Tolkien, A.A. Milne und C.S. Lewis waren allesamt damals daran erkrankt. Auch im 2. Weltkrieg hat man noch keine wirksame Therapie dagegen. Schlecht verheilte Läusebisse verursachen das Leiden, doch an den hygienischen Verhältnissen an der Front ändert sich nichts, wie auch.

IMG_20131012_0006

Helmut schreibt

Helmut hat tageweise hohes Fieber, über 41°, dazu starke Kopf- und Gliederschmerzen, der Appetit verlässt ihn, er magert ab. Trotzdem schreibt er fast täglich an Käte, wenn das Fieber hoch ist, bringt er nur riesige, krakelige Buchstaben zustande, der Inhalt ist kaum zu entziffern. Dann ist er wieder klar, verfasst wunderbare Gedichte, die sie auf der Maschine sauber abtippt. Er baut für sein Kätchen und sich ein literarisches Luftschloss, in das sie vor dem Krieg flüchten können. Käte ist beeindruckt, hat Mitleid, ist wohl auch verliebt, doch es ist schwierig. Sie weiß nicht wirklich wer dieser Mann ist.

Ein paar Mal schafft es Helmut für ein paar Stunden oder Tage nach Berlin oder Muskau zu kommen, wohin Kätes Arbeitsstelle wegen der Luftangriffe verlegt wird. Seltsamerweise fühlen sich diese Treffen unwirklich an, sie sind einander fremd. Wenn es romantisch wird oder Helmut ihr zu nahe rückt, wird Käte kratzbürstig. In den Briefen sind sie sich viel näher.

IMG_20131012_0017

Sachlich, manchmal kratzbürstig

Monatelang hat Helmut um ein Studiensemester gekämpft, er kann es kaum glauben, 1944 darf er nach Berlin und ein paar Monate studieren. Käte gibt die Anstellung bei der Wirtschaftsgruppe Glasindustrie auf, um auch wieder in Berlin zu leben. Die Angriffe sind ihr egal. Sie und Helmut sind sich einig, in solchen Zeiten ist Fatalismus erlaubt, weder Mann noch Frau können das Schicksal beeinflussen und was passieren soll, wird passieren.

Am 20. Juli 1944 hören sie im Radio, es hätte ein Attentat auf Hitler gegeben, es ist nicht klar, ob er tot oder nur schwer verletzt ist. Am Abend sind sie im Schauspielhaus, Don Carlos steht auf dem Spielplan. Als Marquis Posa vom Despoten, “Sire, geben sie Gedankenfreiheit!” verlangt, gibt es Szenenapplaus. Es ist bekannt, dass dafür schon mindestens ein Deutscher, der an dieser Stelle geklatscht hat, erschossen wurde. Aber in diesem Moment ist die Furcht weg. In der Pause machen fast alle Zuschauer Pläne, man hofft der Krieg würde bald zuende sein, nun da “der Verrückte” tot ist. Mit England und den USA könne man sich einigen, dann würde man gemeinsam die Sowjetunion niederringen… Auch Käte und Helmut machen Pläne. Plötzlich ist die Erfüllung der Träume ganz nah.

Als sie in der Perleberger Straße die Treppe hochkommen, steht Oma Elisabeth schon in der Tür und macht eine wegwerfende Geste. Hitler lebt, der Umsturzversuch ist gescheitert, Helmut muss schon bald wieder zurück an die Front.

IMG_20131016_0003

Es bleiben Briefe

– wird fortgesetzt –

von Marcus Kluge

Familienportrait – “In einer kleinen Konditorei” / Die Liebe in Zeiten des Krieges Teil 1 / 1942

 Trauma

Als endlich die Ablösung kommt, hatte Helmut die Hoffnung fast aufgegeben, jemals wieder aus dem Schützengraben herauszukommen. Ihm wird ein Schlafplatz in einem Zelt zugewiesen, ein letzter Handgriff, wie immer an der Front, schiebt er die drei Goethe-Bände unter den Kopf, als Kopfkissen. Trotz des Gefechtslärms schläft er sofort ein, das lernt man an der Front.

Als die Granate einschlägt träumt er von einem blonden Mädchen mit leuchtenden, blauen Augen. Er erkennt sie nicht. Wach wird er nicht wirklich, er nimmt nur einen heißen, grellen Schmerz an der rechten Schulter wahr. Ein großes Tier muss ihn gebissen haben…

IMG_20140921_0002

Auf dem Verbandsplatz bekommt er Morphium, der Sanitäter wundert sich über soviel Dusel bei dem verwundeten Obergefreiten. Wenn der Goethe unter seinem Kopf nicht gewesen wäre, hätte es seinen Hinterkopf zerfetzt, so war es nur der rechte Oberarm. Die Kugel aus dem Schrapnell hat eine klaffende Wunde bis auf den Knochen verursacht. Man versorgt sie soweit es möglich ist, der Weg zum Lazarett ist noch weit.

Traum

Die Wunde entzündet sich, Penicillin haben die Deutschen noch nicht. So kämpft Helmuts Körper drei Tage. Bei 40°Fieber zieht sein Leben an meinem Vater vorbei. Die kurze Ehe mit einer kapriziösen Schauspielerin, Saltos machen für René Deltgen in den UFA-Studios, Boxen, 16 Kämpfe, nur zwei verloren, im Schach remis gegen den deutschen Meister.

IMG_20130627_0005

Mit Vera von Langen in den UFA-Studios Babelsberg 1938

Das kommt ihm alles so überflüssig vor, eitel, vertane Zeit. Wenn er hier raus kommt und der Krieg vorbei ist, muss er ein ganz neues Leben beginnen. Alles auf Null und dann durchstarten, promovieren, inszenieren und spielen auch, die großen tragischen Rollen: Mephisto in Faust, Hamlet und den Tempelherren im Don Carlos.

Sein 23 Jahre alter Körper gewinnt den Kampf um sein Leben. Doch er erholt sich nur langsam, was ihm einen unerwarteten Vorteil bringt: Er kann auf Heimaturlaub gehen!

In einer kleinen Konditorei

Über zwei Jahre dauert dieser Krieg schon. Käte sitzt in einer kleinen Konditorei in der Nähe der Friedrichstraße. Der Gastraum ist fast leer. Draußen wird es schon dunkel. Der Soldat in der feldgrauen Uniform sieht nett aus. Er könnte slawischer Herkunft sein, ein russischer Graf vielleicht. Sie ärgert sich über ihre ausschweifende Phantasie. Sie hält sich zur Sachlichkeit an. Immerhin hat sie es in drei Jahren bis zur Buchhalterin geschafft, und sie ist stolz darauf.

IMG_20131012_0003

Ein Stapel Bücher neben sich

Später werden beide nicht mehr wissen, wer als Erster gesprochen hat. Vor Helmut steht ein Stapel Bücher auf dem Tisch, daneben Papier, er schreibt etwas. Ein Gedicht, wie sich herausstellt. Käte ist entzückt, ein Mann, der Gedichte schreibt, so jemanden trifft ein junges Mädchen mitten im Krieg nicht oft.

Sie reden über Gedichte, über Romane, Dramen, Schauspieler, kommen auf immer neue Themen, ohne das sie merken, wie die Zeit vergeht. Helmut erklärt, er möchte nicht das einfache, kleine Glück mit Familie und Büroarbeit, er will aufs ganze gehen und großen Erfolg haben oder eben grandios scheitern. Er warnt das junge Mädchen vor sich, mit ihm würde sie es schwer haben. Sie scherzt und tut als ob sie ihn nicht ernst nimmt. In Wirklichkeit hat seine Warnung etwas sehr Ansprechendes für sie. Bei aller Sachlichkeit, schlummert auch Romantik in ihr. Und alles was mit Dramen, mit Schauspielern und Theater zu tun hat, zieht sie magisch an. Sie steht oft die halbe Nacht an, um Karten für die begehrten, billigen Stehplätze im Schauspielhaus, wo Gustaf Gründgens spielt, zu bekommen.

IMG_20131012_0014

Nach Stunden stellen sie fest, es ist bereits viertel vor sieben, sie haben sich total verplaudert. Er hat eine Karte fürs Schauspielhaus, Gründgens, Kätes Lieblingsschauspieler, gibt den Mephisto. Er muss los, Faust läßt man nicht warten. Auf der Weidendammer Brücke trennen sie sich. Bevor sie sich von einander losreißen, drückt sie ihm zu seiner Überraschung einen Kuss auf die Wange.

Sie läuft zur elterlichen Wohnung in die Perleberger Straße, sie ist bester Stimmung. Am Abendbrottisch verkündet sie Elisabeth und Werner: ” Heute habe ich den Mann getroffen, den ich heiraten werde.”

– wird fortgesetzt –

Marcus Kluge

Berlin Typography

Text and the City // Buchstaben und die Stadt

Der ganz normale Wahnsinn

Das Leben und was uns sonst noch so passiert

500 Wörter die Woche

500 Wörter, (fast) jede Woche. (Nur solange der Vorrat reicht)

Licht ist mehr als Farbe.

(Kurt Kluge - "Der Herr Kortüm")

Gabryon's Blog

Die Zeit vollendet dich...

bildbetrachten

Bilder sehen und verstehen.

Idiot Joy Showland

This is why I hate intellectuals

The Insatiable Traveler

Travel inspiration, stories, photos and advice

Marlies de Wit Fotografie

Zoektocht naar het beeld

Ein Blog von Vielen

aus dem Er_Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur auf dem Autismus-Spektrum

literaturfrey

In der Kunst spielt ja die Zeit, umgekehrt wie in der Industrie, gar keine Rolle, es gibt da keine verlorene Zeit, wenn nur am Ende das Möglichste an Intensität und Vervollkommnung erreicht wird. H. Hesse

Blackbirds.TV - Berlin fletscht seine Szene

Zur Musikszene im weltweiten Berliner Speckgürtel

Reiner "rcpffm" Peffm 's mobile blog and diary

Smile! You’re at the best **mobile** made *RWD* WordPress.com site ever

Leselebenszeichen

Buchbesprechungen von Ulrike Sokul©

Dokumentation eines Lebenswegs

Ein Blog im stetigen Wandel. Über den Wert von Familie. Krankheit, Aufarbeitung von Gewalt, Briefe an meinen Vater und meinen Sohn. Wohin wird mich alles führen?

.documenting.the.obvious

there is no "not enough light" there is only "not enough time"