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Kurzer Nachruf Burkhardt Seiler

28. April 2023: Erst in der letzten Woche erfuhr ich, dass mein alter Freund Burkhardt Seiler gestorben ist. Er starb am 1. Februar in Berlin, weitere Informationen habe ich bislang nicht erfahren können. In den Medien ist leider noch nicht an ihn erinnert worden. Vor ein paar Tagen hat die Taz an mich gemailt, weil sie meine Fotos vom Zensorladen für einen Nachruf verwenden wollen. Der umfangreiche Nachruf wird nächste Woche erscheinen, Dietrich Diedrichsen hat ihn verfasst. Schade, dass sie niemanden beauftragt haben, der tatsächlich mit Burkhardt befreundet war und mit ihm zusammengearbeitet hat. Ein paar Stimmen von Weggefährten wären auch passend gewesen. Deshalb habe ich Cordula Lippke gebeten ein einige Worte als kurzen Nachruf zu schreiben. Cordula war ja seit 1979 Burkhardts Buchhalterin und einzige langjährige Mitarbeiterin. Ich habe Cordula, damals unter ihrem Spitznamen Coca Cola bekannt, 1981 im Zensorladen kennengelernt, als ich zwei Monate dort gearbeitet habe. Anschließend hat Cola mit mir zusammen Assasin gemacht, das Fanzine und Subkulturmagazin, für das Burkhardt auch Taufpate war. Cordula Lippke erinnert sich knapp und punkig an den Zensor und sagt Danke.

Der Zensor ist tot. Was jetzt erst? Könnte man sagen, 
denn den Schallplattenladen und das Label gibt es schon 
lange nicht mehr. Aber Burkhardt Seiler, der mit ein paar
importierten Singles auf dem Flohmarkt angefangen 
hatte, machte weiter. Chaotisch wie immer. Leider war 
der Alkohol sein bester Freund.
Zuletzt habe ich ihn vor 10 oder 12 Jahren in 
Schöneberg getroffen, wo er sich an seiner Cola 
festhielt. Eine zweite konnte er sich nicht leisten, glaube 
ich. Aber sonst war er wie früher: sprunghaft lachend 
wach. 
Schon immer habe ich mich gefragt, warum er seine 
Erfolge nicht halten, nicht ausbauen und geniessen 
konnte. Mit seinem musikalischen Gespür war er oft 
seiner Zeit voraus. Andere haben von den Trends 
profitiert, die er angeschoben hat. 
Ich habe im Jahr 1979 angefangen beim Zensor die 
Buchführung zu machen, eher Zettelwirtschaft, klar. Im 
Hintergrund bleiben ist mein Ding. Wenn ich mal vorne 
stehen sollte, fürchtete ich die Kunden. Heute würde 
man sie Nerds nennen, damals Plattensammler, die 
gerne die Besonderheiten der seltenen Scheiben 
diskutierten.  Da waren sie bei Burkhardt an den 
Richtigen geraten! Das war sein Lebenselexier. Aber 
davon kann man nicht leben.
2008 habe ich ihn wiedergetroffen mit 
seiner Freundin Elisabeth, die im philharmonischen 
Orchester die Geige spielte. Sie wollte ihre Doktorarbeit 
über ihn schreiben. Ernsthaft. Sie war ein Fan. Als er 
eine Konzertkarte übrig hatte, bin ich mit ihm in die 
Philharmonie um sie spielen zu sehen. Konzerte waren 
ja früher was ganz Anderes für mich, für uns. Durch die 
Arbeit beim Zensor hatte ich freien Eintritt bei fast allen 
Punkkonzerten (SO36, Loft, Metropol, Kantkino, 
Quartier Latin) bis 1982 oder so. Rückblickend kann ich 
den Schatz erst wirklich erkennen. Danke, Burkhardt.

(Fotos oben: Burkhardt im Zensorladen 1983, 
Burkhardt mit M. Kluge, Luzie von Penny Lane's 
Frisörsalon und Cordula Lippke.
Copyright: M. Kluge/Assasin.
Foto Unten: Cordula zu Zensorladenzeiten, N. N.)

Neue Seite: „Gammler, Jeans und lange Haare” Fotos und Geschichten 1965-77

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„Gammler, Jeans und lange Haare” / Farbfotos West-Berlin Sommer 1970

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“Geht doch in den Osten!” / Andi, Richard, Gabi und die anderen / Ein virtuelles Fotoalbum / 1965 – 77

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“Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999

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Leseprobe: Drei Uhr am Nachmittag, trotz der Sonnenstrahlen ist es eiskalt im Tiergarten. Wir drücken uns um eine Bank herum und rauchen. Das Kino fängt erst um halb vier an. “Easy Rider” läuft im Kino Bellevue am Hansaplatz. Zuerst ist es im Kino auch noch kalt, doch dann wird uns fast so warm, wie den beiden Bikern im Film, auf der Leinwand vor uns. Trotz des traurigen Endes, die von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson gespielten Figuren sterben, haben wir gute Laune. Der Film hat uns Kraft gegeben. Andi, Richard und ich spinnen herum, wie wir durch Amerika biken, Geld verdienen und uns als Rockband feiern lassen. Das meiste davon ist utopisch, doch die Geschichte mit der Band verfolgen wir weiter. Es ist der 11. März 1970.

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“Mao, Kollektiv und Schulverweis” / 1968-70

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Leseprobe: 1968 lernte ich Burkhardt Seiler, der später als der Zensor bekannt werden sollte, in der Schule kennen. Burkhardt sprach mich auf meinen Mao-Badge an: “Ob ich denn überhaupt schon mal was von organisiertem Klassenkampf gehört hätte?” Hatte ich natürlich nicht. Ich trug das Ding nur, um zu provozieren.

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“Pseudo-Schule, ein Pferd ohne Namen und innere Emigration” / Nach der Revolte 1970-77

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Leseprobe: Connie nimmt mich in einen kleinen Club in Halensee mit, in dem ich Natascha kennenlerne. Natascha ist Stripteasetänzerin, sie arbeitet in der Dorett-Bar, einem Animierschuppen in der Fasanenstraße. Mit Natascha habe ich eine kurze Affäre. Sie sieht wie Marylin Monroe aus und hat immer gute Laune.

Schnelle Schuhe – „Schwankende Gestalten“ / Erinnerungen eines Spandauer Punks von Olaf Kühl Teil 1

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Drive

Die erste Punk-Band, die ich mit meinen damals gut 14 Jahren näher kennen lernte, waren die Ramones, eine New Yorker Band, deren Musik Kultstatus hatte. Ihre bereits 1976 aufgenommene Scheibe Ramones habe ich mir damals wie ein Mantra immer und immer wieder in meinen jugendlichen Schädel reingehämmert. Und warum? An den Texten und an den musikalischen Arrangements wird es wohl nicht gelegen haben, denn die waren ziemlich einfach. Entscheidend war, dass die Musik der Ramones drive hatte. Sie war schnell. Sie war voller Energie. Und genau das war das Faszinierende. Denn mein Leben hatte gewissermaßen keinen drive. Hatte keinen Schwung. Keine Energie.

Ich wohnte damals im Falkenhagener Feld in Berlin/Spandau, damals wie heute eine öde Schlafstadt, in der sich bevorzugt wurzellose, etwas gestörte Menschen niederlassen. Über uns wohnte beispielsweise eine Kleinfamilie, deren Sohn vom rechtsradikalen Vater regelmäßig so brutal geschlagen wurde, dass wir am Abendbrottisch betreten dessen Schreien und Winseln hören konnten; unter uns trieb eine inzestuös veranlagte Sippe ihr Unwesen; im obersten Stockwerk wiederum wohnte eine Mutter, die in lockeren Abständen mit Krankenwagen in die Nervenheilanstalt gebracht werden musste. Erstaunlich, was sich damals – unter dem Mantel kleinbürgerlichen Wohllebens – in meinem nächsten Umfeld für Abgründe auftaten. Fatal war, dass diese Welt nicht nur brüchig und verlogen war, sondern auch so gar nichts Anregendes bot. Sie versprach nichts. Sie lockte mit nichts. Gar nichts. Letztlich wurde man hier immer blöder und stumpfsinniger. Und merkte es kaum.

Und dann kommt diese schnelle, harte Musik von den Ramones und jagt dir wieder Energie in die müden Knochen, rüttelt dich wach und macht dir Mut, nicht weiter stumpfsinnig auf nichts zu warten. Diese Musik, das war wie ein Lockruf: Hey Olaf! Du musst nicht zwangsläufig Teil dieser Verblödungsgesellschaft sein. Es gibt eine bunte, wilde Alternative. Werde doch einfach auch Punk! Wie wir!

Platten-Dealer

So geil die Musik der Ramones auch war: Nachdem ich ihr Album 50 Mal gehört hatte, ließ die elektrisierende Wirkung langsam nach, immer länger musste ich auf den Kick warten, bis er dann schließlich ganz ausblieb. In dem Moment ging es mir so, wie es jedem Junkie irgendwann geht: Man braucht neuen und mit der Zeit auch zunehmend härteren Stoff, um den Zustand der Glückseligkeit wieder zu erreichen.

Nun konnte man die Scheiben der Ramones damals wie heute in jedem etwas besser sortierten Plattenladen kaufen und aus einem solchen hatte ich sie ja auch (aus dem ollen Musikland in Spandau, wo man nachmittags stundenlang rumsitzen und neue Scheiben hören konnte; ab und an kam einer rein, den man kannte, man quatschte ein wenig, hörte die nächste Scheibe und so vergingen die langen Stunden des Nachmittags…). Irgendwann hatte ich aber von zwei spezielleren Läden gehört; von zwei Läden, in denen es härtere Scheiben geben sollte, Scheiben, die nicht für die Allgemeinheit gedacht waren, sondern für die, die es ernster mit der Bewegung meinten. Der eine Laden hieß Vinyl Boogie, der andere Zensor.

Der Zensor befand sich versteckt in einem Hinterzimmer in der Belziger Straße in Schöneberg. Vorne war ein Szene-Bekleidungsgeschäft (das legendäre blue moon), in dem es Klamotten für Freaks jeder Richtung gab: vor allem für Rockabillies und Teds, aber eben auch für uns Punk-Rocker. Hier schaute man sich um, kaufte auch mal dieses oder jenes, aber das eigentliche Ziel war das Hinterzimmer: der Zensor. Der Zensor selbst, Chef Burkhardt, war ziemlich cool; als mein Kumpel Kinski beispielsweise einmal beim Rausgehen stolperte und ihm dabei ein großer Haufen gerade geklauter Fanzines aus der Jacke rutschte, da reagierte Burkhardt total gelassen und sagte nur, er solle die Hefte doch bitte wieder zurücklegen. Das war alles. Leider war es aber so, dass sich dieser Burkhardt gar nicht wirklich für Punk-Musik interessierte; sein Herz schlug vielmehr für experimentelle, avantgardistische Musik, Punk-Scheiben verkaufte er nur nebenbei. Das führte dazu, dass man bei ihm zunehmend lange nach guten Punk-Platten suchen musste, während im Hintergrund Musik lief, die ich nur schwer ertragen konnte. Auf Dauer war das also keine Lösung.

Beim Vinyl Boogie (in der Gleditschstraße, ebenfalls Schöneberg) war es andersrum: Hier gab es die besseren Scheiben, dafür war Andreas, der Chef, ein merkwürdiger Mensch. Nicht nur, dass man bei ihm oft das Gefühl hatte, er würde sich über uns kleine Punk-Rocker lustig machen, vor allem erzählte man sich, dass er schwul sei. Schwulsein war für mich damals aber so was von uncool und bemitleidenswert, dass es in meine Vorstellungswelt vom idealen Punk-Leben nur schwer hineinpasste. Einmal stürmen zwei Punks, die ab und an bei Andreas aushalfen, in den Laden, um ihrem Chef ein neues Video zu zeigen. Alle waren ganz aufgeregt, die Kassette wurde kichernd eingelegt – und dann begann ein Film, in dem sich die beiden gegenseitig ihre Schließmuskel liebkosten – zärtlich und hingebungsvoll. Alle freuten sich ungemein – nur ich war irritiert, fühlte mich fehl am Platze und beendete meinen Einkauf schneller als geplant. Aber das war die Ausnahme. In der Regel ließ uns Andreas mit seinen sexuellen Vorlieben in Ruhe und deshalb kaufte ich meine Platten auch weiterhin bei ihm.

Später kam dann noch das Screen (in der Eisenacher Straße) dazu. Der Laden lag ganz in der Nähe der anderen beiden, so dass man – wenn man wollte – alle drei in einer Tour ansteuern konnte. Dessen Chef, Thommy, war eigentlich sympathisch: nicht so arrogant wie Andreas und nicht so avantgardistisch wie Burkhard. Seine Eigenart lag auf einer anderen Ebene: Von ihm hieß es, dass er Satanist sei; tatsächlich trug er entsprechende Zeichen, außerdem erzählte man sich, er habe seine ganze Wohnung schwarz angestrichen. Ich fand das übertrieben und auch eher unpunkig (Punk hieß doch, frei und unabhängig zu sein), aber weil er mich nie satansmäßig angebaggert hat, war mir das dann auch egal.

Sobald ich etwas Geld übrig hatte, bin ich damals von Spandau nach Schöneberg zum Punk-Shopping gefahren. Dort regelmäßig aufzukreuzen, war auch deshalb ratsam, weil die meisten Scheiben in so kleiner Stückzahl erschienen, dass man immer Gefahr lief, eine gute Scheibe zu verpassen. Und das wollte ich vermeiden. Außerdem hatten diese Läden auch eine wichtige informelle Bedeutung: Hier erfuhr man, wo und wann welche Band in der nächsten Zeit spielen würde und was sonst noch so an Wichtigem anstand.

Punk Live

Der Besuch eines Punk-Konzertes folgte oft einem ritualisierten Ablauf. Zumeist trafen wir uns bereits am Nachmittag auf dem Spandauer Marktplatz, öffneten die ersten Bierdosen, wurden lustiger und lauter und spürten, wie sich allmählich das ersehnte Gefühl gespannter Vorfreude einstellte. Dann machten wir uns auf den Weg nach Kreuzberg (fast alle Punk-Konzerte fanden damals in Kreuzberg statt). Das war damals allerdings ein weiter Weg, denn die S-Bahnlinie hatte man stillgelegt, die U-Bahn war noch im Bau und an schnelle Regionalzüge war damals noch nicht einmal zu denken. So dauerte die Fahrt eine gefühlte Ewigkeit – was uns freilich die Gelegenheit gab, noch ein paar Bierdosen zu öffnen, noch lustiger und lauter zu werden und manchmal auch schon die ersten kleinen Vorabenteuer zu erleben.

Einmal fuhren wir zu irgendeinem Konzert nach Kreuzberg. Lorenzen war dabei, allerdings hatte er noch kein Ticket, geschweige denn Geld, um sich an der Abendkasse eins zu kaufen. Da schlug ich ihm vor: „Schnorr dir doch das Geld einfach zusammen!“ Er sah sich um, stellte fest, dass in der U-Bahn fast nur Türken saßen, aber auch da hatte ich eine Idee: „Wenn du die Türken auf Türkisch nach `ner Mark fragst, dann geben die dir bestimmt was! Sowas mögen die, da freuen die sich.“ – „Aber ich weiß doch nicht, was das auf Türkisch heißt!“ – „Das heißt ananasekim. Du musst ananasekim sagen.“ – „Ey, danke Olaf.“ Und so ging Lorenzen in der U-Bahn voller Türken umher und sagte immer ganz freundlich „ananasekim“, aber keiner rückte auch nur einen Pfennig heraus. Einige grinsten, andere schauten weg, gegeben hat keiner was. Da bekam Lorenzen mit, dass wir uns im Hintergrund schlapp lachten. Auf seine Frage, was denn los sei, erklärten wir ihm, dass ananasekim „Fick mit deiner Mutter“ heißt und die übelste Beleidigung darstellt, die man sich auf Türkisch sagen kann. Was haben wir gelacht. (Aus heutiger Sicht ist das natürlich – wie so vieles – peinlich, weil es zeigt, dass unser Gespür für die Befindlichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund damals nicht sehr stark ausgeprägt gewesen ist; vor allem aber frage ich mich, ob bzw. wie lange wir heute nach so einer Aktion noch lachen würden; wahrscheinlich nicht sehr lange…)

In heiterer Stimmung erreichten wir dann das ferne Kreuzberg. Einer der wichtigsten Veranstaltungsorte für Punk-Konzerte war damals das KZ 36. KZ stand für Kommunikationszentrum, 36 war die alte Postleitzahl, insgesamt also ein harmloser Name, aber er löste andere Assoziationen aus und wirkte dadurch provokativ. Der Weg vom U-Bahnhof Kottbusser Tor, wo man aussteigen musste, zur Waldemarstraße, in der sich das KZ 36 befand, war für mich wie das Eintauchen in eine andere Welt. Am Kottbusser Tor habe ich zum Beispiel zum ersten Mal in meinem Leben Kebab-Läden gesehen, es gab damals aber auch noch türkische Metzgereien, in deren Schaufenstern rohe Fleischstücke hingen oder Schafsköpfe zu Pyramiden aufgeschichtet waren. Dann ging es die Adalbertstraße hinunter. Und mit jedem Haus wurde das Straßenbild heruntergekommener, abgefuckter: Abrisshäuser – auch so was gab es nicht in Spandau; ganze Straßenzüge mit Gründerzeithäusern hatte man damals bewusst verfallen lassen, weil man sie abreißen und durch öde Sozialbauten ersetzen wollte. In der Waldemarstraße funktionierte dann nicht einmal mehr die Straßenbeleuchtung, stattdessen standen hier finstere Ruinen, in denen kein Licht mehr darauf hindeutete, dass noch irgendetwas bewohnt wäre. Bei einem dieser heruntergekommenen Häuser musste man dann durch ein Tor, um dann über den noch finstereren Hinterhof in das Seitenhaus zu gelangen. Dann ein verfallenes Treppenhaus, dann der erste Stock und dort war schließlich das KZ 36. Zumeist traten hier Punk-Bands aus Berlin auf, deren Musik allerdings fast nie das Niveau der populären Bands aus Westdeutschland erreichte. (Nie habe ich verstanden, warum das so war, aber die richtig guten Bands kamen damals einfach nicht aus Berlin, sondern aus Hamburg, dem Ruhrgebiet oder sonst woher. Irgendwie war es mit dem Punk-Rock so wie mit dem Fußball; auch unsere Hertha kam damals ja nicht richtig hoch…)

Drinnen war es dann ebenfalls völlig heruntergekommen, zudem laut, eng und düster. Viele Leute, die hier herumstanden, waren dem Augenschein nach härter drauf als wir. Auch in der Punk-Bewegung gibt es ja verschiedene Ligen, und wir spürten zumindest in den ersten Jahren, dass wir noch nicht in der Oberliga angekommen waren. Aber dann fingen die Bands an zu spielen, schnell, laut und aggressiv dröhnte es aus den Lautsprechern, die Punks vor der Bühne begannen sich zu bewegen, nach und nach gesellten wir uns dazu, bald schubsten wir uns, warfen uns hin und her, packten uns an den Jacken, sprangen zum Rhythmus der Musik in die Luft, rissen uns zu Boden, lagen dann unten in einem Dreck aus verschüttetem Bier, Rotze und Zigarettenresten, mussten aufpassen, dass niemand auf uns tritt, versuchten wieder hochzukommen, tanzten dann weiter und weiter, brüllten, schrien und schwitzten, atmeten schnell durch, wenn ein Lied zu Ende war und machten beim nächsten Song genauso wild und verwegen weiter. Hierbei mitzumachen war – zumal für einen Brillenträger – nicht ungefährlich, aber ich war gerne dabei, weil das das ultimative Kontrastprogramm zu meinem langweiligen Leben in Spandau war. (Und dass ich noch nicht in der Oberliga spielte, war zumindest beim Pogo-Tanzen egal.) Irgendwann hatte man dann genug vom Herumfegen. Durchgeschwitzt und außer Atem gingen wir dann entweder auf den Hof und atmeten die Kreuzberger Nachtluft ein, oder es ging in den Vorraum, wo man sich ein neues Bier besorgen und etwas plaudern konnte. (Nett war auch, dass hier manchmal kleine Filme gezeigt wurden; hier sah ich zum Beispiel mit 15 Jahren meinen ersten Pornofilm – was in einer Zeit, in der man sich noch nicht via youtube oder youporn dauerbefriedigen konnte, noch ziemlich krass gewesen ist.)

Nach zwei, drei Stunden Konzert waren wir dann völlig erschlafft, hatten nun aber noch die lange Rückfahrt nach Spandau vor uns. Wieder eine gefühlte Ewigkeit unterwegs. Dazu kam, dass der Rückweg nicht ungefährlich war, denn jetzt trieben sich in der U-Bahn Typen herum, die – anders als wir, die wir bloß noch nach Hause wollten – noch ein Abenteuer, eine Bewährungsprobe suchten. Einmal stiegen zum Beispiel ein paar ungesittete Menschen in unsere U-Bahn, die uns zwar zahlenmäßig nicht überlegen, aber eindeutig stämmiger waren. Ich hätte die ignoriert. Aber Kinski hatte seine im Überschauen komplexer Situationen etwas unerfahrene Freundin dabei und die fand es cool und punkig, die Jungs anzumachen. Irgendsowas Überflüssiges und letztlich Bescheuertes wie „Na, die sehen ja schick aus.“ Die fackelten nicht lange. Der Chef holte seinen Totschläger raus und schlug damit voll zu – auf Kinskis Schädel. Völlig sprachlos und entsetzt leisteten wir keinen Widerstand, so dass es damit dann auch sein Bewenden hatte und die Jungs eine Station später wieder ausstiegen. Wir aber mussten in Spandau noch in ein Scheiß-Krankenhaus, Kinski musste sich seinen Kopf nähen lassen („Wie ist das denn passiert?“ – „Ich bin hingefallen…“) und wir wussten, dass es einfach Scheiße ist, nach geilen Konzerten immer wieder in dieses verfuckte Spandau zurückfahren zu müssen.

Wird fortgesetzt –

Olafs Erinnerungen stammen aus dem (leider vergriffenen) Buch „laut und betrunken“. In der nächsten Folge erzählt er von der eigenen Band, dem Fanzine machen und den „Feinden“ seiner Clique: Bürgern, Grünen Männchen und Skinheads.

Schnelle Schuhe – „Landei, aufgeschlagen.“ / von Cordula Lippke – Punk in Berlin Teil 1

Heute beginne ich mit dem Reblog von “Schnelle Schuhe”, einer kleinen Reihe über Punk in der Mauerstadt. Neben den Texten von Cordula und mir werden drei weitere, neue Posts erscheinen. Zwei Artikel schildern die West-Berliner Punkszene aus der Sicht einer Spandauer Punkclique. Aufgeschrieben hat dieses Zeitdokument Olaf Kühl. Entnommen sind die Geschichten seinem, leider vergriffenen, Buch “laut und betrunken”. Außerdem erinnert sich der Musiker Sea Wanton, wie er 1983 mit seiner Band über die Transitstrecke nach West-Berlin kommt, um beim Atonal-Festival aufzutreten. Aber nun hat meine gute Freundin Cordula das Wort und erinnert sich an das Punk House, jene legendäre erste Punk-Location im West-Berlin der späten 70er Jahre. (M.K. Ob wirklich Bands wie “The Talking Heads” im Punk House gespielt haben, ist nicht zu belegen. Andere Zeitzeugen bestreiten es jedenfalls. Möglicherweise hat hier die Phantasie der Autorin einen Streich gespielt. )

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(Für meinen Sohn, der gerade 19 ist und seine Jugend an der XBox verschwendet.)

1977 kam ich nach Berlin um Kunst zu studieren, eigentlich: Visuelle Kommunikation, der eben erst eingerichtete FB 4 der Hochschule der Künste (die seit 2002 Universität der Künste heißt). Meine Eltern hatten es für mich vorbereitet. Ich war schon zur Aufnahmeprüfung nach Berlin gereist, aus Bad Gandersheim, wo ich gerade mein Abitur bestanden und bei der Zeugnisausgabefeier meinen ersten Vollrausch erlebt hatte.

Berlin war mein Sehnsuchtsort aus vielen Gründen. Auch dieses Lied, das ich aus einem alten deutschen Spielfilm kannte, schwingt da mit:
“Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin … Da
gehörst du hin”* [„Der eiserne Gustav“ 1958].
Kurz zuvor war ich noch Bowie Fan gewesen. Bowie hatte mir zuerst meine Schwester im gemeinsamen Kinderzimmer vorgespielt: “There’s a starman waiting in the sky …” Das hatten wir 1972 im Chor gesungen.

1971 besuchten wir als Familie Berlin. Wir waren mit dem Flugzeug in Tempelhof gelandet, im Zoo und in Ost-Berlin gewesen und konnten einem Selbstmörder beim Nichtspringen vom Europa-Center zuschauen.
Ich hatte die Nase voll von den irritierten Blicken der Kleinstädter und Kurgäste, wenn meine roten oder blauschwarzen Haare, meine schrille selbstgeschneiderte Kleidung (eine Hommage an meine Oma Alwine, die immer alles selbst genäht hatte), ihr Weltbild störten. Im Frühjahr hatte ich die Aufnahmeprüfung an der HdK bestanden und war zum Studienbeginn mit Sack und Pack nach Berlin gezogen.

September 1977. In der Hochschule der Künste, im Konzertsaal, spielte Iggy Pop – das war mir wichtig! Er war ein Freund von David Bowie (wie wenig ich davon wusste, dass die Beiden kurz zuvor in Berlin gelebt hatten, wurde mir erst in diesem Jahr, 2014, in der grossen Bowie-Ausstellung bewusst). Ich bin allein zum Konzert gegangen, kannte ja noch Keinen in der großen Stadt, die ja noch eine halbe Stadt war und doch die größte Westdeutschlands, strictly West-Berlin.
Meine erste eigene Wohnung war eine recht teure möblierte Ein-Zimmer-Butze mit Aussenklo und ohne Bad in Neukölln (U-Bahnhof Grenzallee). Das war damals verbreitet in West-Berlin. Ich hatte mich bald daran gewöhnt ins Stadtbad zu gehen, um in einer der Kabinen ein Wannenbad zu nehmen. War auch gar nicht teuer.
Ja, ich war froh, von meiner Familie weg zu sein. “Das Dasein ist okay, aber Wegsein ist okayer!”, singt Funny van Dannen heute in mein Ohr. Die Familie hatte sich bald nach meinem Weggang aufgelöst (hinterrücks).
Bei mir in Berlin war Ausgehen angesagt, das war ja in Bad Gandersheim so gut wie unmöglich gewesen. Ich liess mich hierhin und dorthin treiben, was die Stadtmagazine eben so ankündigten (die taz war noch nicht gegründet, das zitty gerade erst) – ein Landei von 19 Jahren, auf der Suche nach dem Glück – und lernte viele seltsame Menschen kennen. Heute staune ich, dass mir trotz meiner grenzenlosen Naivität und Unerfahrenheit nicht mehr passiert ist als dieser Typ, den ich eigentlich meinen ersten Freund nennen müsste, wenn es nicht so peinlich wäre. Er hieß Harald und war heroin-abhängig, was mich als Fan von “The Velvet Underground” wahrscheinlich eher neugierig als vorsichtig machte, hatte ich doch bisher nur in Songtexten von dieser Droge gehört. Und das war Kunst, oder? Meine Drogen waren (und sind) Kaffee und Zigaretten. Selbst vom Alkohol wurde mir eher noch übel. Dieser Typ also hatte wunderbare lange blonde Locken und einen niedlichen süddeutschen Akzent. Die Hippiediskotheken, in die er mich ausführte, waren nicht ganz mein Geschmack. Ich hatte schon im Radio Punkmusik gehört (Niedersachsen war Einzugsgebiet vom BFBS, British Forces Broadcasting Service, wo auch John Peel sendete).
Eine neue Bekanntschaft empfand mein geringschätziges Naserümpfen über die üblichen Kneipen als Herausforderung und zeigte mir den neuesten Schuppen am Lehniner Platz: das Punk House. Von diesem Tag an war ich dort Stammgast, fuhr jeden Abend (das Nachtleben begann damals noch vor Mitternacht) mit dem 29er Bus vom Hermannplatz den Kudamm rauf. Ich hatte meine neue Heimat und viele Freunde gefunden, die zusammen mit mir das Punk-Sein in Deutschland gerade erst entwickelten. So kam es mir vor. Das war mein Ding. “Don’t know what I want but I know how to get it”. Jeder konnte so sein wie er wollte. Keine Vorschriften, keine Vorurteile. Nur Hippie durfte man nicht sein. Klar, dass ich mich von Harald trennen musste. Zum Abschied klaute er mir die paar Wertgegenstände, die mein möbliertes Zimmer hergab. Schmerzlich vermisste ich nur die Spiegelreflexkamera. Ich hatte meine erste Großstadtlektion gelernt, seitdem war ich Heroin-Usern gegenüber misstrauisch. Eine neue Kamera sollte ich erst drei Jahre später wieder bekommen, als mein irischer Freund mir eine aus einem Fotogeschäft klaute.

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Aber das alles war jetzt nicht wichtig. Genauso wenig wie mein Studium. Das Nachtleben hatte mich voll im Griff und es war absolut erfüllend. “The Talking Heads” und viele andere Bands spielten live im Punk House, wo die Bühne nur ein abgeteiltes Stück Tanzfläche war, Auge in Auge mit den Fans, manche Musiker blieben hinterher noch ein Weilchen da. Wildes Pogo tanzen, sich vor Begeisterung gegenseitig mit Bier überschütten und ab und zu am Flipper austoben, solche Sachen waren jetzt wichtig. Ich lernte dort Nina Hagen kennen und schüttelte Rio Reiser die Hand.
Wie lange gab es das Punk House? Ich weiss es nicht. [Wolfgang Müller in „Subkultur Westberlin 1979-1989“ erzählt davon: „Im Sommer 1977 eröffnet das Funkhouse am Kurfürstendamm. Westberlin – Funky Town? Ein kapitaler Flop. Das Lokal läuft schlecht. Der Inhaber erkennt die Zeichen der Zeit. Eine kleine Buchstabenauswechslung hat große Folgen: Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse. Und dieses Punkhouse entwickelt sich nun zum ersten Treffpunkt einer gerade erst im Entstehen begriffenen Westberliner Punkszene.“ ] Wenn ich die Vielfalt der Erlebnisse und der Konzerte dort addiere, komme ich auf gefühlte zehn Jahre. Es war aber wohl nur etwas mehr als ein Jahr.

Das Silvester zum Jahr 1978 erlebte ich schon mit meiner ersten Band, “DinA4”, die Mädchenband ohne Auftritte, aber mit Proberaum, den uns Blixa Bargeld in einem Keller in der Sponholzstrasse, Friedenau, besorgt hatte. Wir hatten uns im Punk House an der Theke kennengelernt und zusammengetan, Birgit, Barbara, Gudrun und ich. Wir entschieden uns für unsere Instrumente nach Gutdünken und Laune, denn Können war kein Kriterium. Silvester feierten wir in Gudruns Schöneberger Wohnung mit vielen Freunden und einem genialen Buffet voller Speisen, die mit Lebensmittelfarbe ihren ursprünglichen Charakter verlieren sollten: grüne Buletten, blauer Vanillepudding, sowas alles. Dazu mein erster LSD-Trip, eher unspektakulär.
Für mich war und ist Silvester allein schon ein Trip und dieses Feuerwerk über dem Wartburgplatz war einfach großartig. Ein paar Hippies waren auch da (aus Flensburg und Köln oder so), sie waren Musiker und hatten uns damit Einiges voraus. Sie waren okay, obwohl wir uns als Punks gern von den Hippies abgrenzten. Sie verhalfen uns später, als “Din A Testbild”, immerhin zum ersten richtigen Auftritt: 13. August 1978, Mauergeburtstag. Süße sechzehn Jahre Mauer wurden mit einer Torte gefeiert, die die
Berliner Punkband “PVC” von der Bühne herunter verteilte. Lecker! Ich glaube, es war schon eine gewisse Dankbarkeit für diesen Schutzwall vorhanden, der uns das besondere, zulagengeförderte, wehrdienstbefreite, West-Berliner Punkleben ermöglichte.

Beim Mauerfestival 1978 lernten wir die Düsseldorfer/Solinger Szene kennen. Musiker übernachteten bei uns und diese neuen Verbindungen brachten schöne Transitreisen mit sich. Wir spielten und tanzten im Ratinger Hof und in Hamburg. Ich erinnere mich heute nicht gut an die Einzelheiten. Liebesdinge spielten eine Rolle, Drogen natürlich und das, was wir definitiv nicht Rock’n’Roll nannten.
Zu der Zeit war ich bereits länger beim Plattenladen Zensor quasi “angestellt” um die Buchhaltung zu machen. Das brachte es mit sich, dass ich in Berlin alle Konzerte, die mich irgendwie interessierten, umsonst besuchen konnte. Ich bin gerade dabei eine Liste zu erstellen und die Länge, die Menge haut mich selbst um. Da wundert es mich nicht mehr, dass ich bald mein Studium geschmisssen habe. Das Leben war doch zu schön. Ich wollte es mir nicht von obskuren Aufgaben verderben lassen, die keinen Spaß machten und deren Sinn ich nicht erkennen konnte. Inzwischen wohnte ich auch in der Wartburgstrasse (Schöneberg), Parterre. Die Küche war schwarz lackiert, das Schlafzimmer bonbonfarben und das Wohnzimmer grün und blau, wie ich es heute noch schön finde. Der Vermieter regte sich fürchterlich auf und schrieb Briefe an meine Eltern und meine Hochschule. Das amüsierte mich. Es gab ein Klo in der Wohnung! Zum Baden ins Stadtbad gehen war kein Problem. Ein Problem war der Kohleofen, der sich meinen Heizkünsten fast immer verweigerte. Als ich, zu Silvester 1978/79, vom Weihnachtsbesuch bei der Familie in Westdeutschland zurückkam, hatte ich Glatteis im Flur. Es war der legendäre Schneewinter, (in Schneewehen steckengebliebene Züge, ausgefallene Heizung, Fahrgäste, die miteinander die letzten Rotweinreserven teilten). Ich kroch mit dicken Wollpullovern unter die Bettdecke. Die Silvesterparty im Übungsraum konnte ich eh nicht mehr erreichen. Am nächsten Tag erfuhr ich, wer alles in welche Ecke gekotzt hatte.

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Der Zensor war ganz in der Nähe, Belziger Str. 23. Burkhardt freute sich, dass ich mich mit seiner elenden Zettelwirtschaft und den Anforderungen des Steuerberaters beschäftigen wollte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Geld verdienen und mochte es, zwischen den Schallplatten (hatte doch selbst schon eine ansehnliche Sammlung zu Hause in den Obstkisten) und ihren Liebhabern zu arbeiten. Die vorderen Ladenräume gehörten dem Blue Moon, einem Rockabilly-Klamottenladen.

– wird fortgesetzt –

*”Du bist verrückt
Mein Kind
Du musst nach Berlin!
Wo die Verrückten sind

Da gehörst du hin!

Du bist verrückt
Mein Kind

Du musst nach Plötzensee.
Wo die Verrückten sind
Am grünen Strand der Spree!”

Berliner Volkslied. Die Melodie ist ein Marsch aus der selten gespielten und ersten abendfüllenden Operette “Fatinitza” (1876) von Franz von Suppé. Der Marsch ist im Libretto nicht textiert, die Worte hat der Berliner Volksmund hinzugefügt.

Die Zeichnung “Obey/Subvert” von Rainer Jacob zeigt den “Zensor” und seine “Buchhalterin” Cordula, rechts in der Subvert-Ecke. Sie ist als Illustration für das Kapitel “Beim Zensor hinter dem Blauen Mond”, aus dem Roman “Helden ’81” von Marcus Kluge, entstanden.

Berlinische Räume – “MC5 in der TU und frühe Hausbesetzung” / 15. Mai 1972 – A Day in the Life

Wann ist mir eigentlich bewusst geworden, das die Revolte der späten 1960er Jahre endgültig zu ende war und die historische Gelegenheit zu einer Chance in meiner Lebenszeit nicht kommen würde? Und wahrscheinlich nie kommen würde. Spät auf jeden Fall!

Es muss wohl der Abend des 15. Mai 1972 gewesen sein, an dem ich mit Roberto in der Alten Mensa der TU ein Konzert von MC5 besuchte, der berühmten Band aus Detroit, die später zu Recht als Wegbereiter des Punk bezeichnet wurde. Ein denkwürdiges Konzert, den obwohl die 68er Revolte eigentlich gescheitert war, kam an diesem Abend noch einmal das Gefühl von Revolution und Auflehnung in das provinzielle, verschlafene West-Berlin der 1970er Jahre.

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Vier Tage vorher hatte die RAF das alte IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main in die Luft gesprengt. Das 5. US-Korps, das dort stationiert war, beklagte einen Toten und 13 Verletzte. Ein “Kommando Schelm” bekannte sich zum Attentat. Das Ziel war geschickt gewählt, natürlich wussten wir von den Verstrickungen der IG-Farben in die Naziverbrechen, vom Zyklon B, mit dem die Gaskammern in Auschwitz betrieben wurden, genauso wie von den C-Waffen der US-Army wussten, die in Vietnam zum Einsatz kam. Wir hatten zwar begriffen, das der Krieg, den die RAF jetzt führte, falsch war und nur zu mehr Repression führen würde, doch klammheimlich hatten wir wohl doch Sympathien. “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt” hieß es angeblich im Bekennerschreiben. Dass sich der Name auf Petra Schelm* bezog, wurde von den Medien verschwiegen. Man wollte keine Märtyrerin schaffen. Erst Monate danach las ich in einem Flugblatt, dass sich das Kommando “Petra Schelm” nannte, nach dem ersten RAF-Mitglied, das durch Polizeischüsse getötet wurde.

Was wir am Abend des Konzerts nicht ahnen konnten: Die Großfahndung nach dem IG-Farben-Anschlag würde innerhalb eines Monats zur Festnahme des größten Teils der RAF führen. (Gefangennahme von Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe am 1. Juni 1972, Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972, Brigitte Mohnhaupt und Bernhard Braun am 9. Juni 1972, Ulrike Meinhof und Gerhard Müller am 15. Juni 1972.)

Ein Jahr früher hatte es das erste Todesopfer auf Seiten der RAF gegeben. Bei einer Fahndung im gesamten norddeutschen Raum nach etwa fünfzig Mitgliedern der RAF durchbrach Petra Schelm in Begleitung des RAF-Mitglieds Werner Hoppe am 15. Juli 1971 mit ihrem Wagen eine Straßensperre in der Hamburger Stresemannstraße. Nach einer Verfolgungsjagd kam es zu einem Schusswechsel. Petra Schelm wurde von einer Kugel aus einer Maschinenpistole schräg unter dem linken Auge getroffen und tödlich verletzt. Das Opfer wurde zehn Minuten lang liegen gelassen, erst danach wurde Hilfe geleistet. Zunächst wurde sie für Ulrike Meinhof gehalten, erst ein paar Stunden später korrigierte man entsprechende Falschmeldungen. Danach gab es eine Diskussion über die Qualität der Schusswaffenausbildung bei der Polizei.

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Unsere langen Haare und ausgefransten Jeans waren provozierend für die “Schultheiss-Fraktion”, wie ich die Berliner Spießbürger nannte, aber Roberto setzte dem die Krone auf, indem er einen alten Bademantel seines Vaters trug. Heute hört sich das unspektakulär an, aber damals waren die Wertvorstellungen der Bürger was Kleidung anging noch recht rigide. Zu dieser Zeit war es beispeilsweise eine sichere Sache, in der Kneipe zu wetten, man ließe sich eine Glatze schneiden. Damit konnte man immer 100 Mark oder mehr einstreichen, so stigmatisierend war es für einen gesunden jungen Mann mit einem Kahlkopf auf die Straße zu gehen. Roberto wurde auf dem Weg von der Pfalzburger zur Hardenbergstraße laufend angepöbelt. Mehr als einmal mussten wir laufen, um einem Kneipenmob zu entgehen. Wir fühlten uns als Rebellen und waren bester Laune.

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The MC5 “Seagull” poster by Gary Grimshaw. The first poster for the Grande Ballroom, Oct., 1966

MC5 war damals schon eine Legende und wir brannten darauf sie zu erleben. In der »Motor-City« Detroit bildeten weiße Jugendliche eine »White Panther Party«. Musikalisch wurden diese Jugendlichen von MC 5 angestachelt. Die Band forderte auf zur völligen Befreiung von allen hergebrachten Zwängen: Kick out the jams, motherfuckers! Die MC5-Musik fand auch ihren Weg nach Berlin. Auf Demos wurden MC5-Scheiben von Lautsprecherwagen gespielt. Ich hatte sie bei Burkhardt Seiler, dem späteren Zensor, zum ersten Mal gehört.

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Der Eingang zur “Alten Mensa” heute.

Der Eintritt in der “Alten Mensa” der TU kostete 2 Mark Solibeitrag für die Rote Hilfe, die sich um die politischen Gefangenen kümmerte. Als Vorgruppe spielten Ton, Steine, Scherben, die wir kannten, die uns aber nicht interessierten. Der “Blues”, also die aufrührerische psychedelische Rockmusik, die wir suchten und verehrten, kam nicht aus Berlin. Sie kam aus England oder den USA. MC5 spielten diesen “Blues” mit einer beispiellosen aggressiven Energie. Sie hantierten mit Gewehren herum, und Tyler der Sänger wurde scheinbar von Heckenschützen auf der Bühne exekutiert. Zwischendurch informierten politische Gruppen über ihre Arbeit. MC5 spielten “Motor-City Is Burning” von John Lee Hooker, der eigentlich mit dem Lied den Niedergang von Detroit anprangern wollte. Bei MC5 wird daraus die Aufforderung zum Widerstand. An diesem Abend war noch einmal, zum letzten Mal, die Revolution greifbar. Für einen Augenblick dachten wir, jetzt käme die Erhebung wirklich, sie hatte sich nur etwas verspätet, nun würden wir doch siegen und die bürgerlichen Regierungen und ihre bescheuerten Wähler wegfegen. Es war naiv, es war völlig falsch, aber für einen Moment fühlte es sich so an. Zum Ende wurde das Publikum aufgefordert, schwarz mit der BVG zur Lützowstraße 5 zu fahren und dieses Haus zu besetzen. Etwa 500 Konzertbesucher folgten dem Aufruf und ein Teil besetzt das Haus, während sie der Rest auf der Straße anfeuert.

MC5 live in Paris Februar 1972: https://www.youtube.com/watch?v=Y_cXU71XsKA

*http://de.wikipedia.org/wiki/Petra_Schelm

Siehe auch: http://www.riolyrics.de/artikel/id:704

Anhang: Seventies Revisited

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Familienportrait – “Erster Besuch beim Zensor”

Der Text ist ein Auszug aus dem Kapitel “Beim Zensor hinter dem blauen Mond” aus dem West-Berlin-Roman “Ein Hügel voller Narren” von Marcus Kluge.

Burkhardt hatte sich gefreut, von mir zu hören. Er war ja jetzt unter dem Namen “Zensor” eine Institution in der Berliner Musikszene geworden. Nach dem wir, wegen unserer mehr oder weniger politischen Aktionen, vom Gymnasium geflogen waren, hatte ich ihn nur einmal getroffen. Damals hatte er selbstgezogene Kerzen auf dem Kudamm verkauft. Was dann folgte, erzählte man sich in Szene und es stand in der Musikpresse. Im Frühjahr 1978 war er mit 600 Mark nach London gefahren, um dort Platten zu kaufen. Er lernte Geoff Travis kennen, der damals noch den Rough Trade Plattenladen betrieb, aus dem der große gleichnamige Independent-Vertrieb wurde. Burkhardt wurde Geoffs erster Exportkunde. Mit einem Pappkarton voller Singles kam Burkhardt nach Berlin zurück und merkte, wie gefragt, die von ihm ausgesuchte, also “zensierte” Musik war. Schließlich gründete er 1979 den inzwischen berühmten Plattenladen in der Belziger Straße.

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Zwei Tage später stand ich vor der angegebenen Adresse in der Belziger Straße und wunderte mich. Hier war kein Plattenladen, nur eine bunte Modeboutique namens Blue Moon. Aus dem Laden kamen eben zwei ältere Teddy-Boys in Drape-Jackets und eine Frau im Petticoat. Den Typen wäre ich nur äußerst ungern nachts irgendwo begegnet. Ich untersuchte das Klingelbrett an der Haustür zu den Wohnungen, da war nichts von einem Plattenladen zu lesen. Jetzt fiel mir auf, neben dem Hauseingang war ein Fenster mit geschlossenem Rollladen über den man Zensor und Schallplatten geschrieben hatte. Ich klopfte an diesen Rolladen, natürlich passierte nichts, aber als ich näher kam, hörte ich Punkmusik von irgendwo her. Nun gingen zwei Skin-Heads in die Boutique, richtige, fiese, ältere Skin-Heads. Nee, was für ein Laden?
Eine Weile stand ich entschlusslos auf der Straße und überlegte, ob ich wieder nachhause gehen sollte. Das Schicksal hatte entschieden, ich würde den Laden nicht finden und das mit dem Slime-Artikel würde ich auch seinlassen. Wenn man nichts machte, konnte man auch nichts falsch machen. Das war mein Wahlspruch für die 70er Jahre gewesen, vielleicht sollte ich mir auch die 80er damit erleichtern.

Nein, das war Mist. Ich musste mit Burkhardt sprechen, ich brauchte Infos über Slime und überhaupt war er ein guter Kontakt, wenn ich über Musik schreiben wollte. Ich riss mich zusammen und betrat die Blue Moon Boutique. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, irgendwas Schlimmes wahrscheinlich, aber es war ein ganz normaler Laden, so ähnlich wie das Market. Er war vollgestopft mit Jugendmode aus den 50er Jahren und anderen Epochen, Kleider, Jacken, Hosen, Schuhe, fast jeder Geschmack wurde befriedigt. Besonders die Schuh-Auswahl war beeindruckend. Ein Mädchen mit grünen Haaren und einem schwarzen Lack-Mini stapelte Kartons mit Doc Martens-Stiefeln, ich fragte sie nach dem Zensor-Laden. Sie machte große Augen über meine Unkenntnis und und zeigte mit dem Kopf zu einer Tür, die links zu einem Hinterzimmer führte. Dort fand ich den Zensor.

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Der etwa 20qm große Raum war vollgestopft mit Regalen voller Schallplatten, an den Wänden hingen dicke Schichten übereinander geklebte Plakate, die für Konzerte und Tonträger warben. Zwei Kunden wühlten in den Vinylscheiben und in einer Ecke arbeitete eine junge Frau mit halblangen blonden Haaren. Burkhardt saß hinter einer Registrierkasse und sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Jugendlich verschmitzt, nur die schulterlangen Haare waren verschwunden. Sie reichten gerademal knapp über die Ohren. Er aß eine Käsestulle und trank schwarzen Kaffee dazu.
Schnell kamen wir ins Gespräch, ich fühlte mich wieder genauso, wie in unserem alten Kollektiv, wie wir die Clique nannten, der Burkhardt Ende der 60er Jahre, sozusagen als Chefideologe, vorstand. Burkhardt dozierte und ich wurde wieder zum gelehrigen Schüler, der dem Guru zuhörte. Wie damals ging es um Musik, Musiker und andere schräge Vögel aus Kunst, Kultur und angrenzenden Gebieten, nur das Thema Politik schien keine große Rolle mehr zu spielen. Ich hörte mir einen längeren Vortrag über Aleister Crowley an, Burkhardt hatte wohl gerade sein “Buch des Gesetzes” gelesen. Der Okkultist Crowley war in den frühen 80ern fast unbekannt, wie meisten von Burkhardts Entdeckungen.
In den späten 60ern hatte er mich mit Namen wie bekannt gemacht wie Tuli Kupferberg von den Fugs, oder David Peel, der mit “The Lower Eastside” Cannabis-Musik machte. Auf seinen Rat hin las ich Tom Wolfes “Electric Kool-Aid Acid Test” und die Väter der Beat-Literatur wie Kerouac, Ginsberg und Burroughs und begriff, dass auch die “Beatles” sich auf diese Tradition bezogen und das vor den Jungs aus Liverpool schon eine Menge losgewesen war.

Jetzt würde ich also Crowley lesen müssen. Als Burkhardt eine Pause machte kam ich auf mein Anliegen zu sprechen, ich erzählte, dass ich mich als Schreiber betätigen wollte, weil ich keinen richtigen Job hatte und schließlich fragte ich ihn, ob er mir was über Slime erzählen konnte. Er grinste und antwortete kurz:
“Nee, Slime fällt unter die Zensur!”
Ich schaute ihn verständnislos an und fragte nach:
“Wie meinste’n das?”
“Hast du nicht was Interessanteres als Slime? Die sind musikalisch langweilig und inhaltlich haben das die Scherben schon vor zehn Jahren gemacht. Ich bin der Zensor, ich rede nur über gute Musik.”
“Schade, ich soll was über Slime für die taz schreiben.”
Burkhardt holte eine kleines Notizbuch aus der Tasche, er kramte nach Kugelschreiber und Zettel und schrieb mir etwas auf:
“Hier ruf den mal an, der kennt sich mit dieser Art Punk aus. Aber sag mal, wenn du da ‘ne Connection zur taz hast, könntest du ja mal was über eine von meinen Bands schreiben.”
“Ja, natürlich würde ich das gern machen, aber ich muss erstmal sehen, wie das mit dem ersten Artikel läuft. Pappirossi meinte, es wäre nur ein Versuch. Der hat ja noch nie was von mir gelesen.”
Burkhardt lachte laut:
“Du weißt ja, was man über die taz sagt. Die größte Schülerzeitung der Republik. Die werden dich schon nehmen. Im Vertrauen, die nehmen Jeden”
“Ich wollte dich noch was fragen, Burkhardt, kennst du dich mit Fanzines aus? Ich überlege, ob ich sowas wie ein Fanzine mache.”
“Ja, klar.”
Er stand auf und zog ein Heftchen irgendwo vor und reichte es mir. Auf dem schlampig gestalteten Cover stand “Pretty Vacant”.
“Das ist aus Hamburg, fast nur Punk. Da hinten liegt ein ganzer Stapel, auch Berliner Sachen. Aber sag mal, lass mich mal konstatieren. Erstens, du suchst ‘nen Job, zweitens, du willst über Musik schreiben und drittens du brauchst Unterstützung dabei, ein Fanzine zu machen.”

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In diesem Moment erhob sich die junge Frau, die bis dahin still in einer Ecke über einem Stapel Zettel und einigen Akten gebrütet hatte. Mir fiel auf, dass irgendetwas mit ihrem Gang nicht stimmte, so als ob ein Bein länger wäre als das andere. Sie trug auffallend bunte Kleidung in Buntstiftfarben, einen blauen Pullover, einen knallroten Rock und eine riesige Brille und sie mischte sich in unser Gespräch ein:
“Hat hier jemand Fanzine gesagt? Ich wollte schon immer bei einem Fanzine mitmachen.”
Burkhardt stellte mir die Frau vor:
“Das ist Coca-Cola, meine Buchhalterin.”
“Ich dachte das wäre eine Brause!”, erklärte ich ungewohnt schlagfertig.
“Eigentlich heiße ich Cordula, irgenwann habe ich mich mal vorgestellt und ich muss wohl genuschelt haben, so dass mein Gegenüber Coca-Cola verstanden hat. Seitdem ist das mein Spitzname!”, erklärte Coca-Cola.
“Vielleicht magst du mir helfen bei meinem Heft?”, ich versuchte ein Lächeln. Aber ich war noch woanders:
“Nochmal zurück, Burkhardt, was wolltest du eben sagen, von wegen, erstens, zweitens, drittens?”
“Na ja, deine Interessen und meine Interessen könnte man möglicherwiese verbinden. Ich bräuchte nämlich noch ‘ne Hilfe für den Laden und den Vertrieb. Was würdest du davon halten, bei mir ein Praktikum zu machen, Marcus? Geld kann ich dir zwar nicht geben, aber ‘ne Menge guter Erfahrungen sind für dich drin.”

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Es wurde noch ein erfreulicher Nachmittag. Burkhardt erzählt von seinen Einkaufsreisen nach London, Prag oder Jamaica und legte Platten auf. Cordula erinnerte sich an die Nächte im legendären Punkhouse am Lehniner Platz und wir sammelten schon mal Themen für ein mögliches Fanzine. Daheim packte ich meine Schätze aus, Burkhardt hatte mir ein paar von seinen Platten geschenkt, damit ich darüber schreiben konnte: “Funeral In Berlin” von Throbbing Gristle und eine Single von Frieder Butzmann. Ein paar Platten hatte ich gekauft, ich hatte ja Geld durch Robertos Miete. Zwei teure Maxi-Singles von Fela Kuti und eine Single von den Fehlfarben: “Große Liebe/Maxi”, die mir Burkhardt als erste deutsche Ska-Platte angepriesen hatte, konnte ich meiner Plattensammlung beifügen.

Alle Kapitel des Romans, mit Ausnahme der letzten zwei, sind auf dieser Seite verlinkt:

http://wp.me/P3UMZB-Sx

Illu “Subvert” von Rainer Jacob.

 

Berlinische Leben – “Ein Hügel voller Narren” / Roman von Marcus Kluge mit Illustrationen von Rainer Jacob / West-Berlin Herbst 1981

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_n– Der Text ist aktualisiert und ihr findet die Links zu 15 Kapiteln. Zwei stehen noch aus, dann ist auch dieser Roman fertig.-

Schon bevor ich “Xanadu ’73” abgeschlossen hatte, begann ich über eine Fortsetzung nachzudenken. Mitte Juli 2014 begann ich “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Wie in Xanadu steht erneut eine “Schelmen-Figur” im Zentrum und erneut ist es ein ehemaliger Schulfreund, jemand der wie Beaky nie richtig erwachsen geworden ist. Anders ist, dass Roberto unbedingt sozial aufsteigen will. Er will die kleine Welt seiner Herkunft, den winzigen Fotoladen seines Vaters in der Pfalzburger Straße, hinter sich lassen und ein Mitglied des internationalen Jetsets werden. Ein paar Stufen hat er genommen, er hat sich mit dem Schauspieler und Playboy Alex Legrand und dessen Freundin Baby Sommer angefreundet. Er hat im Hippie-Paradies Goa eine Pension aufgebaut und dort auch prominente Gäste gehabt. Aber eben bevor ihn der Leser kennenlernt, hat er einen Rückschlag erlitten. Er hat hoch gepokert, in dem er 250 Kilo Haschisch nach Kanada geschmuggelt hat und er ist erwischt worden. Zwei Jahre war er in Kanada im Knast.

Am 22. September 1981 treffe ich den Rückkehrer im Café Mitropa, es ist der Tag an dem Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Auf der Straße geraten wir in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und müssen vor der wildgewordenen Polizei flüchten. Roberto erkennt seine Heimatstadt kaum wieder.
Doch das ist nicht sein einziges Problem, Gangster sind hinter ihm her, sie wollen Geld zurück, das er mit seinem missglückten Schmuggel verloren hat. Als ich Roberto bei mir wohnen lasse, gerate auch ich in den Strudel einer atemberaubenden Geschichte mit überraschenden Wendungen, die bis zum Widerstand gegen das Nazi-Regime während des 2. Weltkriegs zurückführt. Daneben erkunden wir das legendäre Nachtleben, besuchen Klubs wie das SO 36 und die Music-Hall. Wir erleben Bands, zum Beispiel die “Einstürzenden Neubauten” und die “Goldenen Vampire” und treffen originelle Zeitgenossen.

“Ein Hügel voller Narren” ist eine spannende Kriminalerzählung vor dem Panorama von Hausbesetzerbewegung und Punkszene im West-Berlin des Jahres 1981. Weitere Themen sind Liebe, Freundschaft und der Beruf des Schriftstellers. Besonders interessiert mich die Generation, der in den 50ern Jahren Geborenen. Die Eltern sind oft noch vom Krieg traumatisiert, aber es wird nie darüber gesprochen. Wir, ihre Kinder, begreifen nur langsam, dass eine Aufarbeitung der kollektiven Schuld nie stattgefunden. Das Dritte Reich wurde nur verdrängt und alte Nazis konnten weiter Karriere machen. Der Roman ist der zweite Band meiner West-Berlin-Trilogie. Jedes Kapitel wird mit einer Bleistiftzeichnung von Rainer Jacob illustriert.

Bisher erschienen sind diese Kapitel:

Kapitel 1: http://wp.me/p3UMZB-PT

Kapitel 2: http://wp.me/p3UMZB-QA

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-R1

Kapitel 4: http://wp.me/p3UMZB-RT

Kapitel 5: http://wp.me/p3UMZB-Sl

Kapitel 6: http://wp.me/p3UMZB-T5

Kapitel 7: http://wp.me/p3UMZB-Ux

Kapitel 8: http://wp.me/p3UMZB-VH

Kapitel 9: http://wp.me/p3UMZB-Xg

Kapitel 10: http://wp.me/p3UMZB-YI

Kapitel 11: http://wp.me/p3UMZB-11h

Kapitel 12: http://wp.me/p3UMZB-13k

Kapitel 13: http://wp.me/p3UMZB-18U

Kapitel 14: http://wp.me/p3UMZB-1d8

Kapitel 15: http://wp.me/p3UMZB-1mv

Berlinische Leben – “Achterbahn und heiteres Beruferaten” / “Mein” Offener Kanal Berlin – Teil Eins / 1985-88

1985 hält die mediale Zukunft Einzug in West-Berlin, ein sogenanntes Kabelpilotprojekt wird gestartet. Das ich Teil davon sein werde, kann ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Ich bin 30 und hatte noch nie eine “richtige” Arbeit, also nie fulltime gearbeitet und nie rentenversichert. Ich hatte mich mit Aushilfsjobs durchgeschlagen, nachdem ich Anfang 1970 vom Gymnasium verwiesen wurde, weil man Härte gegen einen politischen Rädelsführer demonstrieren wollte. Ich war bei weitem nicht der Einzige, beispielsweise meinem Schulfreund Burkhardt, dem späteren “Zensor” ging es genauso. Der rappelte sich wieder auf, er begann selbstgemachte Kerzen am Kudamm zu verkaufen und erfand sich dann als “Plattenguru” neu. Ich war nicht so flexibel. Ohne Abi und Studium machte eine Karriere keinen Sinn für mich. Ich war auch irgendwie eingeschnappt oder blockiert. Ich versuchte es probeweise als Tankwart, Babysitter, Altenpfleger, Werbetexter, Verkäufer und Journalist, ohne das mir dieses “Was bin ich?”-Spiel Spaß machte und ohne überzeugenden Erfolg in einer dieser Professionen.

1985, zwei Tage vor Beginn der Funkausstellung wird am 28. September in 218000 Haushalten ein zusätzliches Angebot, bestehend aus 12 TV-Sendern, freigeschaltet. Neben öffentlich-rechtlichen Sendern, wie WDR oder dem Bayerischen Fernsehen sind erstmals auch private Sender am Start, allen voran RTLplus und SAT.1. Ich ahne nichts Gutes, besonders was die Privaten angeht. Außerdem will man in Berlin einen frei zugänglichen Bürgersender ausprobieren, den Offenen Kanal Berlin. Dieses “demokratische Feigenblatt”, so sehen es Medienkritiker, wird mein Leben für fast zwei Jahrzehnte verändern und bestimmen.

Am 28. August 1985 wird auch der Offene Kanal Berlin eröffnet und etwas später macht mich Frank darauf aufmerksam, dass man dort Produktionsmittel für Videoprojekte kostenlos ausleihen kann. Einzige Bedingung ist, die fertigen Produktionen auch dort ausstrahlen zu lassen. Damals gab es außer Super8, was mich nie gereizt hat, noch keine preiswerten Kameras. Videocamcorder waren für Amateure kaum bezahlbar, so das diese Möglichkeit mich sofort begeisterte. Und da wir mit einem Fernsehsender kooperieren wollten, erschien es mir logisch auch ein Fernsehformat zu erfinden. Mit Herbert zusammen hatten wir ja schon in unseren Hörspielen das Detektivthema aufgegriffen. Mein Pseudonym Sherlock war kein Zufall, sondern “Programm”. Also beginnen Herbert und ich eine Detektivserie zu schreiben, eine wüste, anarchische Parodie. “Bum Bum Peng Peng” handelt von einem eingebildeten Detektiv namens Bernhard Bernhard und seinem kindischen, tennisverrückten Assistenten Bum Bum Boris. Die Rolle des Bösewichts schreibe ich mir selbst auf den Leib, er heißt Hendrik Marinus van Loon, der “Eierkaiser”. Es war die Zeit der Lebensmittelskandale, Birkels hochgeschätzte Eiernudeln waren eben wegen verseuchtem Flüssigeis ins Gerede gekommen. Meine Gehilfen, “Cash & Carry”, werden von einem befreundeten, schwergewichtigem Biker und dem Musiker und Hörspielautor Caspar Abocab verkörpert.

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Auch sonst tut sich etwas in meinem Leben. Es ist eine Zeit des Umbruchs, ich spüre das ich unzufrieden bin. Seit fast sieben Jahren bin ich mit meiner Freundin Ute in einer wechselhaften Beziehung. Ende 1985 werde ich krank. Es geht abwärts. Ich fühle mich wie ein alter Opa, habe Schmerzen und liege wochenlang im Bett, weil mir jede Kraft fehlt. Mein Arzt murmelt etwas von einem Infekt, den mein Körper nicht abwehren kann. Mit Ute gab es wieder Streit, wir haben uns zwei Monate nicht gesprochen. Ich bin abgebrannt und es fehlen Kohlen, um die Bude zu heizen. Einen Tag vor Weihnachten liege ich frierend im Bett und sehe Tarkowskys Film “Der Spiegel”. Da ruft mich Ute an, wir reden zwei Stunden miteinander, wir beschließen wieder zusammen zu ziehen und es diesmal richtig zu machen. “The Full Monty”, in unserem Fall: wir werden heiraten. Es geht wieder aufwärts.
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Im Frühjahr 1986 drehen wir mit Herbert, Frank und vielen weiteren Freunden und Bekannten den Pilotfilm von “Bum Bum Peng Peng”. Wir leihen uns beim OKB eine Videokamera mit U-Matic-Porti aus, ein semiprofessionelles Format mit dreiviertel Zoll-Band, mit dem man sehr gute Ergebnisse erzielen konnte. Ein paar Jane-Beams mit Stativen besorgen wir uns, um die Szenenbilder auszuleuchten. Nachdem der 30 Minuten lange Beitrag im Kabelfernsehen gezeigt wird, bekommen wir gutes Feedback und ich schreibe eine erste Staffel “Bum Bum Peng Peng”, die aus drei Episoden bestehen soll.

Gleichzeitig bin ich auf Jobsuche. Den Minijob in einem Buchladen habe ich nach fünf Jahren verloren, nachdem ich einen etwas kleingeratenen Chef aus Wessiland “Gartenzwerg” nannte. Ich schreibe über 70 Bewerbungen, besonders interessiert mich etwas im öffentlichen Dienst. Es ist wie ein mehr oder weniger heiteres Beruferaten, ich frage mich bei jedem Angebot, wäre ich bereit diesen Job zu machen? Ehrlich müsste ich sagen, nee, nicht wirklich, aber ich bin in einer Zwangslage und langsam werde ich mürbe. Am Ende bewerbe ich mich für wirklich jeden Job. Zum ersten Mal denke ich an meine Rente, ohne Zusatzversicherung würde ich im Alter aufs Sozialamt gehen müssen. Ich trete zu Bewerbungsgesprächen an, aber ich passe in keine Schublade, die die Chefs, denen ich mich vorstelle, so im Kopf haben.
Am 1. Juni ist Drehbeginn für die Fortsetzung der Krimiserie. Der Stab und die Schauspieler haben sich freigenommen, alle werden ohne Gage arbeiten, ich will Regie führen. Eine Woche vorher bekomme ich Post von der Hochschule der Künste. (Heute UdK) Sie wollen mich unbefristet, in Vollzeit und im Schichtdienst als Pförtner beschäftigen. Der Gedanke als Pförtner zu arbeiten ist mir sehr unbehaglich. Ich tröste mich damit, das ich als Kartenabreißer auf Konzerten etwas ähnliches tat und das das Umfeld einer Kunstuni vielleicht ganz spannend ist.
Die Arbeit ist einfach, doch meine Sozialphobie macht mir zu schaffen. Unter den ausschließlich männlichen Berlinern, die meine Kollegen sind, bin ich ein unpassender Fremdkörper und das zeigt man mir auch. Zu allem Übel ist einer der Pförtner ein echter Nazi. Ein hochintelligenter Choleriker, anders als die stumpfen Nazi-Skins, die mir bisher über den Weg gelaufen sind. Schulz ist früher Kranführer gewesen, aber nachdem er betrunken aus seinem “Führer”-Häuschen gefallen ist, schwerbehindert. Obwohl der Mann fast täglich vor Studenten die Auschwitzlüge verbreitet, gilt er als unkündbar, wegen seiner kaputten Beine. Die linken Professoren, die ich anspreche, erklären mir sie könnten als Beamte nicht eingreifen, weil der Mann “Lohnempfänger” sei, was im Unijargon für Arbeiter steht.
Der Schichtdienst ist auch nicht ohne, bis Mitternacht arbeiten und zwei Tage danach um halb sechs morgens anfangen. Jede zweite Woche darf ich auch am Sonnabend antreten.
Durch die Arbeit kann ich bei den meisten Szenen nicht Regie führen, sogar in meiner Rolle als Eierkaiser werde ich gedoubelt. Frank übernimmt die Regie, macht das ganz ordentlich, aber vieles steht nicht im Script und was ich nur im Kopf habe, wird nicht umgesetzt.
Sechs Wochen später, am 10. Juli 1986 heiraten Ute und ich im Rathaus Schöneberg.
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In den nun folgenden zwei Jahren mache ich mehrere Dutzend Sendungen für den OKB. Ich bin in meinem Element, ich probiere Satire, Kabarett und auch ernsthafte Talkshows und Magazinsendungen aus. Mit Volker Hauptvogel drehe ich im Pinguin-Club eine Reihe Film-Clips, ich parodiere Kohl und verteidige mit Hitlerbärtchen Uwe Barschel*, den man eben tot in einem Genfer Luxushotel gefunden hat. Allerdings fühle ich mich nirgendwo mehr zu Hause, es gibt keinen Ort mehr an dem ich mich wohlfühle und an dem ich mich entspannen kann. Ich werde immer depressiver und gestresster, ich bin wohl doch nicht für die Ehe gemacht. 1988 ich ziehe aus und damit einen Schlussstrich.
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Wie so häufig im Leben liegen Tragik und Glück eng nebeneinander. Bei meiner Trauer über das Scheitern der Ehe, für das ich mir die Schuld gebe, bekomme ich ein Angebot. Nach steiler Abwärtsfahrt sehe ich wieder den Himmel. Nachdem ich immer davon geträumt habe, Film oder Fernsehen professionell zu betreiben, wohl wissend das meine formale Qualifikation dafür nicht ausreicht, fällt mir ein Angebot in den Schoß. Im Offenen Kanal Berlin, wo ich seit zwei Jahren als unbezahlter und ungerufener “Nutzer” Programme produziere, ist eine Stelle frei. Meine Freunde Anette und Frank, die beide dort festangestellt sind, berichten mir davon. Es geht um die Disposition, den Knotenpunkt im Sender, an dem sämtliche Produktionen und Sendungen terminiert werden und an dem neue Nutzer aufgenommen werden und ihre erste Beratung bekommen. Für die Nutzung braucht man nur gültige Papiere, andere Vorbedingungen gibt es nicht und außerdem ist alles kostenlos. Die Aufgabe diesen Sender zu organisieren und zu verwalten scheint mir ungeheuer reizvoll und ebenso gewaltig. Auffällig ist jedenfalls, dass es noch keinen Interessenten gibt, der den Job ernsthaft haben möchte.
Ich spreche mit Anette, die den OKB aufgebaut und geleitet hat, bis die Medienanstalt einen Leiter installiert hat. Sie erklärt mir die Aufgabe, weist darauf hin, dass es darum geht, bürokratische Normen umzusetzen und das es dabei keinerlei kreative Spielräume gibt. Sie signalisiert auch Vertrauen, dass ich die Aufgabe bewältigen könne, hat aber einen Vorbehalt. Als Freundin gibt sie zu Bedenken, ich könne meine Talente, das Schreiben, Spielen und das Inszenieren nicht mehr ausüben. Nicht im Job und auch nicht nebenbei, weil ich ersteinmal keine Zeit und Kraft hätte, etwas anderes zu machen. Und sie befürchtet, dass ich dabei Schaden nehmen könnte. Sie hatte Recht, ich nahm Schaden, nur dauerte es viele Jahre, bis ich es merkte. Und als ich es dann merkte, war es zu spät um das Ruder noch herum zu reissen. Ich hätte mir wohl nie verziehen, die Chance auszuschlagen, im Februar 1988 bewerbe ich mich um die Vollzeit-Stelle “Disposition OKB”.
Die Vorteile überwiegen in meinen Augen, mir schien die Stelle eine Art Traumjob zu sein. Allerdings war ich eher skeptisch, dass meine Bewerbung Erfolg haben würde. Normalerweise stellt der Sender studierte Kandidaten ein. Außerdem war meine berufliche Vita mehr oder weniger nicht existent, da ich zehn Jahre lang von Hilfsjobs und ein wenig Schreiberei gelebt hatte. Dazu kam, dass mir der neu installierte Leiter des OKB nicht gerade sympathisch war. Ich hielt J.L. sogar für eine absolute Fehlbesetzung.
Das erste Mal hatte ich J.L. Während der Funkausstellung 1987 bei einer Diskussion über die Zukunft des Berliner Bürgersenders beobachtet, in der er eine sehr schlechte Figur machte. Später wurde er zu einem aufrechten Lobbyisten für die Sache des Bürgerfunks, aber damals hielt ich ihn für fehl am Platz. Ich hätte es für fair und für die Zukunft des Senders am förderlichsten gehalten, wenn Anette Fleming Leiterin geworden wäre, die beim Aufbau des OKB einen tollen Job gemacht hatte. Zusammen mit dem OKB waren ja auch die “Havelwelle” und die “Kabelvision” gestartet, mit denen der OK anfänglich die Frequenz teilte. Da beide Projekte desaströs scheiterten, wurde dem OKB mit Wirkung am 1. Januar 1986 die Frequenz allein übertragen, ein Erfolg der vor allem der Leistung von Anette Fleming zu verdanken war. Doch Anette war nicht interessiert eine Leitungsaufgabe zu übernehmen, sie zog es vor im Kontakt mit der Basis zu bleiben. Ohnehin war es eine politische Entscheidung und die Politiker hatten ein bißchen Angst, vor der von ihnen geschaffenen Kreatur des “freien Zugangs zu Radio und Fernsehen”. Da sollte ein gestandener Verwaltungsmensch als Leiter allzu großer Freizügigkeit bürokratische Fesseln anlegen.
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Ich habe es vielleicht nie im Leben zu wahrer Virtuosität gebracht, egal worin. Vielleicht bin ich zu streng mit mir, aber Tatsache ist und war, dass ich oft sprunghaft von einem Metier ins nächste sprang, wo Ausdauer und Beharrlichkeit besser gewesen wären. In einem war ich allerdings immer groß, wenn es darauf ankam, konnte ich stets einen guten Eindruck hinterlassen. Also saß ich vor dem Leiter des OKB und machte aus meinem Leben eine Erfolgsgeschichte, die gerade dazu geschaffen war von einer Tätigkeit als Dispositeur des Berliner Bürgerfunks gekrönt zu werden. Es kam mir zugute, dass J.L. gern Leute engagierte, die ein wenig unterqualifiziert waren.
Tatsächlich bekam ich die Stelle. Es war mir ein Vergnügen, meinem großspurigen Hausmeister-Chef mitzuteilen, dass ich, als Pförtner des neoklassizistischen Baus in der Bundesallee, nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Ich wurde zwar gewarnt, an einem 15. März eine neue Stelle anzutreten. Ich war aber sicher, mir würden die “Iden des März” zum Glückstag werden, anders als für Julius Ceasar, der diesen seinen Unglückstag nicht überlebte.

Also begann ich am 16. März im Offenen Kanal Berlin zu arbeiten. Mit Dr. Bismarck von der Pilotgesellschaft für Kabelkommunikation hatte ich ausgemacht, dass ich für verbleibenden zwei Märzwochen pauschal 1000.- DM bekommen sollte. Ich bekam das schönste Büro, ein Eckbüro mit Sicht auf den Humboldt-Hain, schrieb Sendepläne und vergab Kameras, Schnittplätze, Hörfunk- und Fernseh-Studios. Welchen Sprung ich gemacht hatte, merkte ich als mich Burkhardt Seiler vom Zensor-Label besuchte. Sechs Jahre zuvor hatte ein Praktikum beim “Zensor”, in dessen legendären Plattenladen gemacht, ich stellte mich ziemlich blöd an, konnte kaum etwas und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Drei Jahre machte ich die Dispo für beide Sender, Hörfunk und Fernsehen. 1991 wechselte ich in den Produktions- und Sende-Betrieb.

Es war überwiegend so etwas wie ein Traumjob für mich, bis ich 2003 aus gesundheitlichen Gründen das Handtuch werfen musste. Die letzten zwei Jahre waren traurig, ich hatte ständig Rückenschmerzen, kämpfte mit Depressionen und hatte den Eindruck nicht mehr richtig schlafen zu können. Trotzdem hätte ich den Absprung allein nicht geschafft. Ich hatte das Glück an eine kluge Ärztin zu geraten, die mir den Ausstieg nahelegte. Schon lange merkte ich, dass meine Leistungsfähigkeit nachließ. Um mich zu motivieren gab mein Chef mir Aufgaben für die On-Air-Promotion des Senders. Ich durfte wieder on-air gehen, Interviews drehen. Ich bespielte eine Nachtsendeschiene, für “Werkschau” hatte ich über 80 Stunden Sendezeit pro Woche zu füllen. Mit meinem talentierten Kollegen Juan Aballé drehte ich einen schönen Trailer dafür. Juan hatte bei Kamera und Schnitt hervorragende Arbeit gemacht. Beim Screening klopften mir die Kollegen auf die Schulter, aber innen drin war ich unzufrieden mit meiner Leistung vor der Kamera. Ich merkte, mir fehlte Schwung, Leichtigkeit und Durchsetzungskraft. Im heißen Sommer 2003 war ich sieben Wochen in einer Reha-Klinik in Thüringen. Die Ärzte und Psychologen empfahlen eine Umschulung. Erneut spielte ich heiteres Beruferaten, diesmal mit meiner Reha-Beraterin, das Glücksrad blieb bei “Event Manager” stehen und ich lernte einen neuen Beruf. Ich konnte mich nicht bei meinen Kollegen vom OKB verabschieden. Ich brachte es nicht fertig, als “Gescheiterter” unter ihre Augen zu treten. Der Ausstieg war heftig für mich, ich habe jahrelang noch Albträume davon gehabt. Erst jetzt, zehn Jahre später, habe den nötigen Abstand, um diesen zweitschwersten Entschluss meines Lebens, schreibend zu verarbeiten.
Übrigens, den Offenen Kanal Berlin gibt es noch, er nennt sich jetzt Alex**, befindet sich aber immer noch im Wedding in der Voltastraße 5 und sendet im Kabelnetz. Einige meiner großartigen Kollegen arbeiten immer noch da, z.B. Karin, Mischka oder Frank. Andere ebenso feine Ex-Mitarbeiter haben es, wie ich, vorgezogen weiterzuziehen, wie etwa Anette, Dirk und Wobser, an dessen “Ausstieg” ich mich noch deutlich erinnere, obwohl er fast 20 Jahre her ist. Wobser machte Urlaub auf einer griechischen Insel, als ihn die Erkenntnis traf, er brauche Veränderung in seinem Leben. Er flog einfach nicht zurück, schlief eine zeitlang am Strand. Irgendwann lernte er eine englische Touristin kennen, verliebte sich und flog mit ihr nach Groß-Britannien, wo er immer noch glücklich lebt, allerdings mit einer anderen Frau.

Die Fortsetzung dieser Geschichte findet man hier:  http://wp.me/p3UMZB-1hR

“Nackte, Nazis, Nervensägen” erzählt von den skurrilen Nutzern des OKB und ihren schrägsten Sendungen und der merkwürdig verzerrten Wahrnehmung des Senders durch die Berliner Medien.

– Marcus Kluge –

Die Illustrationen sind teilweise der Studie “Mach dein eigenes Programm”, aus dem Jahre 1989, von Hans-Joachim Schulte entnommen.

*Meine “schrägste”, die Barschel-Sendung:
https://marcuskluge.wordpress.com/2014/02/24/er-tat-nur-seine-pflicht/

**Alex OKB:
http://www.alex-berlin.de/

Familienportrait – „Schwäne im Orwelljahr” / A Day in the Life 1984

Text: Marcus Kluge – Fotos: Cordula Lippke & Rainer Jacob

Tags: Orwell 1984, Michael Gira Swans, AFN-TV, Foto Kontaktabzüge, Realität Wiederbeschaffung

Das Jahr 1984 kam und man stellte fest, dass Orwells düstere Zukunftsvision noch nicht eingetreten war. Weder die totale Überwachung durch Big Brother, noch permanenter Weltkrieg waren Realität geworden. Doch es gab Anzeichen, dass beides noch kommen könnte. Immerhin sind die USA, Groß-Britannien und die Bundesrepublik Deutschland in stramm konservativer Hand, doch Reagan, Thatcher und Kohl bespaßen sich zunächst mit Sozialabbau und Aufrüstung.

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Seit sechs Jahren wohne ich in einer winzigen Einzimmerwohnung in der Rheinstraße. Sie ist billig, hat einen Kohleofen, kaltes Wasser und die Toilette ist auf halber Treppe im Treppenhaus. Unter mir ist Herbert eingezogen, wir machen zusammen das Fanzine Assasin, noch ist die West-Berliner Szene spannend. Wir bekommen aus aller Welt Kassetten und Platten zugeschickt, gehen auf Konzerte und schreiben darüber. Wir haben uns einen eigenen Mikrokosmos geschaffen, in dem Herbert „Dr. Dr. Dr. Beinhart Attraktiv“ und ich „Sherlock Preiswert“ bin. Ich frage mich ab und zu, wie lange ich dieses Leben noch führen will. Ende des Jahres werde ich 30, ich habe noch nie einen Fulltimejob gehabt.

Anhand des Kontaktsbogens von einem Ilford HP5-Schwarzweißfilm habe ich den 19. und den 20. Mai 1984 rekonstruiert. Natürlich konnte ich mich auch auf die Anhang dokumentierten Artikel stützen.

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Herbert

Normalerweise konnte ich mit Avantgarde- oder Industrial-Music nicht viel anfangen, „Filth“ allerdings, das erste Album der New Yorker Band „Swans“ begeisterte mich. Es fühlte sich an als würde ein Dinosaurier durch die ältesten Regionen meines Hirns stampfen. Die kraftvolle, langsame Musik brachte eine archaische Saite in mir zum Schwingen. Gern hätte ich mehr über die Band und die Ideen hinter der eigentümlichen Musik erfahren. In der deutschen Musikpresse wird „Filth“ verrissen( siehe Anhang). Als ich Filth im Café Mitropa spielen lasse, gibt mir der Barkeeper das Tape nach zwei Minuten zurück, es wäre „zu hart“.
Ein paar Tage vor dem ersten Berliner Konzert der Swans, am 17. Mai im Loft, rief ich Burkhardt Seiler an. Mein ehemaliger Schulfreund war inzwischen unter dem Namen „Zensor“ eine Institution der Independent Musikszene geworden und hatte „Filth“ in Lizenz veröffentlicht. Ich meldete mein Interesse für ein Interview mit der Band an und Burkhardt wollte sich darum kümmern. Zwei Tage später rief mich Michael Gira an, der Sänger und Sprecher der Band. Er fragte mich, ob wir eine 4-Spur-Tonbandmaschine hätten, auf der man einen „Loop“ herstellen könnten. Ein Tape mit Basismaterial war auf dem Weg nach Berlin verlorengegangen. Mit unserem Tonbandgerät produzierten wir sonst Hörspiele und die Kassettenausgaben von Assasin. Also kamen Norman Westberg und Michael Gira zu uns in die Rheinstr. 14. Michael sang, brüllte und gurgelte ins Mikrofon und daraus schnitt Norman kurze Endlosschleifen, die in halber Geschwindigkeit abgespielt wurden. Der Effekt war verblüffend, nun stampfte ein Dinosaurier durch Herberts Einzimmerwohnung. Die Musiker zogen zufrieden ab, wobei Norman sein Schweizer Offiziersmesser vergaß. Auch ich war zufrieden, Michael Gira hatte zugestimmt mir ein Exklusivinterview zu geben.

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Am Sonnabend, dem 19.Mai, kommt Michael mit seiner Freundin zu mir und beantwortet meine Fragen. Er präzisiert mein vages Gefühl, es gehe um Regression, wie zum Beispiel Töne, die ein Embryo im Mutterleib hört. Er spricht von „Musik für Amöben“, der Zuhörer soll ganz von seinem Verlangen und seinem Alltagsempfinden getrennt werden. Es wird ein langes, gutes Gespräch. (Siehe Anhang). Michaels Freundin sagt nichts, sie liest in Kerouacs „On The Road“, das sie in meinem Bücherregal gefunden hat. Cordula fotografiert alles und Herbert schneidet mit. Nach zwei Stunden, ich habe nur noch eine Frage, muss Michael unbedingt mit New York telefonieren. Das Telefonat dauert, ich schaue etwas frustiert, auch weil ich an meine Telefonrechnung denke.

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Als Michael und seine Freundin gehen, vergessen sie Normans Messer mitzunehmen. Wir machen verschiedene Versuche, das Messer zu seinem Besitzer in New York zurückzugeben, doch es klappt nicht. Wir beschließen auf das nächste Berlinkonzert der Swans zu warten. Es liegt an einem besonderen Platz in der Assasin-Redaktion und erinnert uns an die Dinge, die wir vergessen. Irgendwann wird es geklaut.

2015-11-14-0001 (3) Normans Messer

Ich veröffentliche einen begeisterten Text über die Swans im Assasin. Für die taz schreibe ich eine gemäßigte Fassung. Aber die wird nicht gedruckt, angeblich ist das Manuskript verlorengegangen. Auch eine Kopie brauche man nicht, das Thema wäre nun nicht mehr aktuell, heißt es.

Für den Tag nach dem Interview haben Herbert und ich einen Dauerfernsehmarathon geplant. Damals begann das deutsche TV-Programm um 9 Uhr und gegen Mitternacht war Sendeschluss. Nur das US-Soldatenfernsehen AFTV sendete länger, von 6 bis 1.15 Uhr. Mit einem 20-Stundenselbstversuch bereiteten Herbert und ich uns auf die mediale Zukunft vor.
Uns schwant, wenn 1985 das Privatfernsehen eingeführt und West-Berlin verkabelt würde, werde die Quantität der Programme stark ansteigen und die Qualität rapide fallen.

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Am Samstagabend koche ich noch Pilze für mich und Herbert und wir reden noch lange. Natürlich verschlafen wir, aber um 6.15 Uhr schalten wir meine kleine schwarzweiß-Glotze an und da es ein Sonntag ist, müssen wir diverse Gottesdienste über uns ergehen lassen. Kommerzielle Werbung gibt es zwar nicht, aber alle zehn Minuten unterbrechen Clips das Programm, die vor Übergewicht, Drogen oder Spionen warnen und die Ideale des „american-way-of-life“ feiern. Unsere Lieblingsspots sind die „Go out and see Berlin“-Einspieler. Offensichtlich gibt es einen internen Wettbewerb, welcher Kameramann die allerhässlichste Ecke West-Berlins ablichtet. Mir war vorher nie bewusst geworden, wie viele scheußliche Betonblumenkübel es in meiner Heimatstadt gibt.

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Gegen Mittag kommt Rainer um Beweisfotos zu schießen. Mein Bett, indem wir, dekadenterweise, unseren Selbstversuch durchführen, ist mit Tellern, Töpfen und Snackpackungen bedeckt. Wir brauchen wohl viel Energie um durchzuhalten. Gegen Ende wird der Dauerfernseh-Artikel (siehe Anhang), unter dem Einfluss US-amerikanischer Medienkultur, recht seltsam und kryptisch, um nicht zu sagen unintelligent.

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Insgesamt hatten wir den Eindruck, dass Dauerfernsehen ziemlich blöd macht. Ein Jahr später wurde in der ganzen Bundesrepublik Deutschland das Privatfernsehen eingeführt und mit dem Sendeschluss war ein für alle Mal Schluss.

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Der Hof Rheinstr. 14 (1978)

Eine Kassette und zwei Hefte produzieren wir noch, dann bin ich pleite und die West-Berliner Subkultur wird langweilig, zwischen beiden Tatsachen besteht allerdings kein ursächlicher Zusammenhang. Ende 1985 ziehe ich endgültig zu meiner Freundin und deren Tochter. 1986 beginne ich in der Hochschule für Künste als Pförtner zu arbeiten und wir heiraten. Die Hochzeitsparty findet im Hof der Rheinstr. 14 statt. Ein Jahr später wird das Gebäude abgerissen, ein Neubau mit Supermarkt entsteht stattdessen. Neben dem HdK-Job produziere ich Videofilme und TV-Sendungen für den Offenen Kanal Berlin. 1988 wird Fernsehen mein Hauptberuf, erst als Disponent, dann als Medienberater, arbeite ich 16 Jahre für den Sender, der sich heute ALEX nennt.

Anhang: Scans des Swans- und des AFTV-Artikels.

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Assasin-Website: http://www.assasin.in-berlin.de/

Familienportrait Teil 20 / “Mao, Kollektiv und Schulverweis” / 1968-70

Image  Der Autor 1969 (Augsburger Straße vor C&A)

 

 1968 lernte ich Burkhardt Seiler, der später als der Zensor bekannt werden sollte, in der Schule kennen. Burkhardt sprach mich auf meinen Mao-Badge an: “Ob ich denn überhaupt schon mal was von organisiertem Klassenkampf gehört hätte?” Hatte ich natürlich nicht. Ich trug das Ding nur, um zu provozieren.

Ich war 14 und schlug mich in Diskussionen meistens ganz ordentlich. Er war ein Jahr älter, seine Haare waren noch deutlich länger als meine und auch rethorisch hatte er mich bald übertrumpft. “Wer a sage, müsse auch b sagen”, war seine Argumentation und ein paar Tage später schleppte er mich mit zur Roten Garde, einer maoistischen Gruppe. Wir hatten damals keine Ahnung, was in China wirklich passierte, sonst hätten wir wohl Abstand gehalten.

Image  Kollektivmitglied

Ich ging eine Zeit lang zu einem Zirkel, der das Marxsche Manifest las, ich fand es ziemlich langweilig. Zwischenzeitlich war Burkhardt aus der Roten Garde geflogen, wegen anarchistischer Umtriebe, wie er mir etwas stolz berichtete. Wir hingen zusammen rum, ich habe sehr von seinem Wissen profitiert. Er kannte sich überall aus, auch über Underground-Kunst und -Musik, keine Ahnung, wo er sein enzyklopädisches Wissen her hatte. Er spielte mir MC5 vor, berichtete von Tuli Kupferberg und den Fugs, dozierte über französische Philosophen und rezitierte Allen Ginsberg.

Immer hatte er was vor, wusste von obskuren Konzerten und Vorträgen. Er nahm mich mit zur Kommune 1 in der Stephanstraße. An diesem Tag war S.F.Sorrow von den Pretty Things in Deutschland herausgekommen. Das Album lief laut, mehrere Fernseher liefen stumm und die Kommunarden lümmelten auf Matrazen rum. Ein oder zwei Frauen hatten obenrum nichts an, ich bemühte mich nicht hinzusehen. Mir war etwas peinlich, dass ich keine Jeans anhatte, sondern eine hellgraue Stoffhose, hier hatten alle Levis an, das galt tatsächlich noch als Zeichen der Rebellion.(sic)

An einem anderen Abend zeigte er mir das Zodiac Free Arts Lab. Der Klub befand sich im Haus der Schaubühne, die ja damals noch am Halleschen Ufer residierte. Ein Raum war weiß, der andere schwarz gestrichen, überall standen verschiedenste Instrumente, Verstärker und Boxen herum, die von den Gästen überwiegend frei genutzt werden konnten. Burkhardt wies mich auf eine Gestalt hin, einen unscheinbar aussehenden Mann mit einer alten Arzttasche. Diese Szenepersönlichkeit war unter dem Namen “Doktor” bekannt. 44 Jahre später wurde aus dem “Doktor” ein Charakter in meinem Roman “Xanadu ’73”.

Image   Andi 1969

Als wir dort waren, spielte eine Band psychedelischen Rock, das Licht bestand aus weißen Neonröhren und die Zuhörer bewegten sich in drogeninduzierter Trance zu den wilden Klängen. Burkhardt zeigte mir Konrad Schnitzler, einen der Gründer des Klubs, später sollte dieser mit Tangerine Dream deren erstes Album aufnehmen.

Image   Richard 1969

Wir fingen an eine größere Clique zu bilden, die wir nach Burkhardts Vorschlag “Kollektiv” nannten. Richard, Céline, Andi plus 2-3 weitere Mitglieder bildeten die Stammbesetzung. Wir trafen uns fast täglich meist bei Burkhardt, dessen Eltern in der Pfalzburger Straße wohnten oder bei Richard, dessen Vater in der Pariser Straße einen kleinen Uhrmacherladen hatte. Danach zogen wir durch Straßen und Parks, als eine Art Hippie-Schwadron und spielten Bürgerschreck. Wir experimentierten mit allem, was uns einfiel, unter anderem mit der Aufhebung des Privateigentums. Seitdem weiß ich, dass sowas nicht funktioniert.

Regelmäßig fielen wir im Republikanischen Klub ein, einem Verein den prominente Mitglieder der außerparlamentarischen Opposition, u.a.Wolfgang Neuss, Ossip. K. Flechtheim, Manfred Rexin und Hans Magnus Enzensberger, gegründet hatten. Wir diskutierten mit den APO-Mitgliedern, schnorrten Geld und Zigaretten. Wir testeten auch deren libertäre Attitüde aus, z.B. wenn wir uns einen Teller Spaghetti mit Tomatensoße teilten, veranstalteten wir jedesmal eine riesige Sauerei. Es war infantil, machte aber einen Heidenspaß. Meist wurden wir dann rausgeschmissen, aber am nächsten Tag durften wir wieder rein. Man war tolerant, oder gab sich wenigstens so.

In der Schule gerieten wir zunehmend ins Abseits.    Image   Bürgerschreck

Man muss bedenken, dass wir noch echte alte Nazis unter den Lehrern hatten und wir nahmen kein Blatt vor den Mund. Die Fronten waren irgendwann verhärtet, dazu kam noch ein Schülerstreik zu dem wir aufriefen. Wir protestierten gegen den Senat, der die Gelder für die Schule gekürzt hatte. Zehn Jahre später wären die Lehrer mit uns auf die Straße gegangen. Weil der Direktor den Haupteingang der Schule abschließen lies, holten wir die Mitschüler über einen Zaun, gingen demonstrieren und schwänzten den Unterricht.

Burkhardt, Richard, ich und andere wurden der Schule verwiesen. Mein Zeugnis hatte einen Vermerk, nachdem ich kein anderes Gymnasium in Berlin besuchen durfte. Ich wechselte notgedrungen auf eine Realschule. Nicht nur in der DDR wurde damals aus politischen Gründen die hochgepriesene Chancengleichheit verletzt.

 

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 Rauswurf

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Burkhardt 1983

Die Kollektivmitglieder zerstreuten sich, nur mit Andi und Richard blieb ich befreundet, wir hatten gemeinsam eine Band. Mit Andi blieb ich in losem Kontakt, bis zu dessen viel zu frühem Tod Ende der 90er Jahre. Dieser Link führt zu Andis Geschichte:

Berlinische Leben – “Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999

Burkhardt Seiler sah ich tatsächlich erst Anfang der 80er Jahre wieder, als er bereits der Zensor war. Richard traf ich bis in die 90er Jahre regelmäßig fast jeden Sommer, die Winter verbrachte er meist in Goa. Schon in den 80er Jahren sprachen wir von einem Buch, dass ich über ihn schreiben wollte. Damals ein chancenloses Projekt, denn mir fehlte fast alles, was man braucht um einen Roman zu verfassen. Dann verloren wir uns aus den Augen. 2014 begann ich meinen zweiten Roman “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Als Vorbild für den Helden Roberto diente mir mein alter Freund Richard. Sein Aussehen und Aspekte seiner Biografie flossen in die fiktive Figur Roberto, die im Roman eine fiktive Geschichte erlebt. Trotzdem musste ich Richard um sein Einverständnis bitten. Das Internet half mir und Richard freute sich über meinen Text und wir beide freuen uns, unsere Freundschaft erneuern zu können. Leider musste ich wegen der Crowdfunding-Kampagne für “Xanadu ’73” die Arbeit am Narrenhügel unterbrechen. Nun sind 14 Kapitel fertig (siehe unten), drei müssen noch geschrieben werden. Bis zum Jahresende hoffe ich “ENDE” in die Tastatur tippen zu können.

M.K.

Ein Hügel voller Narren: http://wp.me/P3UMZB-Sx

Berlinische Räume: “A Visit To Zensor” / Photographs from the famous record store taken in 1983

39874_1412566270603_4870059_n Early Zensor concert poster 1979 ( Thomas Pargmann Collection)
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I met Burkhardt Seiler in school in 1968, we became friends and had our share in the late 60s student revolt. Subsequently we were thrown out of school and I lost sight of Burkhardt.

I didn’t meet him again till June 1981, when I spotted him at the Venus Weltklang Festival at the Tempodrom. His formerly long hair was cropped short, it looked like he had done it himself without a mirror. He was wearing a dark-blue trenchcoat that gave him the looks of a young mormon missionary on his european tour.

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The store in backroom of the Blue Moon boutique

IMG_20130829_0005The Zensor

I visited him at his record store in Belziger Straße, which was already a wellknown institution, not only in West-Berlin. From there he also ran the Zensor Label. In 1982 I became his “student apprentice”, not really beeing a student and neither being much of an apprentice to him.

I told him about the fanzine I was planning to issue. He gave me advise and proposed to edit “Assasin” together with me. But then I realised a collaboration with Burkhardt would mean doing a Zensor fanzine and that wasn’t what I had in mind. I wanted to have control on my fanzine and do it my way although I expected I would fail. But I wanted to fail my way!

IMG_20130509_0001 Assasin “pilot issue”

I quit working for Zensor, found a job at a bookstore where I worked 16 hours a week making 500 Marks a month. I lived in a small flat which had no toilet, no warm water and a coalfired furnace. It became the editorial office und some friends became the staff. With the helps of Rainer Jacob, Cordula Lippke, Herbert Piechot and Andreas B. we realised a pilot issue in late 1982. Until 1985 we issued eight magazines and four audio-cassettes.

When I heard the Zensor was about to close his shop in autumn 1983 I went there with a photographer to do some last shots.

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On September 19th 1983 there was a bye-bye-concert for the beloved store at the LOFT organised by Monika Döring. But the legend lived on…

Two years ago Cordula met Burkhardt and she told me he’s happy in a relationship.

September 2013 I started a blog. Again Rainer Jacob became my art director. In july 2015 I issued my first novel “Xanadu ’73” with 13 illustrations by Rainer. Together with the book we released a new Assasin fanzine. We’re already planning a special “Punk In West-Berlin” issue. You can order book and zine by writing a mail to marcusklugeberlin@yahoo.de

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Above: the novel

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Above: cover and some pages from the new fanzine.

The book costs 13€ the fanzine is 5€. Order here: marcusklugeberlin@yahoo.de

Schnelle Schuhe – „Landei, aufgeschlagen.“ / von Cordula Lippke / aus der Reihe: Punk in West-Berlin Teil 4

Meinen kleinen Rückblick zum 2. Geburtstag des Blogs, beende ich mit einer Zeitreise ins Jahr 1977, als sich im Punk House am Lehniner Platz die West-Berliner Punkszene konstituierte. Meiner Freundin Cordula Lippke bin ich für diese unterhaltsam-authentische Zeitstudie sehr dankbar, zumal ich selbst erst später in diese Szene kam. Ich lernte Cordula beim Zensor kennen, für den sie arbeitete und dadurch quasi automatisch die West-Berliner Musiker und hier gastierende Künstler kennenlernte. Zu gern würde ich deshalb eine Fortsetzung von Cordulas Text lesen und ich weiß, dass es vielen Lesern ebenso geht. Sie wird auch kommen, die Fortsetzung, da bin ich sicher. Aber wie ich gestern feststellte, manches kann man nicht erzwingen: “You Can’t Hurry Love” und auch das Schöpferische ist eigensinnig, es kommt wenn es da ist. Aber erst einmal: Vorhang auf für einen Besuch im West-Berlin der 70er Jahre. M.K.

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Für meinen Sohn, der gerade 19 ist und seine Jugend an der XBox verschwendet.

1977 kam ich nach Berlin um Kunst zu studieren, eigentlich: Visuelle Kommunikation, der eben erst eingerichtete FB 4 der Hochschule der Künste (die seit 2002 Universität der Künste heißt). Meine Eltern hatten es für mich vorbereitet. Ich war schon zur Aufnahmeprüfung nach Berlin gereist, aus Bad Gandersheim, wo ich gerade mein Abitur bestanden und bei der Zeugnisausgabefeier meinen ersten Vollrausch erlebt hatte.

Berlin war mein Sehnsuchtsort aus vielen Gründen. Auch dieses Lied, das ich aus einem alten deutschen Spielfilm kannte, schwingt da mit:
“Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin … Da
gehörst du hin”* [„Der eiserne Gustav“ 1958].
Kurz zuvor war ich noch Bowie Fan gewesen. Bowie hatte mir zuerst meine Schwester im gemeinsamen Kinderzimmer vorgespielt: “There’s a starman waiting in the sky …” Das hatten wir 1972 im Chor gesungen.

1971 besuchten wir als Familie Berlin. Wir waren mit dem Flugzeug in Tempelhof gelandet, im Zoo und in Ost-Berlin gewesen und konnten einem Selbstmörder beim Nichtspringen vom Europa-Center zuschauen.
Ich hatte die Nase voll von den irritierten Blicken der Kleinstädter und Kurgäste, wenn meine roten oder blauschwarzen Haare, meine schrille selbstgeschneiderte Kleidung (eine Hommage an meine Oma Alwine, die immer alles selbst genäht hatte), ihr Weltbild störten. Im Frühjahr hatte ich die Aufnahmeprüfung an der HdK bestanden und war zum Studienbeginn mit Sack und Pack nach Berlin gezogen.

September 1977. In der Hochschule der Künste, im Konzertsaal, spielte Iggy Pop – das war mir wichtig! Er war ein Freund von David Bowie (wie wenig ich davon wusste, dass die Beiden kurz zuvor in Berlin gelebt hatten, wurde mir erst in diesem Jahr, 2014, in der grossen Bowie-Ausstellung bewusst). Ich bin allein zum Konzert gegangen, kannte ja noch Keinen in der großen Stadt, die ja noch eine halbe Stadt war und doch die größte Westdeutschlands, strictly West-Berlin.
Meine erste eigene Wohnung war eine recht teure möblierte Ein-Zimmer-Butze mit Aussenklo und ohne Bad in Neukölln (U-Bahnhof Grenzallee). Das war damals verbreitet in West-Berlin. Ich hatte mich bald daran gewöhnt ins Stadtbad zu gehen, um in einer der Kabinen ein Wannenbad zu nehmen. War auch gar nicht teuer.
Ja, ich war froh, von meiner Familie weg zu sein. “Das Dasein ist okay, aber Wegsein ist okayer!”, singt Funny van Dannen heute in mein Ohr. Die Familie hatte sich bald nach meinem Weggang aufgelöst (hinterrücks).
Bei mir in Berlin war Ausgehen angesagt, das war ja in Bad Gandersheim so gut wie unmöglich gewesen. Ich liess mich hierhin und dorthin treiben, was die Stadtmagazine eben so ankündigten (die taz war noch nicht gegründet, das zitty gerade erst) – ein Landei von 19 Jahren, auf der Suche nach dem Glück – und lernte viele seltsame Menschen kennen. Heute staune ich, dass mir trotz meiner grenzenlosen Naivität und Unerfahrenheit nicht mehr passiert ist als dieser Typ, den ich eigentlich meinen ersten Freund nennen müsste, wenn es nicht so peinlich wäre. Er hieß Harald und war heroin-abhängig, was mich als Fan von “The Velvet Underground” wahrscheinlich eher neugierig als vorsichtig machte, hatte ich doch bisher nur in Songtexten von dieser Droge gehört. Und das war Kunst, oder? Meine Drogen waren (und sind) Kaffee und Zigaretten. Selbst vom Alkohol wurde mir eher noch übel. Dieser Typ also hatte wunderbare lange blonde Locken und einen niedlichen süddeutschen Akzent. Die Hippiediskotheken, in die er mich ausführte, waren nicht ganz mein Geschmack. Ich hatte schon im Radio Punkmusik gehört (Niedersachsen war Einzugsgebiet vom BFBS, British Forces Broadcasting Service, wo auch John Peel sendete).
Eine neue Bekanntschaft empfand mein geringschätziges Naserümpfen über die üblichen Kneipen als Herausforderung und zeigte mir den neuesten Schuppen am Lehniner Platz: das Punk House. Von diesem Tag an war ich dort Stammgast, fuhr jeden Abend (das Nachtleben begann damals noch vor Mitternacht) mit dem 29er Bus vom Hermannplatz den Kudamm rauf. Ich hatte meine neue Heimat und viele Freunde gefunden, die zusammen mit mir das Punk-Sein in Deutschland gerade erst entwickelten. So kam es mir vor. Das war mein Ding. “Don’t know what I want but I know how to get it”. Jeder konnte so sein wie er wollte. Keine Vorschriften, keine Vorurteile. Nur Hippie durfte man nicht sein. Klar, dass ich mich von Harald trennen musste. Zum Abschied klaute er mir die paar Wertgegenstände, die mein möbliertes Zimmer hergab. Schmerzlich vermisste ich nur die Spiegelreflexkamera. Ich hatte meine erste Großstadtlektion gelernt, seitdem war ich Heroin-Usern gegenüber misstrauisch. Eine neue Kamera sollte ich erst drei Jahre später wieder bekommen, als mein irischer Freund mir eine aus einem Fotogeschäft klaute.

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Aber das alles war jetzt nicht wichtig. Genauso wenig wie mein Studium. Das Nachtleben hatte mich voll im Griff und es war absolut erfüllend. “The Talking Heads” und viele andere Bands spielten live im Punk House, wo die Bühne nur ein abgeteiltes Stück Tanzfläche war, Auge in Auge mit den Fans, manche Musiker blieben hinterher noch ein Weilchen da. Wildes Pogo tanzen, sich vor Begeisterung gegenseitig mit Bier überschütten und ab und zu am Flipper austoben, solche Sachen waren jetzt wichtig. Ich lernte dort Nina Hagen kennen und schüttelte Rio Reiser die Hand.
Wie lange gab es das Punk House? Ich weiss es nicht. [Wolfgang Müller in „Subkultur Westberlin 1979-1989“ erzählt davon: „Im Sommer 1977 eröffnet das Funkhouse am Kurfürstendamm. Westberlin – Funky Town? Ein kapitaler Flop. Das Lokal läuft schlecht. Der Inhaber erkennt die Zeichen der Zeit. Eine kleine Buchstabenauswechslung hat große Folgen: Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse. Und dieses Punkhouse entwickelt sich nun zum ersten Treffpunkt einer gerade erst im Entstehen begriffenen Westberliner Punkszene.“ ] Wenn ich die Vielfalt der Erlebnisse und der Konzerte dort addiere, komme ich auf gefühlte zehn Jahre. Es war aber wohl nur etwas mehr als ein Jahr.

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Das Silvester zum Jahr 1978 erlebte ich schon mit meiner ersten Band, “DinA4”, die Mädchenband ohne Auftritte, aber mit Proberaum, den uns Blixa Bargeld in einem Keller in der Sponholzstrasse, Friedenau, besorgt hatte. Wir hatten uns im Punk House an der Theke kennengelernt und zusammengetan, Birgit, Barbara, Gudrun und ich. Wir entschieden uns für unsere Instrumente nach Gutdünken und Laune, denn Können war kein Kriterium. Silvester feierten wir in Gudruns Schöneberger Wohnung mit vielen Freunden und einem genialen Buffet voller Speisen, die mit Lebensmittelfarbe ihren ursprünglichen Charakter verlieren sollten: grüne Buletten, blauer Vanillepudding, sowas alles. Dazu mein erster LSD-Trip, eher unspektakulär.
Für mich war und ist Silvester allein schon ein Trip und dieses Feuerwerk über dem Wartburgplatz war einfach großartig. Ein paar Hippies waren auch da (aus Flensburg und Köln oder so), sie waren Musiker und hatten uns damit Einiges voraus. Sie waren okay, obwohl wir uns als Punks gern von den Hippies abgrenzten. Sie verhalfen uns später, als “Din A Testbild”, immerhin zum ersten richtigen Auftritt: 13. August 1978, Mauergeburtstag. Süße sechzehn Jahre Mauer wurden mit einer Torte gefeiert, die die
Berliner Punkband “PVC” von der Bühne herunter verteilte. Lecker! Ich glaube, es war schon eine gewisse Dankbarkeit für diesen Schutzwall vorhanden, der uns das besondere, zulagengeförderte, wehrdienstbefreite, West-Berliner Punkleben ermöglichte.

Beim Mauerfestival 1978 lernten wir die Düsseldorfer/Solinger Szene kennen. Musiker übernachteten bei uns und diese neuen Verbindungen brachten schöne Transitreisen mit sich. Wir spielten und tanzten im Ratinger Hof und in Hamburg. Ich erinnere mich heute nicht gut an die Einzelheiten. Liebesdinge spielten eine Rolle, Drogen natürlich und das, was wir definitiv nicht Rock’n’Roll nannten.
Zu der Zeit war ich bereits länger beim Plattenladen Zensor quasi “angestellt” um die Buchhaltung zu machen. Das brachte es mit sich, dass ich in Berlin alle Konzerte, die mich irgendwie interessierten, umsonst besuchen konnte. Ich bin gerade dabei eine Liste zu erstellen und die Länge, die Menge haut mich selbst um. Da wundert es mich nicht mehr, dass ich bald mein Studium geschmisssen habe. Das Leben war doch zu schön. Ich wollte es mir nicht von obskuren Aufgaben verderben lassen, die keinen Spaß machten und deren Sinn ich nicht erkennen konnte. Inzwischen wohnte ich auch in der Wartburgstrasse (Schöneberg), Parterre. Die Küche war schwarz lackiert, das Schlafzimmer bonbonfarben und das Wohnzimmer grün und blau, wie ich es heute noch schön finde. Der Vermieter regte sich fürchterlich auf und schrieb Briefe an meine Eltern und meine Hochschule. Das amüsierte mich. Es gab ein Klo in der Wohnung! Zum Baden ins Stadtbad gehen war kein Problem. Ein Problem war der Kohleofen, der sich meinen Heizkünsten fast immer verweigerte. Als ich, zu Silvester 1978/79, vom Weihnachtsbesuch bei der Familie in Westdeutschland zurückkam, hatte ich Glatteis im Flur. Es war der legendäre Schneewinter, (in Schneewehen steckengebliebene Züge, ausgefallene Heizung, Fahrgäste, die miteinander die letzten Rotweinreserven teilten). Ich kroch mit dicken Wollpullovern unter die Bettdecke. Die Silvesterparty im Übungsraum konnte ich eh nicht mehr erreichen. Am nächsten Tag erfuhr ich, wer alles in welche Ecke gekotzt hatte.

Der Zensor war ganz in der Nähe, Belziger Str. 23. Burkhardt freute sich, dass ich mich mit seiner elenden Zettelwirtschaft und den Anforderungen des Steuerberaters beschäftigen wollte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Geld verdienen und mochte es, zwischen den Schallplatten (hatte doch selbst schon eine ansehnliche Sammlung zu Hause in den Obstkisten) und ihren Liebhabern zu arbeiten. Die vorderen Ladenräume gehörten dem Blue Moon, einem Rockabilly-Klamottenladen.

– wird fortgesetzt –

*”Du bist verrückt
Mein Kind
Du musst nach Berlin!
Wo die Verrückten sind

Da gehörst du hin!

Du bist verrückt
Mein Kind

Du musst nach Plötzensee.
Wo die Verrückten sind
Am grünen Strand der Spree!”

Berliner Volkslied. Die Melodie ist ein Marsch aus der selten gespielten und ersten abendfüllenden Operette “Fatinitza” (1876) von Franz von Suppé. Der Marsch ist im Libretto nicht textiert, die Worte hat der Berliner Volksmund hinzugefügt.

Editorial – “Beliebte Beiträge” / Link-Sammlung

Halbmensch

Berlinische Leben – “Deutschland Deutschland alles ist vorbei” / Ein Hügel voller Narren – Kapitel Zwei / von Marcus Kluge / 1981
Familienportrait – Bunte Kindheit / Fotos aus den Jahren 1955-60
Berlinische Leben – „Halber Mensch“ / Die Poesie des Unfertigen / 9.11.1989
Familienportrait – Sag mir wo die Blumen sind / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / 3. und letztes Kapitel / 1961-2014
Berlinische Leben – “Fünfziger Jahre Stadtbummel” / West-Berlin Fotos
Berlinische Leben – “Hinter der grünen Tür” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Fünf / von Marcus Kluge / Oktober 1981
Familienportrait – Die Autos meiner Kindheit / 1954-66
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Berlinische Leben – “Nach Berlin im Schweinejahr” / aus dem Roman “Fleischer” von Volker Hauptvogel / Teil 1 / 1975
Berlinische Leben – “Hauptsache Berlin” / Von H.P. Daniels
Familienportrait – Tante Lotte und Onkel Paul / Ein Preuße, Polizist, Fotograf und sein tragisches Ende (1933-46)
Berlinische Räume – “A Visit To Zensor” / Photographs from the famous record store taken in 1983
Familienportrait – Party Like It’s Nineteen-Fortynine
Berlinische Leben – “Easy Andi Solo Gitarre” / Portrait einer Freundschaft / 1969-1999
Berlinische Räume – “Pestalozzistraße möbliert” / von Cornelia Grosch / 1972-73
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Schnelle Schuhe – „Landei, aufgeschlagen.“ / von Cordula Lippke / aus der Reihe: Punk in West-Berlin Teil 4– Illustration: “Halber Mensch” von Rainer Jacob

Schnelle Schuhe – „Landei, aufgeschlagen.“ / von Cordula Lippke / aus der Reihe: Punk in West-Berlin Teil 4

Für meinen Sohn, der gerade 19 ist und seine Jugend an der XBox verschwendet.

1977 kam ich nach Berlin um Kunst zu studieren, eigentlich: Visuelle Kommunikation, der eben erst eingerichtete FB 4 der Hochschule der Künste (die seit 2002 Universität der Künste heißt). Meine Eltern hatten es für mich vorbereitet. Ich war schon zur Aufnahmeprüfung nach Berlin gereist, aus Bad Gandersheim, wo ich gerade mein Abitur bestanden und bei der Zeugnisausgabefeier meinen ersten Vollrausch erlebt hatte.

Berlin war mein Sehnsuchtsort aus vielen Gründen. Auch dieses Lied, das ich aus einem alten deutschen Spielfilm kannte, schwingt da mit:
“Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin … Da
gehörst du hin”* [„Der eiserne Gustav“ 1958].
Kurz zuvor war ich noch Bowie Fan gewesen. Bowie hatte mir zuerst meine Schwester im gemeinsamen Kinderzimmer vorgespielt: “There’s a starman waiting in the sky …” Das hatten wir 1972 im Chor gesungen.

1971 besuchten wir als Familie Berlin. Wir waren mit dem Flugzeug in Tempelhof gelandet, im Zoo und in Ost-Berlin gewesen und konnten einem Selbstmörder beim Nichtspringen vom Europa-Center zuschauen.
Ich hatte die Nase voll von den irritierten Blicken der Kleinstädter und Kurgäste, wenn meine roten oder blauschwarzen Haare, meine schrille selbstgeschneiderte Kleidung (eine Hommage an meine Oma Alwine, die immer alles selbst genäht hatte), ihr Weltbild störten. Im Frühjahr hatte ich die Aufnahmeprüfung an der HdK bestanden und war zum Studienbeginn mit Sack und Pack nach Berlin gezogen.

September 1977. In der Hochschule der Künste, im Konzertsaal, spielte Iggy Pop – das war mir wichtig! Er war ein Freund von David Bowie (wie wenig ich davon wusste, dass die Beiden kurz zuvor in Berlin gelebt hatten, wurde mir erst in diesem Jahr, 2014, in der grossen Bowie-Ausstellung bewusst). Ich bin allein zum Konzert gegangen, kannte ja noch Keinen in der großen Stadt, die ja noch eine halbe Stadt war und doch die größte Westdeutschlands, strictly West-Berlin.
Meine erste eigene Wohnung war eine recht teure möblierte Ein-Zimmer-Butze mit Aussenklo und ohne Bad in Neukölln (U-Bahnhof Grenzallee). Das war damals verbreitet in West-Berlin. Ich hatte mich bald daran gewöhnt ins Stadtbad zu gehen, um in einer der Kabinen ein Wannenbad zu nehmen. War auch gar nicht teuer.
Ja, ich war froh, von meiner Familie weg zu sein. “Das Dasein ist okay, aber Wegsein ist okayer!”, singt Funny van Dannen heute in mein Ohr. Die Familie hatte sich bald nach meinem Weggang aufgelöst (hinterrücks).
Bei mir in Berlin war Ausgehen angesagt, das war ja in Bad Gandersheim so gut wie unmöglich gewesen. Ich liess mich hierhin und dorthin treiben, was die Stadtmagazine eben so ankündigten (die taz war noch nicht gegründet, das zitty gerade erst) – ein Landei von 19 Jahren, auf der Suche nach dem Glück – und lernte viele seltsame Menschen kennen. Heute staune ich, dass mir trotz meiner grenzenlosen Naivität und Unerfahrenheit nicht mehr passiert ist als dieser Typ, den ich eigentlich meinen ersten Freund nennen müsste, wenn es nicht so peinlich wäre. Er hieß Harald und war heroin-abhängig, was mich als Fan von “The Velvet Underground” wahrscheinlich eher neugierig als vorsichtig machte, hatte ich doch bisher nur in Songtexten von dieser Droge gehört. Und das war Kunst, oder? Meine Drogen waren (und sind) Kaffee und Zigaretten. Selbst vom Alkohol wurde mir eher noch übel. Dieser Typ also hatte wunderbare lange blonde Locken und einen niedlichen süddeutschen Akzent. Die Hippiediskotheken, in die er mich ausführte, waren nicht ganz mein Geschmack. Ich hatte schon im Radio Punkmusik gehört (Niedersachsen war Einzugsgebiet vom BFBS, British Forces Broadcasting Service, wo auch John Peel sendete).
Eine neue Bekanntschaft empfand mein geringschätziges Naserümpfen über die üblichen Kneipen als Herausforderung und zeigte mir den neuesten Schuppen am Lehniner Platz: das Punk House. Von diesem Tag an war ich dort Stammgast, fuhr jeden Abend (das Nachtleben begann damals noch vor Mitternacht) mit dem 29er Bus vom Hermannplatz den Kudamm rauf. Ich hatte meine neue Heimat und viele Freunde gefunden, die zusammen mit mir das Punk-Sein in Deutschland gerade erst entwickelten. So kam es mir vor. Das war mein Ding. “Don’t know what I want but I know how to get it”. Jeder konnte so sein wie er wollte. Keine Vorschriften, keine Vorurteile. Nur Hippie durfte man nicht sein. Klar, dass ich mich von Harald trennen musste. Zum Abschied klaute er mir die paar Wertgegenstände, die mein möbliertes Zimmer hergab. Schmerzlich vermisste ich nur die Spiegelreflexkamera. Ich hatte meine erste Großstadtlektion gelernt, seitdem war ich Heroin-Usern gegenüber misstrauisch. Eine neue Kamera sollte ich erst drei Jahre später wieder bekommen, als mein irischer Freund mir eine aus einem Fotogeschäft klaute.

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Aber das alles war jetzt nicht wichtig. Genauso wenig wie mein Studium. Das Nachtleben hatte mich voll im Griff und es war absolut erfüllend. “The Talking Heads” und viele andere Bands spielten live im Punk House, wo die Bühne nur ein abgeteiltes Stück Tanzfläche war, Auge in Auge mit den Fans, manche Musiker blieben hinterher noch ein Weilchen da. Wildes Pogo tanzen, sich vor Begeisterung gegenseitig mit Bier überschütten und ab und zu am Flipper austoben, solche Sachen waren jetzt wichtig. Ich lernte dort Nina Hagen kennen und schüttelte Rio Reiser die Hand.
Wie lange gab es das Punk House? Ich weiss es nicht. [Wolfgang Müller in „Subkultur Westberlin 1979-1989“ erzählt davon: „Im Sommer 1977 eröffnet das Funkhouse am Kurfürstendamm. Westberlin – Funky Town? Ein kapitaler Flop. Das Lokal läuft schlecht. Der Inhaber erkennt die Zeichen der Zeit. Eine kleine Buchstabenauswechslung hat große Folgen: Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse. Und dieses Punkhouse entwickelt sich nun zum ersten Treffpunkt einer gerade erst im Entstehen begriffenen Westberliner Punkszene.“ ] Wenn ich die Vielfalt der Erlebnisse und der Konzerte dort addiere, komme ich auf gefühlte zehn Jahre. Es war aber wohl nur etwas mehr als ein Jahr.

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Das Silvester zum Jahr 1978 erlebte ich schon mit meiner ersten Band, “DinA4”, die Mädchenband ohne Auftritte, aber mit Proberaum, den uns Blixa Bargeld in einem Keller in der Sponholzstrasse, Friedenau, besorgt hatte. Wir hatten uns im Punk House an der Theke kennengelernt und zusammengetan, Birgit, Barbara, Gudrun und ich. Wir entschieden uns für unsere Instrumente nach Gutdünken und Laune, denn Können war kein Kriterium. Silvester feierten wir in Gudruns Schöneberger Wohnung mit vielen Freunden und einem genialen Buffet voller Speisen, die mit Lebensmittelfarbe ihren ursprünglichen Charakter verlieren sollten: grüne Buletten, blauer Vanillepudding, sowas alles. Dazu mein erster LSD-Trip, eher unspektakulär.
Für mich war und ist Silvester allein schon ein Trip und dieses Feuerwerk über dem Wartburgplatz war einfach großartig. Ein paar Hippies waren auch da (aus Flensburg und Köln oder so), sie waren Musiker und hatten uns damit Einiges voraus. Sie waren okay, obwohl wir uns als Punks gern von den Hippies abgrenzten. Sie verhalfen uns später, als “Din A Testbild”, immerhin zum ersten richtigen Auftritt: 13. August 1978, Mauergeburtstag. Süße sechzehn Jahre Mauer wurden mit einer Torte gefeiert, die die
Berliner Punkband “PVC” von der Bühne herunter verteilte. Lecker! Ich glaube, es war schon eine gewisse Dankbarkeit für diesen Schutzwall vorhanden, der uns das besondere, zulagengeförderte, wehrdienstbefreite, West-Berliner Punkleben ermöglichte.

Beim Mauerfestival 1978 lernten wir die Düsseldorfer/Solinger Szene kennen. Musiker übernachteten bei uns und diese neuen Verbindungen brachten schöne Transitreisen mit sich. Wir spielten und tanzten im Ratinger Hof und in Hamburg. Ich erinnere mich heute nicht gut an die Einzelheiten. Liebesdinge spielten eine Rolle, Drogen natürlich und das, was wir definitiv nicht Rock’n’Roll nannten.
Zu der Zeit war ich bereits länger beim Plattenladen Zensor quasi “angestellt” um die Buchhaltung zu machen. Das brachte es mit sich, dass ich in Berlin alle Konzerte, die mich irgendwie interessierten, umsonst besuchen konnte. Ich bin gerade dabei eine Liste zu erstellen und die Länge, die Menge haut mich selbst um. Da wundert es mich nicht mehr, dass ich bald mein Studium geschmisssen habe. Das Leben war doch zu schön. Ich wollte es mir nicht von obskuren Aufgaben verderben lassen, die keinen Spaß machten und deren Sinn ich nicht erkennen konnte. Inzwischen wohnte ich auch in der Wartburgstrasse (Schöneberg), Parterre. Die Küche war schwarz lackiert, das Schlafzimmer bonbonfarben und das Wohnzimmer grün und blau, wie ich es heute noch schön finde. Der Vermieter regte sich fürchterlich auf und schrieb Briefe an meine Eltern und meine Hochschule. Das amüsierte mich. Es gab ein Klo in der Wohnung! Zum Baden ins Stadtbad gehen war kein Problem. Ein Problem war der Kohleofen, der sich meinen Heizkünsten fast immer verweigerte. Als ich, zu Silvester 1978/79, vom Weihnachtsbesuch bei der Familie in Westdeutschland zurückkam, hatte ich Glatteis im Flur. Es war der legendäre Schneewinter, (in Schneewehen steckengebliebene Züge, ausgefallene Heizung, Fahrgäste, die miteinander die letzten Rotweinreserven teilten). Ich kroch mit dicken Wollpullovern unter die Bettdecke. Die Silvesterparty im Übungsraum konnte ich eh nicht mehr erreichen. Am nächsten Tag erfuhr ich, wer alles in welche Ecke gekotzt hatte.

Der Zensor war ganz in der Nähe, Belziger Str. 23. Burkhardt freute sich, dass ich mich mit seiner elenden Zettelwirtschaft und den Anforderungen des Steuerberaters beschäftigen wollte. Ich wollte einfach nur ein bisschen Geld verdienen und mochte es, zwischen den Schallplatten (hatte doch selbst schon eine ansehnliche Sammlung zu Hause in den Obstkisten) und ihren Liebhabern zu arbeiten. Die vorderen Ladenräume gehörten dem Blue Moon, einem Rockabilly-Klamottenladen.

– wird fortgesetzt –

*”Du bist verrückt
Mein Kind
Du musst nach Berlin!
Wo die Verrückten sind

Da gehörst du hin!

Du bist verrückt
Mein Kind

Du musst nach Plötzensee.
Wo die Verrückten sind
Am grünen Strand der Spree!”

Berliner Volkslied. Die Melodie ist ein Marsch aus der selten gespielten und ersten abendfüllenden Operette “Fatinitza” (1876) von Franz von Suppé. Der Marsch ist im Libretto nicht textiert, die Worte hat der Berliner Volksmund hinzugefügt.

Editorial – „Sechzig Null“ / Ein Toast und ein Text

(Foto: Ingrid Johnson)

“Life’s but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage, and then is heard no more. It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.” William Shakespeare, Macbeth

Mögen wir an Werktagen das Leben häufig so sehen, wie Shakespeare in dem grimmigen Zitat, welches ich als Motto gewählt habe.

An Sonntagen und Feiertagen ist unsere Sicht versöhnlicher, wir sehen Sinn in unserer Existenz, selbst wenn es nur das Leben ist, an dem wir hängen und das uns Sinn genug sein mag.
Ich arbeite nur noch, was ich mir selbst auftrage, jeder Tag ist Werk- und Sonntag zugleich für mich. Ich versuche dem Lärm und Zorn des schlechten Schauspielers namens “Leben” Bedeutung abzugewinnen, mit wechselndem, aber merklichen Erfolg. Dass ich wieder schreiben darf und Leser finde, stimmt mich wohl milde, die Selbstzweifel bleiben vertraute Begleitmusik, manchmal verstummen sie sogar.

“Something wicked” kreuzt früher oder später ohnehin unseren Weg, also lasst uns an Feiertagen das Leben als magisches Schattenspiel betrachten und darauf trinken.

Aus Anlass des runden Geburtstages reblogge ich einen Text, der das Auf und Ab unserer “einzigen Stunde” hier unten, an meinem Beispiel illustriert. Tatsächlich der einzige Text, in dem ich mich an mein gesamtes Berufsleben, vom Schulverweis 1970 bis zum Sender-Ausstieg 2003, erinnere.

Berlinische Leben – “Achterbahn und heiteres Beruferaten” / von Marcus Kluge

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1985 hält die mediale Zukunft Einzug in West-Berlin, ein sogenanntes Kabelpilotprojekt wird gestartet. Das ich Teil davon sein werde, kann ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Ich bin 30 und hatte noch nie eine “richtige” Arbeit, also nie fulltime gearbeitet und nie rentenversichert, Ich hatte mich mit Aushilfsjobs durchgeschlagen, nachdem ich Anfang 1970 vom Gymnasium verwiesen wurde, weil man Härte gegen einen politischen Rädelsführer demonstrieren wollte. Ich war bei weitem nicht der Einzige, beispielsweise meinem Schulfreund Burkhardt, dem späteren “Zensor” ging es genauso. Der rappelte sich wieder auf, er begann selbstgemachte Kerzen am Kudamm zu verkaufen und erfand sich dann “Plattenguru” neu. Ich war nicht so flexibel. Ohne Abi und Studium machte eine Karriere keinen Sinn für mich. Ich war auch irgendwie eingeschnappt oder blockiert. Ich versuchte es probeweise als Tankwart, Babysitter, Altenpfleger, Werbetexter, Verkäufer und Journalist, ohne das mir dieses “Was bin ich?”-Spiel Spaß machte und ohne überzeugenden Erfolg in einer dieser Professionen.

1985, zwei Tage vor Beginn der Funkausstellung wird am 28. September in 218000 Haushalten ein zusätzliches Angebot, bestehend aus 12 TV-Sendern freigeschaltet. Neben öffentlich-rechtlichen Sendern, wie WDR oder dem Bayerischen Fernsehen sind erstmals auch private Sender am Start, allen voran RTLplus und SAT.1. Ich ahne nichts Gutes, besonders was die Privaten angeht. Außerdem will man in Berlin einen frei zugänglichen Bürgersender ausprobieren, den Offenen Kanal Berlin. Dieses “demokratische Feigenblatt”, so sehen es Medienkritiker, wird mein Leben für fast zwei Jahrzehnte verändern und bestimmen.

Am 28. August 1985 wird auch der Offene Kanal Berlin eröffnet und etwas später macht mich Frank darauf aufmerksam, dass man dort Produktionsmittel für Videoprojekte kostenlos ausleihen kann. Einzige Bedingung ist, die fertigen Produktionen auch dort ausstrahlen zu lassen. Damals gab es außer Super8, was mich nie gereizt hat, noch keine preiswerten Kameras. Videocamcorder waren für Amateure kaum bezahlbar, so das diese Möglichkeit mich sofort begeisterte. Und da wir mit einem Fernsehsender kooperieren wollten, erschien es mir logisch auch ein Fernsehformat zu schreiben. Mit Herbert zusammen hatten wir ja schon in unseren Hörspielen das Detektivthema aufgegriffen. Mein Pseudonym Sherlock war ja kein Zufall. Also beginnen Herbert und ich eine Detektivserie zu schreiben, eine wüste, anarchische Parodie. “Bum Bum Peng Peng” handelt von einem eingebildeten Detektiv namens Bernhard Bernhard und seinem kindischen, tennisverrückten Assistenten Bum Bum Boris. Die Rolle des Bösewichts schreibe ich mir selbst auf den Leib, sie heißt Hendrik Marinus van Loon, der “Eierkaiser”. Es war die Zeit der Lebensmittelskandale, Birkels hochgeschätzte Eiernudeln waren eben wegen verseuchtem Flüssigei ins Gerede gekommen. Meine Gehilfen, “Cash & Carry”, werden von einem befreundeten, schwergewichtigem Biker und dem Musiker und Hörspielautor Caspar Abocab verkörpert.

Auch sonst tut sich etwas in meinem Leben. Es ist eine Zeit des Umbruchs, ich spüre das ich unzufrieden bin. Seit fast sieben Jahren bin ich mit meiner Freundin Ute in einer wechselhaften Beziehung. Ende 1985 werde ich krank. Es geht abwärts. Ich fühle mich wie ein alter Opa, habe Schmerzen und liege wochenlang im Bett, weil mir jede Kraft fehlt. Mein Arzt murmelt etwas von einem Infekt, den mein Körper nicht abwehren kann. Mit Ute gab es wieder Streit, wir haben uns zwei Monate nicht gesprochen. Ich bin abgebrannt und es fehlen Kohlen, um die Bude zu heizen. Einen Tag vor Weihnachten liege ich frierend im Bett und sehe Tarkowskys Film “Der Spiegel”. Da ruft mich Ute an, wir reden zwei Stunden miteinander, wir beschließen wieder zusammen zu ziehen und es diesmal richtig zu machen. “The Full Monty”, in unserem Fall: wir werden heiraten. Es geht wieder aufwärts.
IMG_20140808_0003 (Um die Bilder größer zu sehen, einfach daraufklicken)

Im Frühjahr 1986 drehen wir mit Herbert, Frank und vielen weiteren Freunden und Bekannten den Pilotfilm von “Bum Bum Peng Peng”. Wir leihen uns beim OKB eine Videokamera mit U-Matic-Porti aus, ein semiprofessionelles Format mit dreiviertel Zoll-Band, mit dem man sehr gute Ergebnisse erzielen konnte. Ein paar Jane-Beams mit Stativen besorgen wir uns, um die Szenenbilder auszuleuchten. Nachdem der 30 Minuten lange Beitrag im Kabelfernsehen gezeigt wird, bekommen wir gutes Feedback und ich schreibe eine erste Staffel “Bum Bum Peng Peng”, die aus drei Episoden bestehen soll.

Gleichzeitig bin ich auf Jobsuche. Den Minijob in einem Buchladen habe ich nach fünf Jahren verloren, nachdem ich einen etwas kleingeratenen Chef aus Wessiland “Gartenzwerg” nannte. Ich schreibe über 70 Bewerbungen, besonders interessiert mich etwas im öffentlichen Dienst. Es ist wie ein mehr oder weniger heiteres Beruferaten, ich frage mich bei jedem Angebot, wäre ich bereit diesen Job zu machen? Ehrlich müsste ich sagen, nee, nicht wirklich, aber ich bin in einer Zwangslage und langsam werde ich mürbe. Am Ende bewerbe ich mich für wirklich jeden Job. Zum ersten Mal denke ich an meine Rente, ohne Zusatzversicherung würde ich im Alter aufs Sozialamt gehen müssen. Ich trete zu Bewerbungsgesprächen an, aber ich passe in keine Schublade, die die Chefs, denen ich mich vorstelle, so im Kopf haben.
Am 1. Juni ist Drehbeginn für die Fortsetzung der Krimiserie. Der Stab und die Schauspieler haben sich freigenommen, alle werden ohne Gage arbeiten, ich will Regie führen. Eine Woche vorher bekomme ich Post von der Hochschule der Künste. (Heute UdK) Sie wollen mich unbefristet, in Vollzeit und im Schichtdienst als Pförtner beschäftigen. Der Gedanke als Pförtner zu arbeiten ist mir sehr unbehaglich. Ich tröste mich damit, das ich als Kartenabreißer auf Konzerten etwas ähnliches tat und das das Umfeld einer Kunstuni vielleicht ganz spannend ist.
Die Arbeit ist einfach, doch meine Sozialphobie macht mir zu schaffen. Unter den ausschließlich männlichen Schultheiss-Berlinern, die meine Kollegen sind, bin ich ein unpassender Fremdkörper und das zeigt man mir auch. Zu allem Übel ist einer der Pförtner ein echter Nazi. Ein hochintelligenter Choleriker, anders als die stumpfen Nazi-Skins, die mir bisher über den Weg gelaufen sind. Schulz ist früher Kran-Führer gewesen, aber nachdem er betrunken aus seinem Führer-Häuschen gefallen ist, schwerbehindert. Obwohl der Mann fast täglich vor Studenten die Auschwitzlüge verbreitet, gilt er als unkündbar, wegen seiner kaputten Beine. Die linken Professoren, die ich anspreche, erklären mir sie könnten als Beamte nicht eingreifen, weil der Mann “Lohnempfänger” sei, was im Unijargon für Arbeiter steht.
Der Schichtdienst ist auch nicht ohne, bis Mitternacht arbeiten und zwei Tage danach um halb sechs morgens anfangen. Jede zweite Woche darf ich auch am Sonnabend antreten.
Durch die Arbeit kann ich bei den meisten Szenen nicht Regie führen, sogar in meiner Rolle als Eierkaiser werde ich gedoubelt. Frank übernimmt die Regie, macht das ganz ordentlich, aber vieles steht nicht im Script und was ich nur im Kopf habe, wird nicht umgesetzt.
Sechs Wochen später, am 10. Juli 1986 heiraten Ute und ich im Rathaus Schöneberg.
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In den nun folgenden zwei Jahren mache ich mehrere Dutzend Sendungen für den OKB. Ich bin in meinem Element, ich probiere Satire, Kabarett und auch ernsthafte Talkshows und Magazinsendungen aus. Mit Volker Hauptvogel drehe ich im Pinguin-Club eine Reihe Film-Clips, ich parodiere Kohl und verteidige mit Hitlerbärtchen Uwe Barschel*, den man eben tot in einem Genfer Luxushotel gefunden hat. Allerdings fühle ich mich nirgendwo mehr zu Hause, es gibt keinen Ort mehr an dem ich mich wohlfühle und an dem ich mich entspannen kann. Ich werde immer depressiver und gestresster, ich bin wohl doch nicht für die Ehe gemacht. 1988 ziehe ich einen Schlussstrich, zuletzt hatte ich ernsthaft Angst, ich könne mir etwas antun. Ich ziehe aus und übernehme moralisch die Schuld. Immer wieder habe ich seitdem nachgedacht, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe, doch dann wird mir wieder bewusst, wie verzweifelt ich war und das mein Entschluss alternativlos war. Dennoch war es sicher die schwerste Entscheidung meines Lebens.
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Wie so häufig im Leben liegen Tragik und Glück eng nebeneinander. Bei meiner Trauer über das Scheitern der Ehe, für das ich mir die Schuld gebe, bekomme ich ein Angebot. Nach steiler Abwärtsfahrt sehe ich wieder den Himmel. Nachdem ich immer davon geträumt habe, Film oder Fernsehen professionell zu betreiben, wohl wissend das meine formale Qualifikation dafür nicht ausreicht, fällt mir ein Angebot in den Schoß. Im Offenen Kanal Berlin, wo ich seit zwei Jahren als unbezahlter und ungerufener “Nutzer” Programme produziere, ist eine Stelle frei. Meine Freunde Anette und Frank, die beide dort festangestellt sind, berichten mir davon. Es geht um die Disposition, den Knotenpunkt im Sender, an dem sämtliche Produktionen und Sendungen terminiert werden und an dem neue Nutzer aufgenommen werden und ihre erste Beratung bekommen. Für die Nutzung braucht man nur gültige Papiere, andere Vorbedingungen gibt es nicht und außerdem ist alles kostenlos. Die Aufgabe diesen Sender zu organisieren und zu verwalten scheint mir ungeheuer reizvoll und ebenso gewaltig, äh, gewaltig. Auffällig ist jedenfalls, dass sich noch keinen Interessenten gibt, der den Job ernsthaft haben möchte.
Ich spreche mit Anette, die den OKB aufgebaut und geleitet hat, bis die Medienanstalt einen Leiter installiert hat. Sie erklärt mir die Aufgabe, weist darauf hin, dass es darum geht, bürokratische Normen umzusetzen und das es dabei keinerlei kreative Spielräume gibt. Sie signalisiert auch Vertrauen, dass ich die Aufgabe bewältigen könne, hat aber einen Vorbehalt. Als Freundin gibt sie zu Bedenken, ich könne meine Talente, das Schreiben, Spielen und das Inszenieren nicht mehr ausüben. Nicht im Job und auch nicht nebenbei, weil ich ersteinmal keine Zeit und Kraft hätte, etwas anderes zu machen. Und sie befürchtet, dass ich dabei Schaden nehmen könnte. Sie hatte Recht, ich nahm Schaden, nur dauerte es viele Jahre, bis ich es merkte. Und als ich es dann merkte, war es zu spät um das Ruder noch herum zu reissen. Ich hätte mir wohl nie verziehen, die Chance auszuschlagen, im Februar 1988 bewerbe ich mich um die Vollzeit-Stelle “Disposition OKB”.
Die Vorteile überwiegen in meinen Augen, mir schien die Stelle eine Art Traumjob zu sein. Allerdings war ich eher skeptisch, dass meine Bewerbung Erfolg haben würde. Normalerweise stellt der Sender studierte Kandidaten ein. Ich aber hatte noch nicht mal Abitur, weil ich nach der 68er Revolte kein West-Berliner Gymnasium mehr besuchen durfte und mein einziger Abschluss daher die Mittlere Reife war. Außerdem war meine berufliche Vita mehr oder weniger nicht existent, da ich zehn Jahre lang von Hilfsjobs und ein wenig Schreiberei gelebt hatte. Dazu kam, dass mir der neu installierte Leiter des OKB nicht gerade sympathisch war. Ich hielt J.L. sogar für eine absolute Fehlbesetzung.
Das erste Mal hatte ich J.L. Während der Funkausstellung 1987 bei einer Diskussion über die Zukunft des Berliner Bürgersenders beobachtet, in der er eine sehr schlechte Figur machte. Später wurde er zu einem aufrechten Lobbyisten für die Sache des Bürgerfunks, aber damals hielt ich ihn für fehl am Platz. Ich hätte es für fair und für die Zukunft des Senders am förderlichsten gehalten, wenn Anette Fleming Leiterin geworden wäre, die beim Aufbau des OKB einen tollen Job gemacht hatte. Zusammen mit dem OKB waren ja auch die “Havelwelle” und die “Kabelvision” gestartet, mit denen der OK anfänglich die Frequenz teilte. Da beide Projekte desaströs scheiterten, wurde dem OKB mit Wirkung am 1. Januar 1986 die Frequenz allein übertragen, ein Erfolg der vor allem der Leistung von Anette Fleming zu verdanken war. Doch Anette war nicht interessiert eine Leitungsaufgabe zu übernehmen, sie zog es vor im Kontakt mit der Basis zu bleiben. Ohnehin war es eine politische Entscheidung und die Politiker hatten ein bißchen Angst, vor der von ihnen geschaffenen Kreatur des “freien Zugangs zu Radio und Fernsehen”. Da sollte ein gestandener Verwaltungsmensch als Leiter allzu großer Freizügigkeit bürokratische Fesseln anlegen.
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Ich habe es vielleicht nie im Leben zu wahrer Virtuosität gebracht, egal worin. Vielleicht bin ich zu streng mit mir, aber Tatsache ist und war, dass ich oft sprunghaft von einem Metier ins nächste sprang, wo Ausdauer und Beharrlichkeit besser gewesen wären. In einem war ich allerdings immer groß, wenn es darauf ankam, konnte ich stets einen guten Eindruck hinterlassen. Also saß ich vor dem Leiter des OKB und machte aus meinem Leben eine Erfolgsgeschichte, die gerade dazu geschaffen war von einer Tätigkeit als Dispositeur des Berliner Bürgerfunks gekrönt zu werden. Es kam mir zugute, dass J.L. gern Leute engagierte, die ein wenig unterqualifiziert waren.
Tatsächlich bekam ich die Stelle. Es war mir ein Vergnügen, meinem großspurigen Hausmeister-Chef mitzuteilen, dass ich, als Pförtner des neoklassizistischen Baus in der Bundesallee, nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Ich wurde zwar gewarnt, an einem 15. März eine neue Stelle anzutreten. Ich war aber sicher, mir würden die “Iden des März” zum Glückstag werden, anders als für Julius Ceasar, der diesen seinen Unglückstag nicht überlebte.

Also begann ich am 16. März im Offenen Kanal Berlin zu arbeiten. Mit Dr. Bismarck von der Pilotgesellschaft für Kabelkommunikation hatte ich ausgemacht, dass ich für verbleibenden zwei Märzwochen pauschal 1000.- DM bekommen sollte. Ich bekam das schönste Büro, ein Eckbüro mit Sicht auf den Humboldt-Hain, schrieb Sendepläne und vergab Kameras, Schnittplätze, Hörfunk- und Fernseh-Studios. Welchen Sprung ich gemacht hatte, merkte ich als mich Burkhardt Seiler vom Zensor-Label besuchte. Sechs Jahre zuvor hatte ein Praktikum beim “Zensor”, in dessen legendären Plattenladen gemacht, ich stellte mich ziemlich blöd an, konnte kaum etwas und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Drei Jahre machte ich die Dispo für beide Sender, Hörfunk und Fernsehen. 1991 wechselte ich in den Produktions- und Sende-Betrieb.

Es war überwiegend so etwas wie ein Traumjob für mich, bis ich 2003 aus gesundheitlichen Gründen das Handtuch werfen musste. Die letzten zwei Jahre waren traurig, ich hatte ständig Rückenschmerzen, kämpfte mit Depressionen und hatte den Eindruck nicht mehr richtig schlafen zu können. Trotzdem hätte ich den Absprung allein nicht geschafft. Ich hatte das Glück an eine kluge Ärztin zu geraten, die mir den Ausstieg nahelegte. Schon lange merkte ich, dass meine Leistungsfähigkeit nachließ. Um mich zu motivieren gab mein Chef mir Aufgaben für die On-Air-Promotion des Senders. Ich durfte wieder on-air gehen, Interviews drehen. Ich bespielte eine Nachtsendeschiene, für “Werkschau” hatte ich über 80 Stunden Sendezeit pro Woche zu füllen. Mit meinem talentierten Kollegen Juan Aballé drehte ich einen schönen Trailer dafür. Juan hatte bei Kamera und Schnitt hervorragende Arbeit gemacht. Beim Screening klopften mir die Kollegen auf die Schulter, aber innen drin war ich unzufrieden mit meiner Leistung vor der Kamera. Ich merkte, mir fehlte Schwung, Leichtigkeit und Durchsetzungskraft. Im heißen Sommer 2003 war ich sieben Wochen in einer Reha-Klinik in Thüringen. Die Ärzte und Psychologen empfahlen eine Umschulung. Erneut spielte ich heiteres Beruferaten, diesmal mit meiner Reha-Beraterin, das Glücksrad blieb bei “Event Manager” stehen und ich lernte einen neuen Beruf. Ich konnte mich nicht bei meinen Kollegen vom OKB verabschieden. Ich brachte es nicht fertig, als “Gescheiterter” unter ihre Augen zu treten. Der Ausstieg war heftig für mich, ich habe jahrelang noch Albträume davon gehabt. Erst jetzt, zehn Jahre später, habe den nötigen Abstand, um diesen zweitschwersten Entschluss meines Lebens, schreibend zu verarbeiten.
Übrigens, den Offenen Kanal Berlin gibt es noch, er nennt sich jetzt Alex**, ist aber immer noch im Wedding in der Voltastraße 5 und sendet im Kabel. Einige meiner großartigen Kollegen arbeiten immer noch da, z.B. Karin, Mischka oder Frank. Andere ebenso feine Ex-Mitarbeiter haben es, wie ich, vorgezogen weiterzuziehen, wie etwa Anette, Dirk und Wobser, an dessen “Ausstieg” ich mich noch deutlich erinnere, obwohl er fast 20 Jahre her ist. Wobser machte Urlaub auf einer griechischen Insel, als ihn die Erkenntnis traf, er brauche Veränderung in seinem Leben. Er flog einfach nicht zurück, schlief eine zeitlang am Strand. Irgendwann lernte er eine englische Touristin kennen, verliebte sich und flog mit ihr nach Groß-Britannien, wo er immer noch glücklich mit ihr zusammenlebt.

Dieser Artikel wird in wenigen Tagen mit einem neuen, zweitem Teil fortgesetzt. “Nackte, Nazis, Nervensägen” erzählt von den skurrilen Nutzern des OKB und ihren schrägsten Sendungen und der merkwürdig verzerrten Wahrnehmung des Senders durch die Berliner Medien.

Die Illustrationen sind teilweise der Studie “Mach dein eigenes Programm”, aus dem Jahre 1989, von Hans-Joachim Schulte entnommen.

*Meine “schrägste”, die Barschel-Sendung:

https://marcuskluge.wordpress.com/2014/02/24/er-tat-nur-seine-pflicht/

**Alex OKB:

http://www.alex-berlin.de/

Berlinische Leben – “Hinter der grünen Tür” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Fünf / von Marcus Kluge / Oktober 1981

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Roberto hatte noch etwas Schwierigkeiten mit dem Bentley. Die Renn-Grün lackierte Limousine war zwar eine Augenweide, doch die Gangschaltung war hakelig und ohne Servolenkung war das Einparken Maßarbeit. Aber sein Chef schien darüber hinwegzusehen, überhaupt war der Antiquitätenhändler ein leutseliger Typ:
“Sehen sie dort, Roberto, die nächste Auffahrt müssen sie nehmen. Das ist das Lager der grenzüberschreitenden Okkassionen.” Er gab eine Art Glucksen von sich. Roberto war zunächst als Fahrer bei ihm beschäftigt, aber es sollte “mehr” werden und das “mehr” würde lukrativ sein.
Roberto und sein Chef betraten ein marodes Fabrikgebäude. Ihr eigener Aufzug stand in Kontrast zu dem alten Bauwerk. Roberto trug ein schickes weißes Rüschenhemd und sein Chef ein marineblaues Klubsacco. Der ältere Herr mit dem Bäuchlein hatte ein Tuch von Hermes um den Hals und er stützte sich auf einen Gehstock mit Silberknauf.

Sie fuhren im Lastenaufzug in den vierten Stock und betraten, durch eine grün gestrichene Stahltür, eine Fabriketage, die vollgestopft mit Antiquitäten war. Die unterschiedlichsten Gegenstände waren hier versammelt, Schränke, Sitzmöbel, Lampen, Emailleschilder und Gemälde machten das Gros aus. Es waren sogar einige Altarbilder und Kreuze dabei. An jedem Stück hing eine diskrete Karte mit einer Datierung, einer Nummer und einer Summe, für die man das Teil erwerben konnte. Roberto fragte neugierig: “Wo kommen die Sachen denn her?”
Sein Chef hatte nur darauf gewartet ein Stichwort zu bekommen und begann zu referieren: “Das sind alles Stücke von unseren Brüdern und Schwestern aus der DDR. Genauer gesagt von meinem alten Kollegen Schelm, der damit Valuta für den Realsozialismus eintreibt.”
Roberto unterbrach ihn: “Ich habe mal gehört, das gar keine Antiquitäten aus der DDR ausgeführt werden dürfen?”
“Licet iovi non licet bovi, sagten die Lateiner zurecht. Also was dem Jupiter erlaubt ist, darf der Ochse noch lange nicht. Will sagen, die Bonzen dürfen das, gemeines Volk natürlich nicht. Und das Angebot hier ist zwar alles andere als offiziell, aber es ist von ganz oben abgesegnet, eben weil unsere Brüder und Schwestern so chronisch pleite sich, was Valuta angeht. Die DDR muss ja gewisse Dinge auf dem Weltmarkt oder beim Klassenfeind kaufen. Bestimmte Rohstoffe, hochwertige Technik, die sie selbst nicht hinkriegen, oder ganz schlicht Rohkaffee. Die hätten doch sehr schnell eine révolte ihres geliebten Proletariats am Hals, wenn sie ihr Volk auf Kaffee-Entzug setzen würden. Um diese Preziosen zu bezahlen brauchen sie Valuta, harte Devisen. Ihre blauen Karl Marx Portraits sind ja wertlos und deshalb bringen einmal in der Woche Lastwagen diese antiquités zum umrubeln nach West-Berlin.”
Roberto kapierte schnell: “Also sie verkaufen ihr Tafelsilber in der selbständigen politischen Einheit Westberlin.”, wobei er die offizielle Floskel der Ost-Medien für West-Berlin benutzte.
“Genau, Roberto, das Tafelsilber. Wobei so ein 18 Millionen Volk eine Menge Besteck hat. Alles was aus Nachlässen und bei politischen Gegnern abfällt, ganz zu schweigen von den Kirchen und den Archiven der Museen, ist alles volkseigen, ha ha. Aber nun lassen sie uns arbeiten.”
Roberto holte einen Notizblock und Stift hervor und begann die Nummern aufzuschreiben, die sein Chef ihm diktierte. Dann verschwand der Ältere in einem Büro, wo das Geschäftliche abgewickelt wurde. Anschließend musste Roberto einige Gemälde in den Bentley bringen, sein Chef selbst trug eine “Anna selbdritt”, ein Altarbild, das die heilige Anna, ihre Tochter Maria und ein grinsendes Jesuskindlein zeigte, in das er sich verguckt hatte: “Frühes 16. Jahrhundert, das gibt richtig Penunze!” Offensichtlich schätzte er nicht nur die künstlerische Darstellung, sondern auch den schnöden Mammon, den er damit verdienen würde. Der Rest des Einkaufs, die Möbel und die großformatigen Bilder würden direkt in die Schlüterstraße geliefert werden, es war eben ein Geschäft unter Freunden, das nach Treu und Glauben abgewickelt wurde. Roberto lernte auch, diese Fabriketage stand nicht etwa jedem West-Berliner Händler offen, sondern nur einem kleinen Kreis von Eingeschworenen. Den es sollte auf keinen Fall publik werden, wie die DDR hier ihre Devisenbeschaffung betrieb. So wurde Roberto auch ein Schwur abgenommen, über das was er hinter der grünen Tür gesehen hatte, Stillschweigen zu bewahren.

Im Gegensatz zu mir war Roberto, trotz seines Veilchens, bester Laune: “Ich habe einen tollen neuen Job. Antiquitäten im grenzüberschreitenden Verkehr. Da ist richtig Knete drin.”
Ich war immer noch etwas verwirrt und ängstlich nach meinem Panikanfall am Nachmittag. Mich nicht mehr auf den eigenen Beinen halten zu können, stellte eine beunruhigende, neue Dimension dar und ich befürchtete eine weitere Verschlimmerung. Trotzdem freute ich mich über mein erfolgreiches Bewerbungsgespräch: “Ich habe auch einen neuen Job, ich schreibe als Copywriter für eine Werbeagentur. Über Filme! Ich hoffe nur, ich begreife noch, was mein neuer Chef Rittlin mit knackig meint. Aber sag mal grenzüberschreitend, das hört sich nach Schmuggel an. Vielleicht solltest du die Finger von solchen Geschichten lassen, du bist doch auf Bewährung, oder?”
“Nee, ist alles amtlich, pass auf. Ich hab doch da diesen Antiquitätenhändler kennengelernt, toller Typ, schon älter, war früher Agent. Der kennt aus seiner Agentenzeit einen “Schelm-Dombrowski” oder so. Der ist jetzt ein hohes Tier in der DDR und für Devisenbeschaffung zuständig. Schelm-Dombrowski verscherbelt wertvolles Zeug an meinen Chef im Westen, der es hier in seiner Galerie in der Schlüterstraße teuer verkaufen kann und alle verdienen klotzig dabei.”
Bei Agent und Schlüterstraße kam mir ein Verdacht: “Sag mal, heißt der Typ etwa Puvogel?”
“Ja, genau, woher weißt du das?”
Auf die Gefahr den Miesepeter zu spielen, klärte ich meinen Freund auf: “Oh je, der Mann hat eine üble Rolle beim Tod eines alten Schulfreundes gespielt. Pass bloß auf, der ist pervers, der arbeitet mit K.O.-Tropfen und allen möglichen dirty tricks.”
“Aber der ist total nett.”
Ich zeigte auf sein blaues Auge und fragte: “Wie bist du denn mit den Arabern verblieben? Müssen wir hier mit Überfällen rechnen?”
“Nee, keine Panik. Die bekommen jede Woche einen Riesen von mir, dann halten die still.”
“Viertausend Mark im Monat ist ganz schön happig.”
“Doch das klappt. 2000 bekomme ich für jeden Transport aus Ost-Berlin.”
Ich gab auf, wenn Roberto unbedingt solche Risiken eingehen wollte, konnte ich ihn nicht zur Vorsicht zwingen. Er müsste seine Erfahrungen selbst machen, auch wenn die schmerzhaft waren. Noch schmerzhafter als das blaue Auge, das er schon hatte. Doch bevor ich wieder in brütendes Nachdenken versinken konnte, schlug Roberto vor, wir sollten unsere neuen Jobs mit ein paar Bier begießen: “Sagtest du nicht, es gibt hier so einen Klub wo auch Bands spielen? Music-Cabaret, oder so?”
“Cabaret weniger, aber Music-Hall, ja. Da spielen meist schräge neue Bands. Monika Döring veranstaltet die Konzerte, die findet die tollsten Bands und holt sie hier in die Rheinstraße. Und das beste ist, sie lässt mich immer umsonst rein, weil ich ihr erzählt habe, dass ich über Musik schreibe. Keine Ahnung was da heute läuft, aber ja, da gehen wir hin.” Roberto hatte wahrscheinlich Recht und ich machte mir zuviel Gedanken. Um meine Laune zu verbessern legte ich eine Platte auf, “The Saints”. “I’m Stranded” sorgte immer für gute Stimmung bei mir. Ich holte zwei Hansa-Pils aus dem Kühlschrank, die waren zur Zeit das billigste Bier das Real führte und damit mein Hausgetränk. Eins gab ich Roberto, mit dem anderen setzte ich mich an meinen Schreibtisch, vor den dreiteiligen Spiegel, an dem ich gewöhnlich mein Make-Up machte. Ich trank erstmal einen herzhaften Schluck und goss dann eine Pfütze in meine linke Handfläche, die ich großzügig auf meinen Haarstoppeln verteilte, bis die Haare schön pieksig in die Höhe zeigten. Auch hinten mussten sie hochstehen, daher brauchte ich den dreiteiligen Klappspiegel. Abschließend schminkte ich noch die Augen mit einem Kajalstift und bewunderte zufrieden das Ergebnis. Roberto hatte sich umgezogen, nun hatte er wieder sein Marijuana-T-Shirt an, darüber eine Jacke, die er sich in Indien aus einer großen Coca-Cola-Fahne schneidern gelassen hatte. Ich komplettierte meine Garderobe mit einer neu aussehenden brauen Lederjacke, ein Fehler, denn ich später bereuen sollte.
Die Music-Hall lag am Ende Rheinstraße, kurz vor dem Walter-Schreiber-Platz. Monika saß an der Kasse, sie hatte hellblaue Strähnen in ihren kurzen blonden Haaren und ein hellblaues Stirnband gab ihr gewisse Ähnlichkeit mit einem Osterei. Monika Döring war damals eine Institution in Berlin, sie veranstaltete die besten Konzerte. Hinter ihr hing ein selbstgemalter Zettel, auf dem stand: “Die Goldenen Vampire – Eintritt 3 Mark”.

“Ist schon wieder Ostern?”, fragte ich, in dem ich auf ihre Frisur zeigte.”Verarsch mich doch, Marcus. Dabei will ich mich doch nur für euch hübsch machen.”, sie drehte ihren Kopf hin und her.

“Du siehst heute wieder absolut geil aus, Monika! Wer sind den die goldenen Vampire? Ich kenne nur einen drittklassigen italienischen Horrorfilm, der so heißt”

“Eine brilliante neue Gitarrenband um Kristof Hahn und Olaf Krämer, den Sänger. Ist ein Überraschungsgig, wir haben kaum Werbung gemacht, die drei Mark sind nur um die PA zu bezahlen.”
Kristof hatte mal auf einer Party kennengelernt, ich freute mich, das hörte sich spannend an. Natürlich kam ich umsonst rein, Roberto zahlte. Der Laden war halbvoll, fast nur Punks saßen auf den Podesten an den Wänden. Während Roberto und ich, links an der Tanzfläche vorbei, durch die ganze Kneipe zum Tresen liefen, zerschellten einige Biergläser an unserern Schuhen. Das passierte mir immer, wenn ich nicht die schwarze, sondern die braune Lederjacke anhatte, das mochten die Punks nicht, in Kleidungsvorschriften waren sie sehr streng, Robertos T-Shirt brachte ihn wohl auch in Hippie-Verdacht. Er schaute etwas irritiert, aber ich versicherte ihm, bei den auf uns geworfenen Gläsern handelte es sich um einen freundlichen Kommentar auf unsere Andersartigkeit.

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Wir stellten uns an die Bar und bestellten bei Mike, dem Barkeeper, Bier. Der DJ spielte “The Passenger” von Iggy Pop, wie jeden Abend in der Hall, normalerweise kam es allerdings später, der DJ versuchte Stimmung zu machen, um wenigstens ein paar Leute auf die Tanzfläche zu bekommen. Eine hübsche Blondine in Minirock, Stiefeln und Lederjacke begann zu tanzen. Es tippte mir jemand auf die Schulter, es war der ältere Rothaarige aus dem SO 36.
“Was treibt dich her? Die Goldenen Vampire?”
Ich war es nicht gewöhnt angesprochen zu werden und hätte beinahe die Flucht ergriffen, aber die heisere Stimme war so freundlich, dass ich mir ein paar Worte abrang: “Nö, war mehr Zufall. Aber Kristof soll ein guter Gitarrist sein. Er hat auch schon mit Frieder Butzmann zusammen gespielt.”
“Ich bin übrigens Pappirossi, ich schreibe für die TAZ.”
Jetzt erst erkannte ich Pappirossi, jeder der in linken Kultur- und Sub-Kultur-Szene von West-Berlin unterwegs war, kannte den Mann mit den kupferfarbenen Haaren, oder wenigstens seine wohlwollenden, aber oft spitzfindigen Artikel: “Deine Sachen lese ich gern. Ich bin ja auch Autor. Marcus heiße ich. Marcus Kluge”
“Wo schreibste denn?”
“Na, in der Werbung und so privat. Ich würde auch gern veröffentlichen, ich weiß bloß nicht worüber ich schreiben soll.”
“Oh je, Werbung, das verdirbt dir nur den Stil!”, dann zeigte er auf die Bühne, “wieso schreibste nicht über Bands wie die hier. Sowas könnte man vielleicht. sogar in der TAZ unterbringen oder du machts einfach ein Fanzine? Du weißt doch, was ein Fanzine ist?”
Ich nickte, obwohl ich nur einen blassen Schimmer hatte, was ein Fanzine war. Genau so wenig, wie ich genau wusste, was knackig sein sollte, wusste ich nicht was ein Fanzine sein sollte, aber ich würde recherchieren und dann vielleicht ein knackiges Fanzine machen. Ich beobachtete die Blondine auf der Tanzfläche, sie schwenkte ihre Arme, wie ein Go-Go-Girl aus den 60er Jahren. Es hatte was.

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Auf der Bühne bauten sich inzwischen vier finster aussehende Jungs auf. Sie hatten löcherige Jeans und alte Lederjacken an, ihre Haare verdeckten fast die Augen und zwei trugen sogar Sonnenbrillen, obwohl die Bühne nur spärlich beleuchtet war: lichtscheue Elemente. Der Sound war laut, knisternd, es erinnerte an frühe Surfmusik, MC5, sowie an Bauhaus. Das Vampirthema zogen sie auch in den Texten durch: “Eine silberne Kugel zu gut getroffen, aus und vorbei!” Eigentlich erstaunlich, dass noch keine Band außer Bauhaus so ein Vampir-Image benutzt hatte, es war doch naheliegend, bei den vielen düster klingenden Bands, die zu der Zeit auftauchten. Kristof spielte komplizierte Solos, die mich an meinen Freund Andi denken ließen. Die Punks wippten nur mit ihren Füßen, zwei, drei Leute tanzten, für Pogo eignete sich die Musik nicht. Mit gefiel es gut, ein Seitenblick auf Roberto zeigte, das er nicht so begeistert war. Unser Musikgeschmack hatte sich definitiv auseinander entwickelt.

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Wir bestellten mehr Bier und Roberto zeigte mir, wie man Tequila mit Salz und Zitrone trinkt. Nach zwei Runden davon schob ich mein Bier zur Seite und beschloß langsamer zu trinken. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Abend würde noch eine Überraschung bringen. Nach dem Gig kam Kristof an die Theke, ich lobte ihn, doch er war nicht zufrieden: “Ach nee, ich habe einiges in den Sand gesetzt. Es schmeichelt mir ja, das es dir gefallen hat. Aber sein wir mal ehrlich, wer von uns beiden ist der Bücher-Junkie und wer ist der Musiker?”, er grinste und spielte darauf an, dass ich mich mal einen Bücher-Junkie genannt hatte. Ja, das war ich wohl, wobei ich die Bücher nicht nur kaufte, sondern auch las. Roberto hatte die Spendierhosen an und so tranken wir auch mit Kristof eine Runde Tequila.
Eben stellte Roberto fest, dass der Barkeeper eine Ähnlichkeit mit dem jungen Paul McCartney hatte, als die Blondine von der Tanzfläche kam und sich direkt neben mich stellte. Unter ihrer knappen schwarzen Lederjacke blitzte ein lindgrüner BH aus durchsichtigem chiffonartigen Stoff vor. Nicht nur deshalb fand ich sie aufregend. Sie schwitzte und ich sprach sie an: “Leder ist Klasse, aber man schwitzt leicht.” Sie blickte überrascht, aber quittierte meinen nicht gerade originellen Spruch mit einem freundlichen Lächeln. Ich rechnete mir Chancen aus. Sie nahm eine Zigarette von mir und wir kamen ins Gespräch. Sie machte eine Ausbildung auf der Lette-Schule, irgendwas mit Mode. Ich stellte mich als Werbetetexter vor, der ich ja seit circa sechs Stunden war.
“Man nennt das auch Copywriter, übrigens, ich heiße Marcus, und du?”
Sie zog die Stirn in Falten, als ob sie etwas Trauriges mitzuteilen hätte: “Uschi! Ich weiß, das hört sich blöd an, aber wenn man Ursula heißt, ist Uschi schon eine Verbesserung.”
“Ursula, die Bärin. Ist doch gar nicht schlecht.”, in Gedanken probierte ich “Bärchen” aus.
“Vielleicht suche ich mir ein Pseudonym, wenn ich erst Modedesignerin bin. Etwas wie Eve Saint-Laurent oder Karla Lagerfeld.”
Roberto war verschwunden, entweder er hatte selbst jemand kennengelernt oder er hatte sich diskret zurückgezogen. Uschi und ich tranken Tequila, ich fühlte mich nicht betrunken, das Zeug war toll. Der Reißverschluss von ihrer Lederjacke war weit offen, so dass mein Blick unwillkürlich immer wieder auf ihren grünen BH fiel. “Hast du den selbst geschneidert?”, wollte ich wissen.
“Ja, toll oder? Aus einem Stoff aus den 1940er Jahren. Den Schlüpper auch.”, wobei sie ihren Minirock kurz anhob, um mir ihren grün verhüllten Unterleib zu zeigen. Uschis Körpersprache war recht eindeutig. Wir begannen nonverbal zu kommunizieren. Ich hätte nicht sagen können, wer angefangen hatte, wahrscheinlich beide gleichzeitig. Wir küssten und befingerten uns, bis ich den Vorschlag machte, zu mir zu gehen. Ziemlich angeheitert und Arm in Arm liefen wir die 1000 Meter bis zur Rheinstraße 14. Uschi hatte ihr Bier mitgenommen, ab und zu tranken wir einen Schluck, bis wir das leere Glas auf einem Schaltkasten an der Kaisereiche zurückließen. Bei mir oben angekommen zogen wir uns ohne weitere Verzögerung gegenseitig aus, wir knutschten heftig und erkundeten unsere Körper. Schließlich zog Uschi auch ihre lindgrüne Unterhose aus und machte eine einladende Geste: “Ich will das du mit mir schläfst, Marcus!”
Ich war zwar sehr erregt, doch ich musste trotzdem den Vorbehalt ansprechen, der mir durch den Kopf ging: “Was ist denn mit Verhütung?”
Uschi machte eine wegwischende Handbewegung und versicherte mir: “Mach einfach, es kann nichts passieren.”, und als ich trotzdem nicht einfach machte, ergänzte sie: “Denk nicht drüber nach, ich hab die Sache im Griff!”
Trotz des Alkohols und meiner Geilheit sah ich plötzlich eine rote Flagge vor meinem inneren Auge aufziehen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde mir bewusst, dass hier irgendetwas Verdächtiges vor sich ging, ich wusste nicht genau was, aber ich hatte das fatale Gefühl manipuliert zu werden. Und ebenfalls in kürzester Zeit schrumpfte meine Männlichkeit auf ihr Mindestmaß und ich fühlte mich schlagartig nüchtern. Uschi war nicht erfreut. Nach einem Moment des Atemholens zündete ich eine Zigarette an, zog zweimal daran und reichte sie dann an Uschi weiter. Ich hatte das Bedürfnis, die Angelegenheit zu besprechen: “Bist du jetzt sauer auf mich?”
“Ja, irgendwie schon, ich versteh nicht wieso du mittendrin aufgehört hast?”
“Na, das ist doch klar, oder? Ich will auf keinen Fall Vater werden.”
“Ach, so schnell wird man doch nicht Vater!”
“Doch doch”, bestand ich darauf: “genau so schnell wird man Vater, nach meinem Kenntnisstand.”
Offensichtlich waren wir an diesem Punkt unterschiedlicher Meinung. Uschi stand auf, zog sich an, kritzelte ihre Telefonnummer auf einen Zettel, sagte noch, ich könne ja mal anrufen und dann war sie weg.

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Den Bentley wollte Roberto am Bahnhof Zoo parken und dann mit der S-Bahn bis Friedrichstraße fahren. Die 25.- D-Mark für den Zwangsumtausch hatte ihm Puvogel in die Hand gedrückt. Am Kranzler-Eck musste Roberto bei Rot halten und die Fußgänger strömten vor ihm über den Zebrastreifen. Das schöne Herbstwetter hatte viele Touristen in die Stadt gelockt. Ein großer junger Mann fiel ihm auf, er kannte diesen Gang. Piloten- Sonnenbrille und ein hochgestellter Trenchcoat-Kragen versteckten das Gesicht, aber Gestalt und Gang sahen aus, als ob Ari eben vor ihm über die Straße gelaufen wäre, doch das war ja gar nicht möglich. Ari war tot, von einem acht Gramm schweren Vollmantel-Kegelstumpf-Geschoss, aus einer alten Walther P38, in Wien, tödlich getroffen. Das Hupen der Fahrer hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken, er ließ die Kupplung kommen und würgte den Bentley ab. Nun wurde das Hupen lauter und ungeduldiger. Endlich setzte sich die grüne Bentley-Limousine in Bewegung. Ari? Nein, das konnte nicht sein! Er hatte wohl ein Gespenst gesehen, eine Halluzination, dabei war er völlig nüchtern. Eine komische Sache. Er versuchte zu lachen, doch es gelang ihm nicht.

– wird fortgesetzt –

Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet.

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Berlinische Räume – “A Visit To Zensor” / Photographs from the famous record store taken in 1983

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Zensor shop at Belziger Straße

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Early Zensor concert posters 1979 (with courtesy from the Thomas Pargmann Collection)
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I met Burkhardt Seiler in school, in 1968, we became friends and had our share in the late 60ties student revolt. Subsequently we were thrown out of school and I lost sight of Burkhardt.

I didn’t meet him again till June 1981, when I spotted him at the Venus Weltklang Festival in the Tempodrom. His formerly long hair was cropped short, it looked like he had done it himself. He was sporting a dark-blue trenchcoat that gave him the looks of a young mormon missionary on his european tour.

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The store in backroom of the Blue Moon boutique

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The Zensor himself

I visited him at his already famous record store in Belziger Straße, from where he also ran the Zensor Label. In 1982 I became his “student apprentice”, not really beeing a student and neither much of an apprentice to him.

I told him about the fanzine I was planning to issue. He gave me advise and proposed to edit “Assasin” together with me. I realised a collaboration with Burkhardt would mean doing a Zensor fanzine and that wasn’t what I had in mind.

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Assasin “zero number”

I quit working for him, concentrated on the pilot issue of Assasin and with the helps of Rainer Jacob, Cordula Lippke, Herbert P. and Andreas Balze realised a zero number in late 1982.

When I heard the Zensor was about to close his shop in autumn 1983 I went there with a photographer to make some last shots.

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On September 19. 1983 there was a bye-bye-concert for the beloved store at the LOFT organised by Monika Döring. But the legend lived on…

P.S. Some weeks ago, I was playing cards with Cordula. She met Burkhardt recently, told me he’s happy in a relationship and quit drinking. (December 2013)

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Text: Marcus Kluge

Familyportrait – A Visit To Zensor / Photographs from the famous record store taken in 1983

IMG_20130730_0007 Zensor shop at Belziger Straße

39874_1412566270603_4870059_n Early Zensor concert poster 1979 (with courtesy from the Thomas Pargmann Collection)
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I met Burkhardt Seiler in school, in 1968, we became friends and had our share in the late 60ties student revolt. Subsequently we were thrown out of school and I lost sight of Burkhardt.

I didn’t meet him again till June 1981, when I spotted him at the Venus Weltklang Festival in the Tempodrom. His formerly long hair was cropped short, it looked like he had done it himself. He was sporting a dark-blue trenchcoat that gave him the looks of a young mormon missionary on a european tour.

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The store in backroom of the Blue Moon boutique

IMG_20130829_0005 The Zensor

visited him at his already famous record store in Belziger Straße, from where he also ran the Zensor Label. In 1982 I became his “student apprentice”, not really beeing a student and neither much of an apprentice to him.

I told him about the fanzine I was planning to issue. He gave me advise and proposed to edit “Assasin” together with me. I realised a collaboration with Burkhardt would mean doing a Zensor fanzine and that wasn’t what I had in mind.

IMG_20130509_0001   Assasin “zero number”

I quit working for him, concentrated on the pilot issue of Assasin and with the helps of Rainer Jacob, Cordula Lippke, Herbert P. and Andreas Balze realised a zero number in late 1982.

When I heard the Zensor was about to close his shop in autumn 1983 I went there with a photographer to make some last shots.

IMG_20130624_0002  Last shot

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On September 19. 1983 there was a bye-bye-concert for the beloved store at the LOFT organised by Monika Döring. But the legend lived on…

P.S. Some weeks ago, I was playing cards with Cordula. She met Burkhardt recently, told me he’s happy in a relationship and quit drinking.

IMG_20130829_0002_0002Last last words

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Text: Marcus Kluge

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