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Lost and Found-Spezial: „Gammler, Jeans und lange Haare” / Farbfotos West-Berlin Sommer 1970

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Im Sommer 1970 legen mein Freund Andi und ich ein Fotoalbum an. Zusammen mit seiner damaligen Freundin Martina gehen wir im Tiergarten und in der City West Aufnahmen dafür fotografieren. Andi hat zu Weihnachten 1969 eine alte 6×6-Kamera geschenkt bekommen, die noch recht gut funktionierte. Heute allerdings, 46 Jahre später, beginnen die Abzüge auszubleichen und haben teilweise einen Farbstich bekommen. Das Album haben wir uns oft angeschaut und nachdem Andi Ende der 90er Jahre plötzlich und völlig unerwartet stirbt, wird es für mich zum besonders wertvollen Erinnerungsstück. Inzwischen geht es langsam aus dem Leim, einzelne Seiten haben sich schon gelöst.

Vor ein paar Tagen bin ich mit der Kamera unterwegs gewesen, um den Farben des Sommers 1970 nachzuspüren und zu dokumentieren, wie sich die Orte verändert haben, an denen wir uns vor 46 Jahren in Szene gesetzt haben.

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In der Augsburger Straße machen wir die ersten Aufnahmen, im Hintergrund befindet sich ein C&A-Kaufhaus, dass es heute nicht mehr gibt. Stattdessen steht dort ein Neubau mit dem Sofitel-Hotel und einem VAPIANO-Restaurant. Diese Gegend hat sich besonders stark verändert, C&A hat einen neuen Standort, wo vorher das Kudamm-Eck stand und noch früher, in den 50er und 60er Jahren das Berlin-Office von Pan American Airways. 1965 zog das Pan Am-Büro ins Europa-Center.

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Oben: Blick in die Augsburger Straße, rechts Sofitel und VAPIANO. Unten: Das ehemalige Kudamm-Eck heute, auch das neue Gebäude hat eine Großbildleinwand.

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Oben: Das unscharfe, seltene Bild vom Pan Am-Büro wurde 1959 gemacht. Unten sehen wir das Office links am Rand. Das Bild muss aus den frühen 50er Jahren sein, denn man sieht das 14-stöckige Allianz-Gebäude, Joachimsthaler Straße 12, noch im Bau. Das heute denkmalgeschützte Gebäude war das erste Hochhaus am Kurfürstendamm und gilt als besonders schönes Beispiel der 50er-Jahre-Architektur in West-Berlin. https://www.berlin.de/sehenswuerdigkeiten/3561534-3558930-allianzbuerohaus.html

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Unten: Neues C&A-Haus und das Allianz-Bürogebäude heute.

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Oben: Kudamm Eck 1996, Foto: Beek100 ©CC BY-SA 3.0

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Im Hinterhof von Bilka fotografiert Andi mich. Heute ist das Kaufhaus eine Karstadt-Sport-Filiale. Im Hof wurde eine große Voliere angelegt und zur Zeit baut man um.

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Am Hardenbergplatz treffen wir Martina und einen Bekannten von Andi, der Musiker (unten) arbeitet im Big Eden als Dics-Jockey.

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Parallel zur Stadtbahntrasse verbindet ein kleiner Weg den Hardenbergplatz mit dem Tiergarten. Auf einem Mäuerchen spiele ich den Bürgerschreck, aber die zeitunglesenden Berliner lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Heute gibt es die Bänke nicht mehr und das Mäuerchen ist ganzflächig besprüht.

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1970 posierten Andi und ich auf der Skulptur “Germanische Büffeljagd” von Fritz Schaper. 2016 wird diese gerade von Grafitti befreit.

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Insgesamt stehen in der Fasanerieallee vier Jagdskulpturen. Oben “Eberjagd um 1500” von Karl Begas, unten: “Zeitgenössische Fuchsjgd” von Wilhelm Haverkamp und “Hasenhatz zur Rokokozeit” von Max Baumbach. Alle Skulpturen wurde 1904 im Zuge des Baus des Hubertusbrunnen am Großen Stern angefertigt. 1938 wurde die Siegessäule vom Königsplatz an den Großen Stern versetzt und der Brunnen zerstört. Die Figuren wurden daraufhin im Großen Tiergarten verteilt.

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Die denkmalgeschützte “Löwenbrücke” war 1970 noch intakt und tragfähig. 2008 wurde sie wegen Baufälligkeit zunächst gesperrt und sollte 2014 restauriert werden. Stattdessen ist sie dann komplett demontiert worden und muss wohl heute “ehemalige Löwenbrücke” genannt werden.  Die traurige Geschichte haben Frank und Ulli in ihrem Blog dokumentiert: https://www.2mecs.de/wp/2014/08/loewenbruecke-berlin-tiergarten/   Unten: So habe ich sie im Juli 2016 vorgefunden.

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Oben: Andi mit Gitarre. Die Geschichte unserer Freundschaft erzähle ich hier: http://wp.me/p3UMZB-1cj

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Danke an Rainer Jacob für Hilfe bei den digitalen Farbkorrekturen.


 

Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

In 3000 Metern Höhe laufe ich nachts bei dichtem Nebel, auf einer Pass-Straße in den Anden, vor dem Jeep, den mein Cousin Johannes steuert. Es ist 1993 und Johannes ist der einzige noch lebende Kluge, außer mir. Deshalb habe ich ihn in Venezuela besucht und ich wollte seine Mutter wiedersehen, Notburga, die ich 1961 kennenlernte, als sie zu uns nach West-Berlin kam, um bei uns zu wohnen. Heute haben wir uns etwas mit der Zeit verschätzt, Johannes hatte wohl auch vor, mit mir ein kleines Abenteuer zu erleben. Dass es so abenteuerlich wird, hat er nicht erwartet.

Ich weiß nicht wie lange ich vor dem Wagen laufend den Weg erkundschaften musste, es war lange und wir sind kaum vorwärts gekommen. Ich bin jedenfalls froh, als die Sicht minimal besser wird und ich wieder einsteigen kann. Müde sind wir nicht, unsere Nebennieren haben reichlich Stesshormone produziert und ich bitte Johannes mir weiter von seinen Eltern zu erzählen.

Auch Notburga hat einen weiten Weg hinter sich, als sie 1952 Wolfgang trifft. Notburgas Vater, Hans Baumgartner, kam aus Siebenbürgen. Während des Medizin-Studiums in Bonn lernt er seine Frau kennen, sie heiraten 1931. Dann ziehen sie nach Rumänien, dort wird bald danach Notburga geboren. Drei weitere Geschwister folgen bis 1941. Dr. Baumgartner, der hier Janos genannt wird, praktiziert als Bezirksarzt in dem von vielen Kulturen geprägten Landstrich. 1939 wird er als Hauptmann zur rumänischen Kavallerie eingezogen wird. Im Lauf des Krieges werden die Militärärzte mehrfach degradiert, Rumänien kann sich den Sold nicht leisten.

Die letzten Kriegsjahre ist Hans verschollen. Die Restfamilie muss Siebenbürgen verlassen, als die Russen näherrücken. Die Mutter läuft mit den vier Kindern zu Fuß nach Deutschland.

Sie haben viel Glück, sie treffen sich wieder. Eine Weile praktiziert Dr. Baumgartner als Dorfarzt im österreichischen Ach an der Salzach, auch aus dem deutschen Burghausen kommen Patienten. Aber als Staatenlose, nur mit Nansen-Pässen versehen, können sie nicht bleiben.

Kofferanhänger der Emigranten-Familie

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Notburgas Eltern entschliessen sich nach Venezuela auszuwandern, dort kann der Doktor seinen Beruf ausüben. Er wird Venezuelas erster Indianerarzt. Dr. Baumgartner lebt eine Zeitlang mit seiner Familie bei den Ureinwohnern Venezuelas in Dschungel. Er wird eine hoch respektierte Persönlichkeit und gehört später zu den wenigen Weißen, dem die Indianer Curare anvertrauen. Das berühmte Pfeilgift lähmt die Muskulatur, der Tod tritt durch Herzstillstand ein. Trotzdem kann man das erjagte Wild bedenkenlos essen, da Curare nur über die Blutbahn giftig ist. In den 50er Jahren wird Dr. Baumgartner Curare an Schering in Berlin verkaufen. Ein willkommener Geldsegen nach den vielen Jahren der materiellen Entbehrung.

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Dr. Baumgartner bei seinen Patienten

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Frau Baumgartner mit Ureinwohnern

Notburga heiratet 1950 und bekommt ein Jahr später eine Tochter, die sie auch Notburga nennt. In der Familie haben wir deshalb die Mutter, die “große” und die Tochter die “kleine” Notburga genannt. 1952 wird eine zweite Tochter geboren, Ingrid. Notburga hat als Kind zweimal die Heimat verloren, dann wird sie als Teenager in den Dschungel geschickt. Die frühe Ehe sollte ihr wohl Halt und Sicherheit geben. Das Gegenteil passiert, die Ehe scheitert. Als die große Notburga Wolfgang kennenlernt, verlieben sich die beiden. Wolfgang gibt Notburga endlich Halt, er übernimmt auch Verantwortung für sie und die Töchter. Bis zu seinen Tode wird Wolfgang für die Familie sorgen.

Sie ziehen zusammen und Wolfgang wird Büroangestellter bei der Pan Am. Nach ein paar Jahren wird Wolfgang sogar regional cargo manager für die Fluglinie, eine bemerkenswerte Karriere für den ehemaligen Kellner und Bauarbeiter. Wolfgang ist ehrgeizig, er will sich hocharbeiten, er glaubt an den amerikanischen Traum und erreicht auch viel, besonders wenn man bedenkt wie steinig seine Lehrjahre waren. Er ist nicht nur hochintelligent, er hat eine sympathische Ausstrahlung, sodass er fast jedermann in kürzester Zeit von sich einzunehmen weiß. Sein großes Ziel ist es aber, sich irgendwann selbständig zu machen und finanziell unabhängig zu sein. Zunächst ist die Familie zufrieden, es geht aufwärts und ein Ende des Aufstiegs ist nicht abzusehen. Wolfgang ist fleißig, er schont sich nicht und Notburga unterstützt ihn dabei.

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Wolfgang, Notburga, die Töchter und Oma Baumgartner im Urwald

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Wolfgang bei seinem Hobby

Nachdem 1958 der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wird, sind Ausländer nicht mehr gern gesehen. Jiménez hat die Immigration gefördert, die Einwanderer sind meist besser gebildet als die Alteingesessenen, es geht ihnen materiell gut, so werden sie zum Ziel des Volkszorns. Die kleine Notburga und Ingrid werden auf dem Schulweg angepöbelt, es ist nicht auszuschließen, dass es noch schlimmer kommt. Also entscheiden Wolfgang und die große Notburga nach Deutschland zu gehen. Leicht fällt ihnen die Entscheidung nicht, Wolfgang wollte eigentlich nicht zurück in das Land, das ihm seine Jugend nahm und für Notburga ist es ein fremdes Land.

1993. Der Nebel lässt endlich nach und wir nähern uns Merida. Als wir ins Ferienhaus zurückkommen, stellen wir fest, dass Notburga während wir auf der nebligen Passstraße unterwegs waren, krank geworden ist. Sie hat hohes Fieber bekommen, offensichtlich hat sie sich sehr um Johannes ihren Sohn und auch mich geängstigt. Nachdem sie viel zu früh ihren Mann Wolfgang verloren hat, macht sie sich nicht nur große Sorgen um Johannes, so etwas wie eine latente posttraumatische Belastungsstörung hat von ihr Besitz ergriffen. Als sie uns heil zurückkehren sieht, geht es ihr langsam besser.

M.K.

Fortsetzung folgt

Alle bisher veröffentlichten Folgen sind hier verlinkt:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait Teil 23 – “Hitlerjunge, Weltenbummel und Clipper Club Caracas” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 1 / 1930-52

(Oben: Wolfgang Kluge als Steward im Clipper Club Caracas)

Im ersten Kapitel finde ich mich nachts auf einer nebligen Pass-Straße in den Anden. Hier erfahre ich, wie ein Berliner Steppke, mein Cousin Wolfgang, in den 1950er Jahren nach Südamerika gekommen ist.

Ich reise nicht gern und das hat seine Gründe. Zum einen hasse ich es, in meinem Bewegungsdrang eingeschränkt zu werden, denn nach dem chinesischen Sternzeichenkreis bin ich Pferd und muss Auslauf haben. Ein paar Stunden im Zug ertrage ich noch, im Flugzeug bekomme ich Zustände und auf den schwankenden Planken eines Schiffs habe ich mich nie wohl gefühlt. Zum anderen schlafe ich in der Fremde schlecht. Daher reise ich selten, doch manchmal muss es eben sein. So besuche ich 1993 zusammen mit meiner Mutter meine Cousine Notburga Kluge und ihren Sohn Johannes in Venezuela. Ihr Mann, Wolfgang Kluge, lebte zu dieser Zeit leider nicht mehr. Nach ein paar Tagen zur Akklimatisierung fliegen wir in die hübsche, kleine Universitätsstadt Merida, die sich auf 1600 Meter in Tallage ins Andenhochland schmiegt. Notburgas Bruder Walter hat dort ein Ferienhaus mit spektakulärem Blick auf den höchsten Berg Venezuelas, den Pico Bolivar der sich 4981 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Wir lassen uns mit dem Hauswart, Ricardito fotografieren. Die Venezolaner nennen Johannes und mich “Wikingos”, Wikinger, weil wir groß und blond sind.

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“Los wikingos” und Ricardito in Merida

Eines Tages beschließt Johannes mit mir auf den höchsten Pass des Landes zu fahren, dem Pico el Aguila, auf dem in 4000 Metern Höhe Vegetation und Luft knapp werden. Nach abenteuerlicher Fahrt über unzählige Haarnadelkurven, neben denen ein freier Fall ins Tal droht, erreichen wir gegen 17 Uhr die Passhöhe, ich bin erstaunt wie schwer mir das Atem holen fällt.

Da es früh dämmert, treten wir bald die Rückkehr an. Hier in Äquatornähe kommt die Dunkelheit schnell und immer pünktlich gegen halb sieben. Als es dunkel wird, haben wir erst wenige der 75 km zurück ins Tal geschafft. Dazu bildet sich ein dichter Nebel, der Jeep hat Nebelscheinwerfer, nur nutzen sie nichts, mit ihnen beträgt die Sicht 2 bis 3 Meter, ohne Licht 5 bis 10, allerdings sehr vage Meter. Nur mit Schritttempo vermeidet Johannes den Absturz.

Ich überlege wieso meine Verwandten ausgerechnet nach Venezuela gekommen sind? Ich denke an den Vater von Johannes, meinen Cousin Wolfgang Kluge, der im Gegensatz zu mir, soviel und so gern reiste, dass sein Pass aus den Nähten platzte. Ich weiß das Wolfgang Anfang der 50er Jahre, nachdem er einige Zeit zur See fuhr, hier in Venezuela landete und dann seine Frau kennenlernte. Viel mehr weiß ich nicht, also bitte ich Johannes mir die Geschichte zu erzählen, während wir Kilometer für Kilometer die Passstraße abwärts schleichen.

“Wolfgang wird 1930 geboren, seine Mutter Frieda muss recht wenig mütterlich gewesen sein und sein Vater, Willy Kluge stirbt als Wolfgang 11 ist. Nun wird die Hitler-Jugend zum Elternersatz für ihn. Die Wanderungen und Ausflüge gefallen ihm, sogar Ski fahren lernt er. Außerdem bringt man den Jungen das Schießen bei.

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Wolfgang in der HJ

Im Januar 1945 wird der 14-jährige aus der Schule geholt. Man steckt ihn in schlecht sitzende Uniformstücke unterschiedlicher Truppenteile und rüstet ihn mit einem K98-Karabiner und einem Drahtesel aus. Beides klapprig und verrostet, eine einzige fabrikneue Panzerfaust ergänzt die Ausrüstung.

Zum Ende des Krieges sitzt er mit seiner Einheit in Bayern, an einem der ebenso schönen wie berühmten Seen. Auf der anderen Seeseite nähert sich eine Kolonne wuchtiger, amerikanischer Sherman-Tanks, die die jungen Burschen unter Aufopferung ihrer Leben, für Führer und Vaterland, in ihrem Fortkommen behindern sollen, wenn möglich bis zum Endsieg.

Ihr Kommandeur, ein älterer SS-Offizier, lässt sie antreten und befiehlt ihnen kurz und schneidig, ihre gesamten Waffen im See zu versenken. Das haben die Rotznasen auch sofort getan, wahrscheinlich haben sie vermutet, nun bekämen sie die von der Propaganda beschworenen Wunderwaffen ausgehändigt. Daraus wird nichts, der Offizier befiehlt ihnen, sich aus dem Staub zu machen, sich Zivilklamotten zu besorgen und dann nach Hause zu laufen. Am liebsten hätten die Jungs den Vaterlandsverräter auf der Stelle erschossen, aber ihre Waffen lagen ja nun auf dem Grund des Sees und der Kommandierende hatte noch seine MP…

Also haben sie sich aufgemacht und bald danach einen alten Opel “organisiert”. Damit kamen sie der Heimat einige wenige Kilometer näher, doch dann werden sie von G.I.s aufgegabelt und wegen Diebstahls vor Gericht gestellt. Das Verfahren ist kurz: “Uieh haissn daine Faddör? Uieh haissn daine Muddör? Four Days!!!” Als sie nach vier Tagen aus dem Knast kommen (sie wären gerne etwas länger geblieben, denn da hatten sie wenigstens etwas zu Essen bekommen) sehen sie “ihren” Opel schon in flottem Olivgrün und mit weißem Stern im Hof stehen.

Als Wolfgang endlich in Berlin ankommt erfährt er, seine Mutter ist mit dem Stiefvater nach Belgien gezogen. In Hamburg stecken ihn die Briten wieder ins Kittchen, das Gute daran ist, hier trifft er seinen zwei Jahre älteren Bruder Ino. Die Engländer begreifen schnell, dass die beiden keine großen Kriegsverbrecher waren und lassen sie laufen.

Für die Jungen, deren ganzes Leben von der Propaganda der Nazi-Diktatur begleitet wurde, ist der Zusammenbruch Nazi-Deutschlands traumatisch. Jetzt erweist sich, dass alles woran sie geglaubt haben Lügen waren. Eine ganze Generation wacht auf und findet sich in einem Alptraum von Zerstörung und Schuld wieder. Die meisten lernen zu verdrängen. Wolfgang ist nicht bereit zu vergessen, wahrscheinlich kann er es nicht. Während die Mehrheit der Deutschen sich bald mit dem sogenannten Wirtschaftswunder betäubt und alte Nazis auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Karriere machen, als sei nichts geschehen, will Wolfgang auf Abstand zum schwierigen Vaterland gehen. Bei der kühlen, zänkischen Mutter in Belgien möchte er auch nicht bleiben.

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Wolfgang als Reiseagent in Belgien

Nachdem er zwei Jahre für eine auf Flugreisen spezialisierte Reiseagentur gearbeitet hat verlässt Europa, zusammen mit seinem Bruder Ino lässt er sich um die Welt treiben. Die Brüder nehmen fast jeden Job an, zeitweise treten sie sogar als Step-Tänzer auf. Ihr eigentlicher Plan ist es, nach Südafrika auszuwandern. Sie heuern auf Schiffen an. Sie sehen Bombay, durchqueren als Matrosen auf einem Tanker den Persischen Golf, dann wechseln sie auf einen norwegischen Frachter. 1951 landen sie in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. Hier ist es immer warm, die Menschen sind freundlich, niemand stört sich daran, dass Wolfgang Deutscher ist. Venezuela gefällt ihm gut, es wird sein neues Heimatland werden.

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Bauarbeiter in Venezuela

Zunächst schuftet er auf dem Bau, dann hat er die Möglichkeit als Steward im exklusiven Clipper-Club von Pan American Airways in Caracas zu arbeiten. Im Vergleich zum zerstörten Deutschland muss es dort traumhaft gewesen sein. Die Clipper Clubs waren luxuriöse Lounges der legendären Fluglinie, die anfangs nur auf Empfehlung und später auch gegen eine saftige Gebühr ihre Türen öffneten. Zu dieser Zeit, Anfang der 50er Jahre lernt Wolfgang seine spätere Frau, Notburga, kennen.”

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Als Steward im Clipper Club

1993. Der Nebel auf der schmalen, kurvigen Passstraße in den Anden wird immer dicker. Johannes bleibt stehen, er sieht die Straße nicht mehr und ohne jede Sicherung droht direkt neben dem Straßenrand der Absturz ins tausende Meter tiefere Tal. Ich steige aus und laufe vor dem Jeep, damit Johannes wenigstens langsam weiter fahren kann.

Fortsetzung folgt.

Kapitel 2: Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-1s7

Alle Folgen der Serie findet ihr hier:

http://wp.me/P3UMZB-1

Familienportrait Teil 24 – “Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

In 3000 Metern Höhe laufe ich nachts bei dichtem Nebel, auf einer Pass-Straße in den Anden, vor dem Jeep, den mein Cousin Johannes steuert. Es ist 1993 und Johannes ist der einzige noch lebende Kluge, außer mir. Deshalb habe ich ihn in Venezuela besucht und ich wollte seine Mutter wiedersehen, Notburga, die ich 1961 kennenlernte, als sie zu uns nach West-Berlin kam, um bei uns zu wohnen. Heute haben wir uns etwas mit der Zeit verschätzt, Johannes hatte wohl auch vor, mit mir ein kleines Abenteuer zu erleben. Dass es so abenteuerlich wird, hat er nicht erwartet.

Ich weiß nicht wie lange ich vor dem Wagen laufend den Weg erkundschaften musste, es war lange und wir sind kaum vorwärts gekommen. Ich bin jedenfalls froh, als die Sicht minimal besser wird und ich wieder einsteigen kann. Müde sind wir nicht, unsere Nebennieren haben reichlich Stesshormone produziert und ich bitte Johannes mir weiter von seinen Eltern zu erzählen.

Auch Notburga hat einen weiten Weg hinter sich, als sie 1952 Wolfgang trifft. Notburgas Vater, Hans Baumgartner, kam aus Siebenbürgen. Während des Medizin-Studiums in Bonn lernt er seine Frau kennen, sie heiraten 1931. Dann ziehen sie nach Rumänien, dort wird bald danach Notburga geboren. Drei weitere Geschwister folgen bis 1941. Dr. Baumgartner, der hier Janos genannt wird, praktiziert als Bezirksarzt in dem von vielen Kulturen geprägten Landstrich. 1939 wird er als Hauptmann zur rumänischen Kavallerie eingezogen wird. Im Lauf des Krieges werden die Militärärzte mehrfach degradiert, Rumänien kann sich den Sold nicht leisten.

Die letzten Kriegsjahre ist Hans verschollen. Die Restfamilie muss Siebenbürgen verlassen, als die Russen näherrücken. Die Mutter läuft mit den vier Kindern zu Fuß nach Deutschland.

Sie haben viel Glück, sie treffen sich wieder. Eine Weile praktiziert Dr. Baumgartner als Dorfarzt im österreichischen Ach an der Salzach, auch aus dem deutschen Burghausen kommen Patienten. Aber als Staatenlose, nur mit Nansen-Pässen versehen, können sie nicht bleiben.

Kofferanhänger der Emigranten-Familie

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Notburgas Eltern entschliessen sich nach Venezuela auszuwandern, dort kann der Doktor seinen Beruf ausüben. Er wird Venezuelas erster Indianerarzt. Dr. Baumgartner lebt eine Zeitlang mit seiner Familie bei den Ureinwohnern Venezuelas in Dschungel. Er wird eine hoch respektierte Persönlichkeit und gehört später zu den wenigen Weißen, dem die Indianer Curare anvertrauen. Das berühmte Pfeilgift lähmt die Muskulatur, der Tod tritt durch Herzstillstand ein. Trotzdem kann man das erjagte Wild bedenkenlos essen, da Curare nur über die Blutbahn giftig ist. In den 50er Jahren wird Dr. Baumgartner Curare an Schering in Berlin verkaufen. Ein willkommener Geldsegen nach den vielen Jahren der materiellen Entbehrung.

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Dr. Baumgartner bei seinen Patienten

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Frau Baumgartner mit Ureinwohnern

Notburga heiratet 1950 und bekommt ein Jahr später eine Tochter, die sie auch Notburga nennt. In der Familie haben wir deshalb die Mutter, die “große” und die Tochter die “kleine” Notburga genannt. 1952 wird eine zweite Tochter geboren, Ingrid. Notburga hat als Kind zweimal die Heimat verloren, dann wird sie als Teenager in den Dschungel geschickt. Die frühe Ehe sollte ihr wohl Halt und Sicherheit geben. Das Gegenteil passiert, die Ehe scheitert. Als die große Notburga Wolfgang kennenlernt, verlieben sich die beiden. Wolfgang gibt Notburga endlich Halt, er übernimmt auch Verantwortung für sie und die Töchter. Bis zu seinen Tode wird Wolfgang für die Familie sorgen.

Sie ziehen zusammen und Wolfgang wird Büroangestellter bei der Pan Am. Nach ein paar Jahren wird Wolfgang sogar regional cargo manager für die Fluglinie, eine bemerkenswerte Karriere für den ehemaligen Kellner und Bauarbeiter. Wolfgang ist ehrgeizig, er will sich hocharbeiten, er glaubt an den amerikanischen Traum und erreicht auch viel, besonders wenn man bedenkt wie steinig seine Lehrjahre waren. Er ist nicht nur hochintelligent, er hat eine sympathische Ausstrahlung, sodass er fast jedermann in kürzester Zeit von sich einzunehmen weiß. Sein großes Ziel ist es aber, sich irgendwann selbständig zu machen und finanziell unabhängig zu sein. Zunächst ist die Familie zufrieden, es geht aufwärts und ein Ende des Aufstiegs ist nicht abzusehen. Wolfgang ist fleißig, er schont sich nicht und Notburga unterstützt ihn dabei.

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Wolfgang, Notburga, die Töchter und Oma Baumgartner im Urwald

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Wolfgang bei seinem Hobby

Nachdem 1958 der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wird, sind Ausländer nicht mehr gern gesehen. Jiménez hat die Immigration gefördert, die Einwanderer sind meist besser gebildet als die Alteingesessenen, es geht ihnen materiell gut, so werden sie zum Ziel des Volkszorns. Die kleine Notburga und Ingrid werden auf dem Schulweg angepöbelt, es ist nicht auszuschließen, dass es noch schlimmer kommt. Also entscheiden Wolfgang und die große Notburga nach Deutschland zu gehen. Leicht fällt ihnen die Entscheidung nicht, Wolfgang wollte eigentlich nicht zurück in das Land, das ihm seine Jugend nahm und für Notburga ist es ein fremdes Land.

1993. Der Nebel lässt endlich nach und wir nähern uns Merida. Als wir ins Ferienhaus zurückkommen, stellen wir fest, dass Notburga während wir auf der nebligen Passstraße unterwegs waren, krank geworden ist. Sie hat hohes Fieber bekommen, offensichtlich hat sie sich sehr um Johannes ihren Sohn und auch mich geängstigt. Nachdem sie viel zu früh ihren Mann Wolfgang verloren hat, macht sie sich nicht nur große Sorgen um Johannes, so etwas wie eine latente posttraumatische Belastungsstörung hat von ihr Besitz ergriffen. Als sie uns heil zurückkehren sieht, geht es ihr langsam besser.

M.K.

Fortsetzung folgt

Alle bisher veröffentlichten Folgen sind hier verlinkt:

„Familienportrait” – Die Serie

Familienportrait Teil 23 – “Hitlerjunge, Weltenbummel und Clipper Club Caracas” / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 1 / 1930-52

(Oben: Wolfgang Kluge als Steward im Clipper Club Caracas)

Im ersten Kapitel finde ich mich nachts auf einer nebligen Pass-Straße in den Anden. Hier erfahre ich, wie ein Berliner Steppke, mein Cousin Wolfgang, in den 1950er Jahren nach Südamerika gekommen ist.

Ich reise nicht gern und das hat seine Gründe. Zum einen hasse ich es, in meinem Bewegungsdrang eingeschränkt zu werden, denn nach dem chinesischen Sternzeichenkreis bin ich Pferd und muss Auslauf haben. Ein paar Stunden im Zug ertrage ich noch, im Flugzeug bekomme ich Zustände und auf den schwankenden Planken eines Schiffs habe ich mich nie wohl gefühlt. Zum anderen schlafe ich in der Fremde schlecht. Daher reise ich selten, doch manchmal muss es eben sein. So besuche ich 1993 zusammen mit meiner Mutter meine Cousine Notburga Kluge und ihren Sohn Johannes in Venezuela. Ihr Mann, Wolfgang Kluge, lebte zu dieser Zeit leider nicht mehr. Nach ein paar Tagen zur Akklimatisierung fliegen wir in die hübsche, kleine Universitätsstadt Merida, die sich auf 1600 Meter in Tallage ins Andenhochland schmiegt. Notburgas Bruder Walter hat dort ein Ferienhaus mit spektakulärem Blick auf den höchsten Berg Venezuelas, den Pico Bolivar der sich 4981 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Wir lassen uns mit dem Hauswart, Ricardito fotografieren. Die Venezolaner nennen Johannes und mich “Wikingos”, Wikinger, weil wir groß und blond sind.

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“Los wikingos” und Ricardito in Merida

Eines Tages beschließt Johannes mit mir auf den höchsten Pass des Landes zu fahren, dem Pico el Aguila, auf dem in 4000 Metern Höhe Vegetation und Luft knapp werden. Nach abenteuerlicher Fahrt über unzählige Haarnadelkurven, neben denen ein freier Fall ins Tal droht, erreichen wir gegen 17 Uhr die Passhöhe, ich bin erstaunt wie schwer mir das Atem holen fällt.

Da es früh dämmert, treten wir bald die Rückkehr an. Hier in Äquatornähe kommt die Dunkelheit schnell und immer pünktlich gegen halb sieben. Als es dunkel wird, haben wir erst wenige der 75 km zurück ins Tal geschafft. Dazu bildet sich ein dichter Nebel, der Jeep hat Nebelscheinwerfer, nur nutzen sie nichts, mit ihnen beträgt die Sicht 2 bis 3 Meter, ohne Licht 5 bis 10, allerdings sehr vage Meter. Nur mit Schritttempo vermeidet Johannes den Absturz.

Ich überlege wieso meine Verwandten ausgerechnet nach Venezuela gekommen sind? Ich denke an den Vater von Johannes, meinen Cousin Wolfgang Kluge, der im Gegensatz zu mir, soviel und so gern reiste, dass sein Pass aus den Nähten platzte. Ich weiß das Wolfgang Anfang der 50er Jahre, nachdem er einige Zeit zur See fuhr, hier in Venezuela landete und dann seine Frau kennenlernte. Viel mehr weiß ich nicht, also bitte ich Johannes mir die Geschichte zu erzählen, während wir Kilometer für Kilometer die Passstraße abwärts schleichen.

“Wolfgang wird 1930 geboren, seine Mutter Frieda muss recht wenig mütterlich gewesen sein und sein Vater, Willy Kluge stirbt als Wolfgang 11 ist. Nun wird die Hitler-Jugend zum Elternersatz für ihn. Die Wanderungen und Ausflüge gefallen ihm, sogar Ski fahren lernt er. Außerdem bringt man den Jungen das Schießen bei.

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Wolfgang in der HJ

Im Januar 1945 wird der 14-jährige aus der Schule geholt. Man steckt ihn in schlecht sitzende Uniformstücke unterschiedlicher Truppenteile und rüstet ihn mit einem K98-Karabiner und einem Drahtesel aus. Beides klapprig und verrostet, eine einzige fabrikneue Panzerfaust ergänzt die Ausrüstung.

Zum Ende des Krieges sitzt er mit seiner Einheit in Bayern, an einem der ebenso schönen wie berühmten Seen. Auf der anderen Seeseite nähert sich eine Kolonne wuchtiger, amerikanischer Sherman-Tanks, die die jungen Burschen unter Aufopferung ihrer Leben, für Führer und Vaterland, in ihrem Fortkommen behindern sollen, wenn möglich bis zum Endsieg.

Ihr Kommandeur, ein älterer SS-Offizier, lässt sie antreten und befiehlt ihnen kurz und schneidig, ihre gesamten Waffen im See zu versenken. Das haben die Rotznasen auch sofort getan, wahrscheinlich haben sie vermutet, nun bekämen sie die von der Propaganda beschworenen Wunderwaffen ausgehändigt. Daraus wird nichts, der Offizier befiehlt ihnen, sich aus dem Staub zu machen, sich Zivilklamotten zu besorgen und dann nach Hause zu laufen. Am liebsten hätten die Jungs den Vaterlandsverräter auf der Stelle erschossen, aber ihre Waffen lagen ja nun auf dem Grund des Sees und der Kommandierende hatte noch seine MP…

Also haben sie sich aufgemacht und bald danach einen alten Opel “organisiert”. Damit kamen sie der Heimat einige wenige Kilometer näher, doch dann werden sie von G.I.s aufgegabelt und wegen Diebstahls vor Gericht gestellt. Das Verfahren ist kurz: “Uieh haissn daine Faddör? Uieh haissn daine Muddör? Four Days!!!” Als sie nach vier Tagen aus dem Knast kommen (sie wären gerne etwas länger geblieben, denn da hatten sie wenigstens etwas zu Essen bekommen) sehen sie “ihren” Opel schon in flottem Olivgrün und mit weißem Stern im Hof stehen.

Als Wolfgang endlich in Berlin ankommt erfährt er, seine Mutter ist mit dem Stiefvater nach Belgien gezogen. In Hamburg stecken ihn die Briten wieder ins Kittchen, das Gute daran ist, hier trifft er seinen zwei Jahre älteren Bruder Ino. Die Engländer begreifen schnell, dass die beiden keine großen Kriegsverbrecher waren und lassen sie laufen.

Für die Jungen, deren ganzes Leben von der Propaganda der Nazi-Diktatur begleitet wurde, ist der Zusammenbruch Nazi-Deutschlands traumatisch. Jetzt erweist sich, dass alles woran sie geglaubt haben Lügen waren. Eine ganze Generation wacht auf und findet sich in einem Alptraum von Zerstörung und Schuld wieder. Die meisten lernen zu verdrängen. Wolfgang ist nicht bereit zu vergessen, wahrscheinlich kann er es nicht. Während die Mehrheit der Deutschen sich bald mit dem sogenannten Wirtschaftswunder betäubt und alte Nazis auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Karriere machen, als sei nichts geschehen, will Wolfgang auf Abstand zum schwierigen Vaterland gehen. Bei der kühlen, zänkischen Mutter in Belgien möchte er auch nicht bleiben.

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Wolfgang als Reiseagent in Belgien

Nachdem er zwei Jahre für eine auf Flugreisen spezialisierte Reiseagentur gearbeitet hat verlässt Europa, zusammen mit seinem Bruder Ino lässt er sich um die Welt treiben. Die Brüder nehmen fast jeden Job an, zeitweise treten sie sogar als Step-Tänzer auf. Ihr eigentlicher Plan ist es, nach Südafrika auszuwandern. Sie heuern auf Schiffen an. Sie sehen Bombay, durchqueren als Matrosen auf einem Tanker den Persischen Golf, dann wechseln sie auf einen norwegischen Frachter. 1951 landen sie in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. Hier ist es immer warm, die Menschen sind freundlich, niemand stört sich daran, dass Wolfgang Deutscher ist. Venezuela gefällt ihm gut, es wird sein neues Heimatland werden.

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Bauarbeiter in Venezuela

Zunächst schuftet er auf dem Bau, dann hat er die Möglichkeit als Steward im exklusiven Clipper-Club von Pan American Airways in Caracas zu arbeiten. Im Vergleich zum zerstörten Deutschland muss es dort traumhaft gewesen sein. Die Clipper Clubs waren luxuriöse Lounges der legendären Fluglinie, die anfangs nur auf Empfehlung und später auch gegen eine saftige Gebühr ihre Türen öffneten. Zu dieser Zeit, Anfang der 50er Jahre lernt Wolfgang seine spätere Frau, Notburga, kennen.”

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Als Steward im Clipper Club

1993. Der Nebel auf der schmalen, kurvigen Passstraße in den Anden wird immer dicker. Johannes bleibt stehen, er sieht die Straße nicht mehr und ohne jede Sicherung droht direkt neben dem Straßenrand der Absturz ins tausende Meter tiefere Tal. Ich steige aus und laufe vor dem Jeep, damit Johannes wenigstens langsam weiter fahren kann.

Fortsetzung folgt.

Alle Folgen der Serie findet ihr hier:

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Familienportrait – Siebenbürgen, Curare und erneute Vertreibung / Die Ballade von Wolfgang und Notburga / Kapitel 2 / 1931-61

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In 3000 Metern Höhe laufe ich nachts bei dichtem Nebel, auf einer Passstraße in den Anden vor dem Jeep, den mein Cousin Johannes steuert. Es ist 1993 und Johannes ist der einzige noch lebende Kluge, außer mir. Deshalb habe ich ihn in Venezuela besucht und um seine Mutter wiederzusehen, Notburga, die ich 1961 kennenlernte, als sie zu uns nach West-Berlin kam, um bei uns zu wohnen. Heute haben wir uns etwas mit der Zeit verschätzt, Johannes hatte wohl auch vor ein kleines Abenteuer zu erleben, dass es so abenteuerlich wird, hat er nicht erwartet.

Ich weiß nicht wie lange ich vor dem Wagen laufend den Weg erkundschaften musste, es war lange und wir sind kaum vorwärts gekommen. Ich bin jedenfalls froh, als die Sicht minimal besser wird und ich wieder einsteigen kann. Müde sind wir nicht, unsere Nebennieren haben reichlich Stesshormone produziert und ich bitte Johannes mir weiter von seinen Eltern zu erzählen.

Auch Notburga hat einen weiten Weg hinter sich, als sie 1952 Wolfgang trifft. Notburgas Vater, Hans Baumgartner, kam aus Siebenbürgen. Während des Medizin-Studiums in Bonn lernt er seine Frau kennen, sie heiraten 1931. Dann ziehen sie nach Rumänien, dort wird bald danach Notburga geboren. Drei weitere Geschwister folgen bis 1941. Dr. Baumgartner, der hier Janos genannt wird, praktiziert als Bezirksarzt in dem von vielen Kulturen geprägten Landstrich. 1939 wird er als Hauptmann zur rumänischen Kavallerie eingezogen wird. Im Lauf des Krieges werden die Militärärzte mehrfach degradiert, Rumänien kann sich den Sold nicht leisten.

Die letzten Kriegsjahre ist Hans verschollen. Die Restfamilie muss Siebenbürgen verlassen, als die Russen näherrücken. Die Mutter läuft mit den vier Kindern zu Fuß nach Deutschland.

Sie haben viel Glück, sie treffen sich wieder. Eine Weile praktiziert Dr. Baumgartner als Dorfarzt im österreichischen Ach an der Salzach, auch aus dem deutschen Burghausen kommen Patienten. Aber als Staatenlose, nur mit Nansen-Pässen versehen, können sie nicht bleiben.

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Kofferanhänger der Emigranten-Familie

Notburgas Eltern entschliessen sich nach Venezuela auszuwandern, dort kann der Doktor seinen Beruf ausüben. Er wird Venezuelas erster Indianerarzt. Dr. Baumgartner lebt eine Zeitlang mit seiner Familie bei den Ureinwohnern Venezuelas in Dschungel. Er wird eine hoch respektierte Persönlichkeit und gehört später zu den wenigen Weißen, dem die Indianer Curare anvertrauen. Das berühmte Pfeilgift lähmt die Muskulatur, der Tod tritt durch Herzstillstand ein. Trotzdem kann man das erjagte Wild bedenkenlos essen, da Curare nur über die Blutbahn giftig ist. In den 50er Jahren wird Dr. Baumgartner Curare an Schering in Berlin verkaufen. Ein willkommener Geldsegen nach den vielen Jahren der materiellen Entbehrung.

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Dr. Baumgartner bei seinen Patienten

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Frau Baumgartner mit Ureinwohnern

Notburga heiratet 1950 und bekommt ein Jahr später eine Tochter, die sie auch Notburga nennt. In der Familie haben wir deshalb die Mutter, die “große” und die Tochter die “kleine” Notburga genannt. 1952 wird eine zweite Tochter geboren, Ingrid. Notburga hat als Kind zweimal die Heimat verloren, dann wird sie als Teenager in den Dschungel geschickt. Die frühe Ehe sollte ihr wohl Halt und Sicherheit geben. Das Gegenteil passiert, die Ehe scheitert. Als die große Notburga Wolfgang kennenlernt, verlieben sich die Beiden. Wolfgang gibt Notburga endlich Halt, er übernimmt auch Verantwortung für sie und die Töchter. Bis zu seinen Tode wird Wolfgang für die Familie sorgen.

Sie ziehen zusammen und Wolfgang wird Büroangestellter bei der Pan Am. Nach ein paar Jahren wird Wolfgang sogar regional cargo manager für die Fluglinie, eine bemerkenswerte Karriere für den ehemaligen Kellner und Bauarbeiter. Wolfgang ist ergeizig, er will sich hocharbeiten, er glaubt an den amerikanischen Traum und erreicht auch viel, besonders wenn man bedenkt wie steinig seine Lehrjahre waren. Er ist nicht nur hochintelligent, er hat eine sympathische Ausstrahlung, sodass er fast jedermann in kürzester Zeit von sich einzunehmen weiß. Sein großes Ziel ist es aber, sich irgendwann selbständig zu machen und finanziell unabhängig zu sein.Zunächst ist die Familie zufrieden, es geht aufwärts und ein Ende des Aufstiegs ist nicht abzusehen. Wolfgang ist fleißig, er schont sich nicht und Notburga unterstützt ihn dabei.

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Wolfgang, Notburga, die Töchter und Oma Baumgartner im Urwald

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Wolfgang

Nachdem 1958 der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wird, sind Ausländer nicht mehr gern gesehen. Jiménez hat die Immigration gefördert, die Einwanderer sind meist besser gebildet als die Alteingesessenen, es geht ihnen materiell gut, so werden sie zum Ziel des Volkszorns. Die kleine Notburga und Ingrid werden auf dem Schulweg angepöbelt, es ist nicht auszuschließen, dass es noch schlimmer kommt. Also entscheiden Wolfgang und die große Notburga nach Deutschland zu gehen. Leicht fällt ihnen die Entscheidung nicht, Wolfgang wollte eigentlich nicht zurück in das Land, das ihm seine Jugend nahm und für Notburga ist es ein fremdes Land.

1993. Der Nebel lässt endlich nach und wir nähern uns Merida. Als wir ins Ferienhaus zurück kommen, stellen wir fest, dass Notburga während wir auf der nebligen Passstraße unterwegs waren, krank geworden ist. Sie hat hohes Fieber bekommen, offensichtlich hat sie sich sehr um Johannes ihren Sohn und auch mich geängstigt. Nachdem sie viel zu früh ihren Mann Wolfgang verloren hat, macht sie sich nicht nur große Sorgen um Johannes, so etwas wie eine latente posttraumatische Belastungsstörung hat von ihr Besitz ergriffen. Als sie uns heil zurückkehren sieht, geht es ihr langsam besser.

Fortsetzung folgt

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