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Berlinische Leben – “Der Kebabtraum” / “Helden ’81” Kapitel Zwölf / von Marcus Kluge / 1981

Das “Tempodrom-Kapitel” meines unveröffentlichten Romans “Helden ’81”.

Normalerweise fanden Punk- und andere Rock-Konzerte in meist mehr oder weniger schmuddligen Klubs statt, am Abend oder in der Nacht, vor einem ziemlich betrunkenen oder auch bedingtem Publikum. Das Tempodrom bot eine Alternative, in einem Zirkuszelt fanden oft schon am Nachmittag Auftritte der angesagtesten Berliner und auswärtigen Bands statt. Die ehemalige Krankenschwester Irene Moessinger hatte sich mit Hilfe einer Erbschaft den Traum erfüllt Zirkusdirektorin zu werden. 1980 machte sie ihr Etablissement am Potsdamer Platz auf und im März 1981 war sie schon wieder pleite. Glücklicherweise entdeckte zu dieser Zeit der Berliner Senat sein Herz für die Off- und Sub-Kultur der Stadt und mit einer Finanzhilfe ging der Spielbetrieb weiter. Der verwaiste Potsdamer Platz war auf jeden Fall eine geniale Ortswahl der Chefin. Wenn man mit Besuchern auf dem weitgehend leeren Platz am Rande der Berliner Mauer stand, konnte sich niemand vorstellen, dass hier einmal das Herz der drittgrößten Stadt der Welt schlug; in den 1920er Jahren war der Platz tatsächlich der verkehrreichste weltweit. Von einem Trödelmarkt am Wochenende und ein paar Souvenirständen abgesehen, herrschte dort bis 1980 gähnende Leere.

Am Wochenende hatten die Veranstaltungen im Tempodrom ein wenig den Charakter von alternativen Sonntagsspaziergängen, man zeigte sich und traf alte und neue Bekannte. Eigentlich sollte an diesem Sonntag ein Punkfestival mit auswärtigen Bands stattfinden, doch nachdem die meisten abgesagt hatten, machte das Booking ein Line-Up aus Berliner Bands daraus, die eigentlich gar nicht zusammenpassten, nur Slime blieb als einziger Import übrig. Nach einer unbekannten Schülerband mussten die Politpunks Slime auf dem undankbaren zweiten Platz um 17 Uhr spielen.

Ich kam natürlich mal wieder zu früh. Kurz vor 14 Uhr war der Haupteingang noch verrammelt, aber ich fand schnell den “Lieferanteneingang”. Aus dem Zirkuszelt kamen punkige Töne, dort war es ziemlich kalt, bis zum Beginn in drei Stunden würden die aufgestellten Heizungen hoffentlich Wirkung zeigen. Auf der Bühne erkannte ich “Slime“, ich machte schonmal ein paar Bilder mit meiner alten Spiegelreflex-Kamera. Dann suchte ich mir einen Weg hinter die Bühne und wartete auf die Musiker. Das Interview fand stilgemäß in einem Zirkuswagen statt. Ein kleiner Bullerofen bullerte vor sich hin und auf den Tisch hatten nette Heinzelmännchen Thermoskannen mit heißem Tee und Kaffee gestellt. Neben den Bandmitgliedern Dirk, Elf und dem Drummer Stephan war noch eine Frau dabei, die nichts sagte. An Anfang waren die drei etwas zurückhaltend, dann merkten sie, dass ich kein sturer Politfreak war und das Gespräch wurde freundlicher. Wir sprachen über “Bullenschweine“, das bekannteste und umstrittenste Stück der Gruppe, über politisches Engagement, Geld und Faschos. Mein alter Kassettenrekorder lief und nahm alles auf. Ich musste unbedingt daran denken nach 45 Minuten umzudrehen. Es klappte nur weil das Mädchen stumm im richtigen Moment die Kassette umdrehte und wieder Play und Record gleichzeitig drückte. Ich dankte ihr kopfnickend.
Mein erstes Interview lief hervorragend, über manche Sätze wie: “Eine Zensur findet natürlich statt!”, oder: “Die taz ist ‘ne Schweinezeitung!”, freute ich mich und sah sie schon als Zwischenüberschriften. Kurz bevor das Tape zu ende war, hatten die Jungs genug und nachdem ich vor dem Zirkuswagen noch ein paar Fotos geschossen hatte, packte ich zufrieden meinen Kram zusammen. Die Band hatte sich sogar freundlich bei mir bedankt und freute sich auf die Veröffentlichung. Hoffentlich würde Papparazzi meinen Text auch nehmen. Ich rechnete schon mal aus, was damit verdienen würde. Die taz zahlte 75 Pfennige für die Zeile und 30.- Mark für ein Foto. 300.- Mark müssten drin sein, ich rieb mir die Hände, meine erste journalistische Arbeit.

Inzwischen hatte sich das Gelände belebt, es spielte noch keine Band, aber viele Besucher standen Schlange, um Bier zu kaufen und ich schloss mich an. Roberto und August hatte ich zu 18 Uhr bestellt, ich wollte vorher noch in Ruhe den Auftritt von “Slime” sehen. Aber im Prinzip war meine Arbeit getan und ich konnte mich ein bißchen bespaßen. Die Vor-Band war ziemlich schlecht und als ich das Zelt wieder verließ, kam mir Uschi entgegen, die Mitbewohnerin von Gudrun. Sie hatte zwar wieder ihre schwarze Lederjacke an, aber diesmal trug sie mehr als nur einen grünen BH darunter. Ein enger schwarzer Pullover modellierte ihre Brüste und ein ebenfalls schwarzer Lack-Minirock ließ viel von ihren fischnetzgemusterten Beinen sehen. Mit einem Bier in der Hand sprach mich Uschi an:
“Na du? Ich dachte, du bist jetzt Familienvater in Neukölln. Hat’s nicht geklappt mit Gudrun?”
“Ja, stimmt auffallend genau. Es gab da ein Missverständnis. Aber wieso weißt du nichts davon, hat dir Gudrun nichts erzählt?”
“Nee, sie mir nix erzählt. Schon, weil ich nicht mehr da wohne. Sie hat mich nämlich rausgeschmissen. Deshalb dachte ich, du wärst jetzt schon eingezogen.”
“Wieso hat sie dich rausgeworfen?”
“Keine Ahnung, es gab Streit und ich hatte keine Lust klein beizugeben.”
“Das glaube ich dir aufs Wort. Sag mal wollen wir reingehen, ich glaube MDK spielen jetzt.”

Drinnen tobte das Mekanik Destrüktiw Kommandöh, die Jungs machten einen rauen Punk und provozierten gern das Publikum, bis sie mit “Spaß muss sein” die Spannung auflösten. Mit dem Sänger Volker und Bassmann Edgar hatte ich mal im SO36 Bier getrunken und einen sehr sympathischen Eindruck gehabt. Uschi und ich tanzten bis ich Roberto ins Zelt kommen sah.
Ich begrüßte ihn und schlug vor, dass wir Uschi mit in unsere Planungen einbeziehen sollten, er war sofort einverstanden. Roberto holte drei Bier von der Bar und wir stellten uns an einen Biertisch und erklärten Uschi, worum es ging. Wie konnten wir Alex Legrand die wertvolle Leica abluchsen, ohne das wir in Gefahr gerieten, in den Knast zu kommen?

Ich hatte Roberto vorbereitet, dass August seinem vermeintlich toten Freund Ari sehr ähnlich sah, trotzdem stand Roberto mit weit geöffnetem Mund, staunend da, als August Deter uns entdeckt hatte und auf uns zu kam. August trug wieder seinen schwarzen Trench-Coat mit hochgestelltem Kragen, der ihm ein wenig das Aussehen von Graf Dracula, oder auch Graf Zahl aus der Sesamstraße gab. August gab uns allen höflich die Hand, Uschi zuerst, dann mir und als er Roberto seine Hand reichte, stammelte dieser fragend:
“Ari, bist du das?”
August zuckte mit den Schultern und antwortete:
“Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wer ich bin. Aber wenn ich dich so angucke, kommst du mir schon bekannt vor.”, er trat auf Roberto zu und umarmte ihn. August hatte wohl spontan beschlossen Roberto zu mögen und Roberto lies sich darauf ein.
Inzwischen war Umbaupause und ich machte einen Vorschlag:
“Sagt mal, wollen wir uns nicht irgendwo ein ruhiges Plätzchen suchen für unser Palaver? Im Moment ist es noch ruhig, weil Pause ist, aber danach spielen, glaube ich, ‘ne Hardcore-Band, dann wird’s so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht mehr hören.”
Uschi schlug vor in das kleinere Zelt zu gehen, wo man Getränke und Snacks kaufen konnte. Dort war es leider sehr voll und wir standen planlos am Eingang, bis mir eine Idee kam:
“Kommt mal mit, wir probieren mal was.”
Ich führte die kleine Gruppe zu dem Zirkus-Wohnwagen, indem ich am Nachmittag das Slime-Interview gemacht hatte und es war tatsächlich leer, der kleine Ofen war noch heiß und wir machten es uns gemütlich. Roberto hatte einen Jutebeutel dabei, aus dem er Mini-Flaschen mit Magenbitter hervorzauberte und verteilte. Gestärkt eröffnete ich die Diskussion:
“Ich könnte mir vorstellen, wenn wir Alex Legrand die ganze Geschichte erzählen, können wir ihn bei seiner Ehre packen. Sowas wie, er würde die Leica eigentlich unrechtmäßig besitzen und moralisch betrachtet gehörte die Kamera Robertos Familie. Und wenn er sie uns nicht gibt, tun die Gangster der Familie was an.”
Roberto schüttelte den Kopf:
“Nee, der wird sagen, geht doch zur Polizei, die kann euch schützen. Ich kann ihm doch nicht verraten, dass es um eine illegale Drogen-Schmuggelei ging bei diesem Darlehen und das ich unter Beobachtung eines Bewährungshelfers stehe. Dann bin ich doch gleich unten durch bei ihm. Außerdem hat er die Kamera ganz legal bei einem Trödler in Bratislava gekauft, wieso soll er ein schlechtes Gewissen haben?”
Jetzt dachte Uschi laut nach:
“Hat Legrand denn irgendeine Schwäche? Glücksspiel oder Drogen? Nee? Na dann Sex. Ich könnte ihn verführen und dann erpressen wir ihn? Was macht er denn so, hat er ‘ne Frau? Erzähl doch mal ein bißchen was über ihn, Roberto.”
Roberto erzählte was er über die aktuelle Situation des Schauspielers herausbekommen hatte:
“Die Villa am Wannsee hat er nicht mehr, offensichtlich geht’s ihm nicht mehr so üppig finanziell, er hat wohl schon lange keine gute Rolle mehr bekommen. Er wohnt jetzt in einer Eigentumswohnung am Winterfeldplatz. Mit Baby Sommer ist er schon seit Mitte der 70er nicht mehr zusammen. Ob es ‘ne andere Frau gibt, hab ich nicht herausbekommen.”
Wir rätselten herum, entwickelten immer wildere Pläne, doch es war nichts dabei, was den Hauch von einer Chance bot, erfolgreich zu sein. Indem er auf die Zirkusathmosphäre anspielte, überlegte Roberto laut:
“Gab es nicht mal einen Film “Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, oder so ähnlich? Regisseur war Alexander Kluge, glaube ich. Bloß das wir keine Artisten sind, wir sind gerade mal Statisten!”
August nahm seinen Gedanken auf und verkündete mit leiser Stimme:
“Genau, wir sind nur Statisten. Aus der Rolle müssen wir raus. Wir müssen Akteure, Artisten werden. Wir müssen sowas wie Regisseur, Produzent, Schauspieler und Drehbuch-Autoren werden. Versteht ihr mich?”
Wir anderen schüttelten unsere Köpfe, nein, wir hatten keine Ahnung was er meinte. August präzisierte:
“Wir müssen einen Film drehen. Einen Film mit einer richtig schönen Rolle für Alex Legrand.”
“Einen richtigen Film?”, fragte Roberto.
“Ja, einen richtigen Film über Robertos Vater und seine Erlebnisse im Dritten Reich, seine Aktionen im Widerstand und den Terror in dem Lager bei Bratislava. Und über die Geschichte der Leica natürlich. Wir drehen einen richtigen Film!, er machte eine dramatische Pause und sprach dann weiter:
Einen richtigen Phantom-Film !“, August grinste nun und ich überlegte ob August nicht mehr Tassen im Schrank hatte, oder ob das tatsächlich eine tolle Idee war, Legrand mit einem Phantom-Film zu ködern. Ich war mir unsicher und schwieg erstmal. Aber Uschi, Roberto und August begannen mit Ideen zu jonglieren, wie man Legrand überzeugen könnte, dass wir wirklich, ausgestattet mit Geld aus Hollywood, Produzenten eines großangelegten Filmprojektes seien und ihn, Legrand, als idealen Darsteller für den bösen Helden des Dramas, den SS-Offizier, auserkoren hatten. Nach einer Weile schob ich meine Bedenken zur Seite, beschloss, dass die Flinte ins Korn zu werfen immer noch später Zeit wäre, und beteiligte mich an den munteren Spekulationen. Bald wurde ich von einer Euphorie ergriffen, die meine Zweifel an dieser offensichtlichen Schnapsidee zunehmend kleiner werden lies, bis sie sich vorläufig in die Katakomben meiner Denkfabrik zurückzogen.

Als ich am Montagmorgen erwachte, stellte ich mit Genugtuung fest, dass ich inzwischen in einer weitläufigen Erdgeschosswohnung am Winterfeldplatz wohnte. Sie befand sich etwa dort, wo bis kurzem die Kneipe Slumberland war, die mich immer an den Winsor McCay-Cartoon “Little Nemo in Slumberland” erinnerte. Durch das große Glasfenster konnte ich in Spiegelschrift lesen “Marcus Kluge & Co. Privatdetektiv – Private Dick”. In diesem Moment betrat ein Kellner den Raum. Mit einem Frühstückstablett und der Morgenzeitung balancierte er schwankend über die riesige Liegefläche meines Bettes. Ich trank etwas Kaffee und widmete mich dann der Zeitung, Innensenator Lummer war tot aufgefunden worden. Man hatte ihm einen Holzflock durchs Herz getrieben, logischerweise, wie das Blatt bemerkte, denn wie hätte man den stattbekannten Vampir sonst umbringen können. Ich weinte ihm keine Träne nach, seine Politik war genauso scheußlich, wie seine Platten mit angeblich Altberliner Liedern. Aber sein Tod würde natürlich aufgeklärt werden müssen, wie aufs Stichwort brachte der Kellner das Telefon. Patti Smith von der Mordkommision Eins in der Keithstraße wollte mich treffen. Sie hatte Bedenken mit den Nachforschungen zu beginnen, ohne sich meiner Mitarbeit versichert zu haben. Ich sagte ihr widerwillig stöhnend zu, ich würde in einer halben Stunde am Tatort sein. Der Ober half mir bei der Garderobe, Smoking, Fliege und schwarze Lackschuhe, meine alltägliche Arbeitskleidung. Vor der Tür wartete schon mein Chauffeur Roberto mit dem renn-grünen Bentley, der seit seinem letzten Tuning fliegen konnte. Das war praktisch, denn der Tatort war der Funkturm. Hier auf der Besucherplattform lag der tote Innenpolitiker halbnackt in Lederjacke und High-Heels. Mir war klar, dass der Oberstaatsanwalt gern einen der üblichen Verdächtigen als möglichen Täter gesehen hätte. Einen wie den international bekannten Vampirjäger wie Rudi Dutschke zum Beispiel, aber ich wusste schon jetzt, dass ich dem Oberstaatsanwalt einen solchen Gefallen nicht tuen würde. Denn die Beweislage war eindeutig und zeigte nach Süden, nach Bayern, um genau zu sein. Ich zählte die ausgezutzelten Därme von elf Weißwürsten, fünf leere Weißbierflaschen der Marke St. Malefizius und anhand der Salzkrümel wusste ich, es waren mindesten ein halbes Dutzend Brezeln verzehrt worden. Es gab also nur einen Menschen, der als Täter für dieses Verbrechen in Frage kam, der bayerische Ministerpräsident und Großvampir Franz-Josef Strauß. Offensichtlich ein Streit unter Vampiren nach einem gemeinsamen Frühstück, darüber wer denn nun der Bösere und damit größere Vampir war, schien in einem tödlichen Handgemenge fatal ausgegangen zu sein. Da Strauß den tödlichen Holzpflock bereits mitgebracht haben muss, würde sogar ein Vorsatz angenommen werden können. Die saubere Lösung eines schmutzigen Falles, ich konnte wieder einmal stolz auf mich sein. Ich rieb mir zufrieden die Hände und lies mich von Mordkommisarin Patti Smith loben. Daraufhin lobte ich ihre ausgezeichnete Idee, mich zum Tatort zu holen. In diesem Moment sprachen mich einige Hippie-Künstler an, sie hatten eine begehbare, oder besser gesagt, berutschbare Plastik an den Funkturm gebaut. Durch diese durchsichtige Röhre konnte man 124 Meter bis zum Boden rutschen. Ich probierte es aus und kam mir vor wie in einem verlängerten Geburtskanal, ständig wechselten die Texturen und Materialien, Fell, Gumminoppen, Seide. Nach oben rotierende Rollen verhinderten, dass man zu schnell nach unten stürzte. Gegen Ende wurde es enger, dunkler und fühlte sich zunehmend sexuell erregend an. Endlich gab mich der Kanal frei. Vor mir stand das Batmobil, Batman stieg aus, kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand:
“Kluge, ich brauche sie. Ich habe da einen Fall und komme nicht weiter.”
In diesem Moment wachte ich auf, ich hatte furchtbare Kopfschmerzen.

Ich rekapitulierte ängstlich den gestrigen Abend, aber einen Filmriss schien ich nicht gehabt zu haben. Nachdem es im Zirkuswagen kalt geworden war, hatten wir unsern Standort zu einem Döner-Imbiss in der Potsdamer Straße verlegt. Dort hatten wir bei Kümmerling, Tee und türkischem Essen unser Filmprojekt ausgearbeitet. Aus der Schnapsidee war ein echter Kebabtraum geworden. Gestern Abend hatte sich alles plausibel angehört, heute hatte ich erhebliche Zweifel. Dazu kam, dass ich mich bereit erklärt hatte, den Erstkontakt bei Legrands Agentin am Kudamm herzustellen und ein halbwegs professionell wirkendes Exposé für den Film würde ich auch schreiben müssen. Offensichtlich ging mir meine Gabe nein sagen zu können, zunehmend abhanden. Zu Selbstmitleid lies ich mich nicht hinreißen, aber ich umarmte mein neues Ich auch nicht. Ich war es leid, allem aus dem Weg zu gehen, also würde ich auch die Konsequenzen dieses Verhaltens tragen müssen. Als Soundtrack für diesen Morgen wählte ich eine Platte von Mekanik Destrüktiw Komandöh. “Der Tag schlägt zu” schien mir ein gutes Motto für unser Vorhaben zu sein.

Nach einem Kaffee, einer Paracetamol-Tablette und zwei Zigaretten war mein Kopf halbwegs frei und ich überlegte, wie ich mich in bezug auf Gudrun weiter verhalten würde. An diesem Montag müsste sie meinen Brief haben und ich sollte sie heute noch anrufen, in der Hoffnung, mein Brief hätte sie umgestimmt und mein Verhalten erklärt. Doch als erstes rief ich die Auskunft an, lies mir die Nummer von Constanze von Barnim geben und rief in der Künstler-Agentur an: “Hello, this is Jonathan Harker for Warner Brothers. May I speak to …”
Ich wurde unterbrochen:
“Sprechen sie ooch deutsch?”, fragte mich eine älter klingende Frauenstimme.
“Yes, natürlich. Mein Fehler, sorry. Mein Deutsch ist nur etwas eingeroasted. Kann ich bitte mit Frau wonn Barnim sprechen? Es ist wegen ein Film drehen in Berlin nächstes Jahr.”
“Moment bitte.”
Ein paar Augenblicke später meldete sich eine energische, aber gepflegte Stimme:
“Ich grüße sie, was kann ich für sie tun, Mr. Harker?”
Ich bemühte mich den amerikanischen Akzent nicht zu übertreiben:
“Ich arbeite für Mel Greenstreet, den Producer von Warner Brothers. Es geht um den Dreh von Shooting Evil im nächsten Sommer in Berlin und Prag. Sie haben vielleicht von den Project gehört?”
“Ja, ich glaube schon.”, behauptete Frau von Barnim und ich wusste, dass sie log, denn wir hatten uns das Filmprojekt erst gestern ausgedacht.
“Wir suchen eine lokale Casting-Agentur. Einige Rollen sind besetzt, Bruno Ganz spielt die Hauptrolle, Jack Nicholson eine wichtige Nebenrolle. Die meisten Nebenrollen wollen wir hier casten, das wird sicher finanziell interessant für sie. Außerdem brauchen wir Extras, Stetisten heißt es, oder?”
Sie verbesserte mich nicht, ich ahnte, dass ihr das Geschäft gelegen kam, also lies ich die Katze aus dem Sack:
“By the way suchen wir noch einen Actor für eine sehr wichtige Nebenrolle, den Villain, den Bösewicht. Wir hatten da an einen von ihren Clients gedacht, Alex Legrand. Den werrtreten sie doch?”
“Ja, das tue ich seit fast 25 Jahren, aber es könnte ein Problem geben. Herr Legrand spielt eigentlich nur positive Helden.”
“Yes, yes. Wir wissen. Aber Mister Greenstreet hat sich in der Kopf gesetzt, die Rolle against the fur zu casten. So wie Karlheinz Böhm in Peeping Tom*. Augen der Angst gilt heute als sein bester Film, das war doch der deutsche Titel? Das könnte die Karriere von Herr Legrand etwas drive geben. Er hatte nicht viele Rollen lately, oder?”
Frau von Barnim hatte jetzt etwas Stress in der Stimme:
“Ich verstehe was sie meinen, lassen sie mich erstmal mit Herrn Legrand sprechen, dann rufe ich sie zurück. Einverstanden?”
“Ja, einverstanden, aber es ist Mel Greenstreet sehr wichtig selbst mit Alex Legrand zu treffen, verstehen sie?”
Ich gab ihr meine Telefonnummer und wir verabschiedeten uns. Mein Herz pochte wie verrückt und der Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Aber ich hatte keinen Zweifel, dass die Agentin mich für echt hielt. Etwas vom Schauspieltalent meines Vaters schien bei mir durchzuschimmern. Ich fühlte mich zwar geschafft nach dieser Hochstapelei, aber gleichzeitig fühlte mich euphorisch. Wenn ich jetzt noch Gudrun von meinen ernsthaften Absichten überzeugen könnte, wäre ich dem Glück so nahe, wie niemals zuvor in meinem Leben, dachte ich. Ich zählte innerlich bis zehn, zündete mir eine Zigarette an und wählte Gudruns Nummer.

– wird fortgesetzt –

Illustrationen: Rainer Jacob http://about.me/rainer.jacob

*Peeping Tom:
http://de.wikipedia.org/wiki/Augen_der_Angst

Berlinische Leben – “The Fundamental Things Apply – Eventually” / Helden ’81 – Kapitel Elf / von Marcus Kluge / November 1981

Heute vor 34 Jahren starb Ingrid Bergman in London, die, wenn sie noch lebte,  heute 101 Jahr alt geworden wäre. Obwohl sie als Star und Filmikone gefeiert wurde, hatte sie nichts Laszives und eignete sich kaum als Pin-Up-Girl. Eher verkörperte sie eine neuartiges Frauenbild, dass den stets etwas naiv wirkenden Flapper den 20er und 30er Jahre überwunden hatte und souverän, ihrem Intellekt, wie in “Casablanca”, oder auch bewusst ihrem Gefühl, wie in “Notorious”, folgte.  Dieses elfte Kapitel meines “Schöneberg ’81” Romans ist eine Hommage an sie und den Michael Curtiz Film der, wie kaum ein anderes US-Melodram, meine Generation von deutschen Filmfans begeistert hat.

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(Bisher: Roberto ist wegen seiner Schulden zum Gangsterboss bestellt und ich muss ihn begleiten. In der Gruppe habe ich den rätselhaften August Deter kennengelernt, könnte er eine Hilfe sein? Gudrun meldet sich nicht und mir schwant Böses.)

Der Tag hatte schon schlecht angefangen. Es war ein Freitag, der Tag bevor ich mit Roberto, den Boss der Pistaziengang treffen sollte, ein Termin vor dem ich ziemlichen Bammel hatte. Ich war relativ früh aus dem Bett gekommen, nach dem ersten Kaffee und zwei Zigaretten entschied ich, es wäre höchste Zeit Gudrun anzurufen, damit sie nicht auf falsche Gedanken käme. Damit wollte ich dem Tag einen Kick in die richtige Richtung geben. Der Versuch schlug fehl. Meine Einleitung:
“Hallo Gudrun, nachdem du dich nicht gemeldet hast, wollte ich doch mal einen schönen Tag wünschen, bevor du mich wieder ganz vergisst!”,
wurde von einer unfreundlichen Gudrun mit barschen Worten gekontert:
“Du hast ja Nerven hier so einfach anzurufen, nachdem du dich Montag so heimlich aus dem Staub gemacht hast!”
Ich war geplättet und in kürzester Zeit wurde mein Körper und vor allem mein Hirn von Stresshormonen überflutet und ein Sirren in meinen Ohren wurde so laut, dass ich kaum noch hören konnte, was Gudrun mir sonst noch zu sagen hatte. Offensichtlich empfand sie mein Verschwinden so, als ob ich unsere Liebesnacht im nachhinein zu einem One-Night-Stand erniedrigt hätte. Das Briefchen, das ich zurück gelassen hatte, war völlig anders angekommen, als von mir geplant. Wenn ich doch bloß früher angerufen hätte!

Zusätzlich fiel mir jetzt wieder ein, dass morgen der Tag war, an dem wir diesen Ghobadi treffen sollten. Gern wäre ich wieder ins Bett gegangen, noch lieber hätte ich mein Leben an der Garderobe abgegeben, um mir später ein anderes, besseres zurückgeben zu lassen. Roberto schuldete Ghobadi eine für mich horrende Summe, etwas fünfstelliges nahm ich an. Wie war ich da reingeraten, nachdem ich mich sonst erfolgreich aus allem raushalten konnte? Statt mich hängenzulassen, setzte ich mich an die Maschine und begann zu schreiben. Ich arbeitete an die Filmtexten für Werbeagentur, bis mir einfiel, es wäre wichtiger Gudrun einen Brief zu schreiben und den Versuch zu wagen, doch noch mal zu erklären, wieso ich abgehauen war und das es nichts mit Gudrun oder der Situation zu tun hatte.

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Um mich in Stimmung zu bringen legte ich eine Platte mit Ausschnitten aus Warner Brothers Filmen auf, die auch Musik und Dialoge aus “Casablanca” enthielt. Bogart sagte zwar nicht:
“Play it again, Sam!”
Das war eine Erfindung von Woody Allen für seinen Film aus dem Jahr 1972 gewesen. Nein, Bogart sagte:
“Play it, Sam! You played it for her, you can play it for me.”
Und der brave Sam spielte “As Time Goes By”.

“You must remember this
A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh.
The fundamental things apply
As time goes by.
And when two lovers woo
They still say, “I love you.”
On that you can rely
No matter what the future brings
As time goes by.”

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Ein paarmal zog ich einen angefangenen Text wieder aus der Maschine und warf ihn fort, doch dann gelang mir ein freundlicher, stimmiger Brief, den ich mit einer Prise Komik abrundete. Ja, die richtigen, wichtigen Sachen, Menschen und Ideen tauchten auf. Nur geschah das, meiner Erfahrung nach nie zu früh, sondern eher kurz bevor es zu spät war.

Bevor ich am Nachmittag zur Gruppe beim Psychiater Philippus aufbrach, hatte einer plötzlichen Eingebung folgend das kleine Notizbuch eingesteckt, in dem Robertos Vater seine Erlebnisse als Widerstandskämpfer und Lagerhäftling im Dritten Reich aufgeschrieben hatte. In der Gruppe machte ich mir selbst Luft, ich schilderte das unangenehme Gespräch am Morgen mit Gudrun und wie ich mich falsch verstanden sah. Ich bekam erst sehr viel Mitgefühl und gute Worte von den anderen, aber die Diskussion behielt mich im Fokus und das fühlte sich zunehmend peinlich an. Besonders ein Gruppenmitglied schoss sich auf mich ein und zeigte nicht nur Verständnis für Gudrun, sondern kritisierte mich hart, weil mir mein Schlaf wichtiger als die sich anbahnende Liebesbeziehung war. Ich ärgerte mich, hatte aber weder Lust noch Kraft dagegen zu halten. Zu meinem Erstaunen mischte sich nun August in die Diskussion, den ich für absolut egozentrisch gehalten hatte und nahm mich in Schutz. Zum ersten Mal war er mir sympathisch und mir kam eine Idee.

Nach dem Ende der Gruppensitzung wartete ich, eine Zigarette rauchend, vor dem Haus auf August. Es dämmerte und der Novemberabend roch nach Winter, das erste Mal in diesem Herbst. “Schneeluft” nannten manche Menschen das auch. Aus unerfindlichen Gründen verband ich diesen Geruch und diese Tageszeit mit den 70er Jahren. Keine andere Situation war typischer für das zuende gegangene Jahrzehnt. Der Beginn der Nacht am Anfang des Winters, wenn ich wieder einmal feststellte, dass der vergangene Tag mich nicht weitergebracht hatte. Schon weil ich gar nicht wusste, wo ich eigentlich hin wollte. Dieses Gefühl wollte ich hinter mir lassen, aber war ich denn wenigstens auf dem richtigen Weg?
Ich sprach ihn an, als August das Eckhaus in der Uhlandstraße verließ und er freute sich über meine Einladung, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Wir liefen die Uhlandstraße in Richtung Kantstraße und setzten uns dann im Schwarzen Café in eine ruhige Ecke im Ersten Stock. Erst sprachen wir über die Gruppe und den Professor. Über die Gründe, wieso wir die Gruppe besuchten brauchten wir nicht zu sprechen, denn darüber hatten wir uns in den Sitzungen ein Bild machen können. Wir tranken Flaschenbier und ich stellte August ein paar Fragen, die mich schon länger beschäftigten:
“Kannst du dich denn nicht an deine Familie und deine Heimat erinnern?”
“Ja und nein, ich komme wohl aus Wien und ich habe eine Vorstellung, wie meine Eltern waren, oder sind. Aber nichts konkretes, wie der Name fällt mir ein.!”, war seine enttäuschende Antwort.
Ich bohrte weiter:
“Wo hast du diesen Namen her, August Deter?”
“Der stammt aus der Klinik, Philippus meint, der sei ein Insider-Scherz unter Psychoheinis. Keine Ahnung was er meint.”
“Und wovon lebst du, du brauchst doch Geld?”
“Das kommt von so einer Stiftung, Seelenhilfe heißt die. Die haben mich unter ihre Fittiche genommen und haben mir auch Papiere besorgt. Die haben was mit der katholischen Kirche zu tun und sind wohl sehr einflussreich in Süddeutschland.”
“Wieso bist du nun ausgerechnet nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte da so ‘nen Zettel bei mir, da stand diese Pension in Berlin drauf und ich hatte das vage Gefühl, ich müsse in Berlin irgendeine Mission erfüllen. Mein Betreuer bei der Seelenhilfe meinte, ich solle dem nachgehen und der hat mir auch Philippus empfohlen.”
Langsam brachte ich das Gespräch auf meinen Freund Roberto und sein Problem:
“Ich wollte dir was zeigen!”, ich holte das Notizbuch von Robertos Vater heraus, zeigte ihm die Fotos und machte ihn auf die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem SS-Offizier aufmerksam. August wurde still, ich bestellte noch zwei Bier und dann begann ich ihm die Geschichte von Roberto, seinem Vater und dann von Ari und dem Schmuggel nach Kanada zu erzählen. Ich berichtete von Aris Selbstmord in Wien und schließlich von der Pistazien-Bande, die nun von Roberto das Geld zurückhaben wollte, das Ari für den Kanada-Coup geliehen hatte.
August hörte aufmerksam zu und begann bald zu nicken, so als ob er die Geschichte schon kannte, oder sich zumindest etwas Ähnliches gedacht hatte.
Ich wusste zwar nicht, worin Augusts Beitrag zur Lösung des Problems bestehen sollte, trotzdem war ich sehr froh, als er signalisierte, er würde uns helfen, irgendetwas würde uns schon einfallen, um die Ansprüche der Gangster zu befriedigen. Ich fühlte mich auf jeden Fall schlagartig besser.
Wir tranken noch ein paar Bier und redeten über Filme, das Wissen darüber und die Liebe zum Film hatte Augusts Amnesie nicht tangiert. Genau wie Ari mochte August Bogart-Filme, besonders die aus der schwarzen Serie und natürlich “Casablanca”.

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Ich probierte, ob er wie Ari auch manche Dialoge auswendig konnte:
“Let’s see. The last time we met…”
Ohne zu zögern, setzte er das Gespräch mit Bogarts Text fort:
“It was La Belle Aurore.”
“How nice, you remember. It was the day the germans marched into Paris.“, ich sprach Ingrid Bergmanns Sätze. August antwortete:
“Not an easy day to forget. I remember every detail. The germans wore grey; you wore blue.”
Wir schüttelten uns vor Lachen, es waren ziemlich viele Biere gewesen.
Wir verabredeten uns für Sonntag im Tempodrom, dann zahlten wir. Auf der Kantstraße verabschiedeten wir uns, natürlich auch stilgemäß. August gab mir das Stichwort:
“You still owe me ten thousand francs.”
Ich sprach den, von Claude Rains gespielten, Polizeichef:
“And that ten thousand francs should pay our expences.”
“Marcus, I think this is the beginning of a beautiful friendship!”

Roberto und ich fuhren mit der U-Bahn nach Dahlem-Dorf und begaben uns auf die Suche nach der Adresse von Ghobadi. Schnell fanden wir sie, wir klingelten an einer kleinen Gittertür mit dem Schild: “Konsulat der Volksrepublik Nord-Samaan”. Wir wurden von einem wohlbeleibten Herrn in Empfang genommen, unter dessen Jacket sich eine Waffe abzeichnete. Das Haus war ein großer, einstöckiger Bungalow, keine Villa, wie ich es erwartet hatte. Im Haus tastete ein zweiter, ebenfalls kräftig gebauter Herr uns auf Waffen ab. Hundertmal hatte ich sowas im Kino gesehen, nun erlebte ich es zum ersten Mal am eigenen Leib. Ein seltsames Gefühl. Der zweite Bodyguard, auch er mit einer Beule unterm Sakko, führte uns in einen Raum, dessen Wände üppig mit Ölgemälden behängt war, der Hausherr hatte wohl eine Schwäche für Familienportraits. Das Genre aus dem 18. Jahrhundert, das im Englischen Conversation Piece und im Italienischen grupo di famiglia genannt wurde. Ich war natürlich kein Experte, aber die Bilder hatten eine hohe Qualität, soviel war klar. Trotz des Wandschmucks war der Raum ungemütlich, es war kalt und es gab keine Sitzgelegenheiten; nur ein großer Perserteppich in der Mitte machte ihn etwas wohnlicher. Der Raum schien klimatisiert zu sein, ich schaute auf eine Anzeige an der Wand, 17° Celsius bei 68% Luftfeuchtigkeit schien das amtliche Klima für Ölgemälde zu sein.
Der wandelnde Schrankkoffer lies uns allein, Roberto und ich schauten uns nicht an und wir wechselten auch kein Wort. Mir war klar, dass Roberto die Muffe genauso ging wie mir. Etwa zehn Minuten lies man uns warten, dann kamen die beiden Bodyguards und brachten Sitzkissen sowie ein Tischchen. Die Möbel drapierten sie auf dem Perserteppich, sodass eine orientalische Sitzgruppe entstand. Einer der beiden verschwand wiederum, während sich der andere wie eine Wache neben die Tür stellte. Wir blieben stehen und schauten uns die Bilder an, jedenfalls taten wir so, als ob.
Eine leise, aber durchdringende Stimme lies uns zusammenfahren, wir drehten uns um, der Hausherr hatte den Raum betreten:
“Salam meine Herren. Ich bin hocherfreut, sie zu begrüßen.”
Er blieb etwa zwei Meter vor uns stehen und deutete ein Verbeugung an, auch wir verbeugten uns tief; ich verbeugte mich unwillkürlich tiefer als der Hausherr und Roberto auch. Ghobadi sah, mit seiner Augenklappe, tatsächlich etwas wie Moshe Dayan aus. Er hatte graumelierte Haare, einen gepflegten Bart und trug einen grauen Tweed-Anzug, der perfekt saß. Bei ihm deutete keine verräterische Beule auf eine Feuerwaffe hin:
“Mein Name ist Mohsen Ghobadi, eigentlich bin ich auch Berliner, ich lebe seit einem Vierteljahrhundert hier.”, er trat nun auf Roberto zu:
“Sie sind also der Herr Oderberger. Ich versichere ihnen meine herzlichstes Beileid zum Tod ihres Vaters. Aber ich hörte, sie haben sich noch von ihm verabschieden können.”
Ghobadi sprach ausgezeichnetes Deutsch, nur ein leicht ölig-verwaschener Akzent verriet, dass er kein Muttersprachler war und er war sehr gut informiert. Er schüttelte Roberto die Hand, der sowas wie “Danke schön” stammelte.
“Wen haben sie denn da mitgebracht?”
Ghobadi blickte neugierig in meine Richtung und ich entschloss mich, zurück zu ölen:
“Sehr geehrter Herr Konsul, ich bin hocherfreut sie kennenzulernen. Mein Name ist Kluge, ich bin Schriftsteller und Journalist und sozusagen als Freund und seelische Unterstützung von Herrn Oderberger hier.”
“Sehr erfreut, Herr Kluge. Freundschaft ist etwas Großartiges, fast so wertvoll wie die Familie. Das ist bei ihnen im Westen leider etwas in Vergessenheit geraten.”
Ghobadi hatte mich mit seinem unbedeckten, blauen Auge scharf angesehen, sodass ich froh war, als er sich wieder Roberto zuwendete:
“Dass ihre Schwester ihr Kind verloren hat ist natürlich auch ungemein traurig, das war sicher nicht unsere Absicht. Aber wenn die Dinge eine gewisse Dringlichkeit erreicht haben, passieren solche Missgeschicke, durch die auch Unschuldige Schaden nehmen. Da kann ich ihnen die Verantwortung auch nicht abnehmen, Herr Oderberger! Das wäre für sie viel praktischer, wenn ein Orientale die Schuld tragen müsste, nicht war?”, er grinste jetzt unverhohlen frech.
“Aber sie und ich wissen, und sicher weiß auch der Herr Kluge, dass die Verantwortung allein bei ihnen liegt.”
Roberto räusperte sich, er war kurz davor etwas zu sagen, doch es blieb beim Wollen. Ich hörte erstaunt über mich selbst, wie ich sagte:
“Aber die Gewalt ging nun mal von ihren Mitarbeitern aus.”
Ghobadi schaute mich etwas mitleidig an:
“Vordergründig haben sie Recht, aber versetzen sie sich in meine Lage. Ein alter Geschäftsfreund aus Indien hat mich gebeten diese Schulden einzusammeln und ich habe Herrn Oderberger mehrfach Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Aber er hat über viele Wochen keine verbindliche Zusage gemacht. Zweitausend Euro war das einzige, was wir von ihm bekommen. Ein Bruchteil der 30000 Dollar, die, ohne Zinsen, fällig sind. Herr Oderberger hat sich sogar versteckt. Sein Verhalten war respektlos gegen meinen Freund und mich und man könnte auch sagen: betrügerisch. Verzeihen sie mir das starke Wort, aber es ist doch treffend, oder?”
Sein Deutsch war makellos, es war besser, als das der meisten Deutschen. Fast hätte ich Verständnis für ihn gehabt. Ich hätte gern noch etwas über Gewalt gegen eine wehrlose Frau gesagt, doch es war mir nicht möglich Ghobadi zu unterbrechen; ich hatte einfach nicht die Traute, seinen dominanten Redefluss zu stoppen:
“Lassen sie es sich eine Lehre sein, was den Schütz ihrer Familie angeht. Es ist traurig, wenn man erst durch Schaden lernt. Niemand weiß das besser als ich. Aber setzen wir uns doch.”
Er zeigte auf die Sitzgruppe auf dem Teppich. Einer seiner Diener brachte Teegeschirr und Gebäck, er machte uns mit Zeichensprache aufmerksam, unsere Schuhe auszuziehen, dann setzten wir uns. Ohne Schuhe war es ganz schön kalt. Ghobadi verlies kurz den Raum und kam dann mit einer Mappe zurück und setzte sich auch. Der Bedienstete goss uns Tee ein und nötigte uns von den Keksen zu nehmen. Schweigend tranken wir Tee und knabberten Gebäck, schließlich ergriff Ghobadi wieder das Wort:
“Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.”
Wenn ich die Augen zusammen kniff, hätte ich mir vorstellen können, in einem orientalischen Basar zu sitzen und einem Geschichtenerzähler zuzuhören. Es war fast gemütlich, wenn ich bloß keine Angst gehabt hätte.
“Vor rund 30 Jahren war ich der glücklichste Mann Teherans, ich hatte eine wundervolle Frau, zwei Töchter und ich war als Geheimdienstchef einer der mächtigsten Männer des Landes. Mein Freund Mohammad Mossadegh war Premierminister einer demokratisch gewählten Regierung. Er hatte mich zum Geheimdienstchef gemacht, weil ich ein überzeugter Demokrat war, ich hatte in Oxford und Heidelberg studiert und Gewalt machte mir überhaupt keinen Spaß. Gut beim Geheimdienst ist ein gewisses Maß an Druck ünvermeidlich, doch wir versuchten soweit wie möglich ohne Folter und solche Greuel auszukommen. Doch dann stürzte die CIA Mossadegh, ein Agent namens Kermit Roosevelt* schaffte es mit sehr viel Geld, das Land zu destabilieren und schließlich einen Putsch zu organisieren. Diese Aktion nannte der CIA “AJAX”, es war das Vorbild für jeden Staatsstreich der USA seitdem. Wir waren wohl zu naiv und zu friedfertig, um mit der abgefeimten Bosheit dieses Kermit Roosevelt fertigzuwerden. Übrigens sagt man, Kermit soll das Vorbild gewesen sein, nachdem Ian Fleming seine Romanfigur James Bond geformt hat. Kermits Helfer brachten, vor meinen Augen, meine Frau und meine Töchter um, ich wurde entführt und lange gefangen gehalten. Seien sie froh, dass sie ihre Familie noch haben. Die einzige Familie, die ich noch habe, sind diese Bilder.”, wobei er aufstand und auf die Gemälde an den Wänden zeigte.
Ghobadi baute sich vor mir auf, nun zog er eine Art Urkunde aus der Mappe und präsentierte sie mir:
“Das hier ist der Schuldschein. Neben Herrn Olt, der ja leider verstorben ist, hat ihr Freund Herr Oderberger unterschrieben. Seien sie doch so freundlich und lesen sie die Summe vor, Herr Kluge.”
Ich stand auf und nahm das Papier in die Hand.
“30000 Dollar plus Zinsen steht hier.”, las ich laut vor.
“Ich will realistisch sein. Sie haben das Geld nicht, also schauen wir ob es etwas anderes gibt, um ihre Ehre wiederherzustellen. Mein Geschäftsfreund sprach von einer Kamera, die eigentlich im Besitz ihrer Familie sein sollte, Herr Oderberger. Eine Leica, ein sehr seltenes Stück.”
Nun stand Ghobadi direkt vor Roberto, der bei der Erwähnung der Leica zusammenzuckte. Roberto brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Dann sagte er:
“Ja, aber die Leica gehört jemand anderem. Ich kann sie doch nicht stehlen!”
“Nun, wenn sie sie nicht stehlen wollen, müssen sie sich etwas einfallen lassen. Sie sind doch jung, kreativ und risikofreudig, wie ihre Schmuggeleien zeigen.”

In diesem Moment wurde mir übel, ich hatte Angst mich übergeben zu müssen. Genau das war, was ich unbedingt in meinem Leben vermeiden wollte. Riskante Situationen wie diese, die mich möglicherweise in den Knast bringen konnten. Wieso hatte ich mich bloß auf dieses Treffen eingelassen, nun war ich ebenso dran wie Roberto. Karl Valentin soll gesagt haben:
“Der Kopf ist rund damit die Gedanken ihre Richtung ändern können.”
So etwas passierte gerade in meinem Kopf. Meine Angst, mein Ärger verwandelte sich in Wut und diese Wut richtete sich gegen Moshe Ghobadi. Ich fauchte ihn an:
“Sie drohen uns also, wenn wir die Kamera nicht beschaffen, üben sie Gewalt gegen Robertos Familie. Was ist daran moralischer, als das Handeln von Kermit Bond Roosevelt, der ihre Familie umbringen lies. Sollten sie aus ihrer Erfahrung heraus nicht jeder Gewalt abschwören.”
Ghobadi war überrascht und er versuchte amüsiert zu wirken, doch ich schien einen Wirkungstreffer erzielt zu haben. Er baute sich vor mir auf. Ich wich nicht zurück und er zischte:
“Der Mensch ist eine gewalttätige Species. Das was sie hier im Westen Zivisisation nennen ist eine hauchdünne Schicht, die man durch Manipulation jederzeit, bei jedem beseitigen kann. Und gerade sie, Herr Kluge, als Deutscher sollten vorsichtig sein über andere zu urteilen. Sie haben doch sechs Millionen Juden auf bestialische Weise umgebracht.”
Er hatte mich an einem wunden Punkt erwischt, ich drehte irgendwie durch und schubste ihn heftig, so dass er ein paar Schritte rückwärts stolperte. Ich brüllte:
“Ich hab sie doch nicht umgebracht, sondern meine Vorfahren. Ich bin kein Nazi. Aber sie vielleicht!”
Der Wächter neben der Tür hatte seine Waffe gezogen. Die Übelkeit stieg wieder in mir hoch, ich war entsetzt über mein Verhalten. Ghobadi schien nicht besonders geschockt zu sein, im Gegenteil, er ginste:
“Quod erat demonstrandum, meine Herren. So leicht ist es, mit Manipulation Menschen zur Gewalt zu bewegen. Aber setzen wir uns doch wieder.”
Roberto hatte uns mit großen Augen beobachtet und schien in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Ghobadi sprach, als ob nichts geschehen wäre, weiter über seine Gemälde:
“Die einzige Familie die ich noch habe sind meine Bilder. Ich liebe sie wie meine Kinder. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen. Und hin und wieder muss ich eine neues adoptieren. Derzeit liebäugele ich mit einem von David Cosgrove. Er war ein nicht sehr bekannter Porträtist des späten 18. Jahrhunderts. Der Sammler, der es besitzt, will es eigentlich nicht verkaufen, doch der Zufall will es, dass er auch ein fanatischer Sammler von Leica-Kameras ist.”
Ich unterbrach Moshe Ghobadi:
“Und wir sollen jetzt ihr Problem lösen, indem wir die Leica klauen, die wahrscheinlich unbezahlbar ist.”, mein Mut erstaunte mich und Roberto schaute angstvoll in meine Richtung.
Ghobadi legte den Kopf schief und sprach in einem freundlicheren Ton weiter:
“Meine Herren, ich will sie doch nicht übers Ohr hauen. Sehen sie doch unsere Beziehung als eine geschäftliche. Ich mache ihnen ein Angebot, Herr Oderberger kann seine Schulden bezahlen und ich würde ihnen bei Übergabe der Leica noch ein angenehmes Sümmchen bar auf die Hand geben. Herr Oderberger könnte seine Familie unterstützen, in Goa ein neues Geschäft aufmachen und sie Herr Kluge…”, Ghobadi klopfte mir auf die Schulter:
“… könnten sich auch einen Traum erfüllen. Wie wäre es, wenn ich den Schuldschein zerreiße und 60000 Mark draufzahle?”

Ich handelte noch ein wenig, die Summe stieg etwas und Ghobadi lies Champagner bringen, um unseren Geschäftsabschluss zu feiern. Auf dem Rückweg waren Roberto und ich bester Laune bis uns bewusst wurde, dass wir keinen blassen Schimmer hatten, wie wir die Kamera aus Alex Legrands Besitz in unseren bringen sollten. In der S-Bahn saßen wir stumm nebeneinander. Mein inneres Radio spielte “As Time Goes By” und ich wunderte mich über mich selbst.

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“It’s still the same old story
A fight for love and glory
A case of do or die.
The world will always welcome lovers
As time goes by.”

– wird fortgesetzt –

*Kermit Roosevelt:

http://en.wikipedia.org/wiki/Kermit_Roosevelt,_Jr.

http://articles.mcall.com/2004-07-19/news/3560416_1_iranian-oil-iran-s-oil-kermit-roosevelt

Illustration: Rainer Jacob

Berlinische Leben – “Ein Hügel voller Narren” / Roman von Marcus Kluge mit Illustrationen von Rainer Jacob / West-Berlin Herbst 1981

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_n– Der Text ist aktualisiert und ihr findet die Links zu 15 Kapiteln. Zwei stehen noch aus, dann ist auch dieser Roman fertig.-

Schon bevor ich “Xanadu ’73” abgeschlossen hatte, begann ich über eine Fortsetzung nachzudenken. Mitte Juli 2014 begann ich “Ein Hügel voller Narren” zu schreiben. Wie in Xanadu steht erneut eine “Schelmen-Figur” im Zentrum und erneut ist es ein ehemaliger Schulfreund, jemand der wie Beaky nie richtig erwachsen geworden ist. Anders ist, dass Roberto unbedingt sozial aufsteigen will. Er will die kleine Welt seiner Herkunft, den winzigen Fotoladen seines Vaters in der Pfalzburger Straße, hinter sich lassen und ein Mitglied des internationalen Jetsets werden. Ein paar Stufen hat er genommen, er hat sich mit dem Schauspieler und Playboy Alex Legrand und dessen Freundin Baby Sommer angefreundet. Er hat im Hippie-Paradies Goa eine Pension aufgebaut und dort auch prominente Gäste gehabt. Aber eben bevor ihn der Leser kennenlernt, hat er einen Rückschlag erlitten. Er hat hoch gepokert, in dem er 250 Kilo Haschisch nach Kanada geschmuggelt hat und er ist erwischt worden. Zwei Jahre war er in Kanada im Knast.

Am 22. September 1981 treffe ich den Rückkehrer im Café Mitropa, es ist der Tag an dem Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Auf der Straße geraten wir in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und müssen vor der wildgewordenen Polizei flüchten. Roberto erkennt seine Heimatstadt kaum wieder.
Doch das ist nicht sein einziges Problem, Gangster sind hinter ihm her, sie wollen Geld zurück, das er mit seinem missglückten Schmuggel verloren hat. Als ich Roberto bei mir wohnen lasse, gerate auch ich in den Strudel einer atemberaubenden Geschichte mit überraschenden Wendungen, die bis zum Widerstand gegen das Nazi-Regime während des 2. Weltkriegs zurückführt. Daneben erkunden wir das legendäre Nachtleben, besuchen Klubs wie das SO 36 und die Music-Hall. Wir erleben Bands, zum Beispiel die “Einstürzenden Neubauten” und die “Goldenen Vampire” und treffen originelle Zeitgenossen.

“Ein Hügel voller Narren” ist eine spannende Kriminalerzählung vor dem Panorama von Hausbesetzerbewegung und Punkszene im West-Berlin des Jahres 1981. Weitere Themen sind Liebe, Freundschaft und der Beruf des Schriftstellers. Besonders interessiert mich die Generation, der in den 50ern Jahren Geborenen. Die Eltern sind oft noch vom Krieg traumatisiert, aber es wird nie darüber gesprochen. Wir, ihre Kinder, begreifen nur langsam, dass eine Aufarbeitung der kollektiven Schuld nie stattgefunden. Das Dritte Reich wurde nur verdrängt und alte Nazis konnten weiter Karriere machen. Der Roman ist der zweite Band meiner West-Berlin-Trilogie. Jedes Kapitel wird mit einer Bleistiftzeichnung von Rainer Jacob illustriert.

Bisher erschienen sind diese Kapitel:

Kapitel 1: http://wp.me/p3UMZB-PT

Kapitel 2: http://wp.me/p3UMZB-QA

Kapitel 3: http://wp.me/p3UMZB-R1

Kapitel 4: http://wp.me/p3UMZB-RT

Kapitel 5: http://wp.me/p3UMZB-Sl

Kapitel 6: http://wp.me/p3UMZB-T5

Kapitel 7: http://wp.me/p3UMZB-Ux

Kapitel 8: http://wp.me/p3UMZB-VH

Kapitel 9: http://wp.me/p3UMZB-Xg

Kapitel 10: http://wp.me/p3UMZB-YI

Kapitel 11: http://wp.me/p3UMZB-11h

Kapitel 12: http://wp.me/p3UMZB-13k

Kapitel 13: http://wp.me/p3UMZB-18U

Kapitel 14: http://wp.me/p3UMZB-1d8

Kapitel 15: http://wp.me/p3UMZB-1mv

Berlinische Leben – “Helden” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Sieben / von Marcus Kluge

David Bowie has left the building. Now he rocks another stage. We’ll never forget him.

Die erste Nachricht, die ich heute morgen wahrnahm, war der Tod von David Bowie. Traurig, fast schmerzhaft ist der Verlust. Ich war früh Fan von ihm, habe aber erst Jahre später verstanden, wieviel Tiefgang und Bedeutung seine Kunstfiguren hatten. Er war weit mehr als ein Musiker. Eher ein Konzeptartist, der Musik, Kostüm, Bühnenpräsenz, Film und sogar die Selbstpromotion zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen konnte.

Zur Erinnerung an ihn reblogge ich das Helden-Kapitel aus “Ein Hügel voller Narren”.

-(Was bisher geschah: Oktober 1981. Roberto kommt nach zwei Jahren Knast in Kanada zurück in ein ihm fremdes West-Berlin. Die Stadt ist polarisiert, auf der einen Seite stehen Politik, Polizei und Spießbürger, auf der anderen Hausbesetzer, Punks und ihre Unterstützer. Mit Klaus-Jürgen Rattay ist bereits ein Hausbesetzer getötet worden. Roberto versteckt sich in meinem Büro, er hat Schulden bei ein paar Gangstern. Roberto glaubt seinen Freund Ari gesehen zu haben, doch Ari soll sich umgebracht haben. Ich versuche mich als Autor und habe einen Psychiater konsultiert, weil ich unter Panikattacken und Schreibhemmungen leide. Der Arzt, Professor Philippus, behandelt auch einen geheimnisvollen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Wer ist dieser August Deter?)

Es war relativ lange warm gewesen und der Herbst ließ sich Zeit. Doch dann waren die Blätter innerhalb weniger Tage braun geworden und gefallen. Morgens war es empfindlich kühl und das leidige Heizen des Kohleofens begann. Das auch viele andere noch Kohleöfen hatten, merkte ich an meinem Asthma, die schmutzige Braunkohle, die zumeist verheizt wurde, nahm mir wie jeden Herbst die Luft weg. Das hatte angefangen, als ich ein kleines Kind war und war seitdem nicht besser geworden.
Von der Rattay-Sache hörte man in den offiziellen Medien wenig, nachdem der Versuch Rattay zum Kriminellen hochzustilisieren gescheitert war, versuchte man den Todesfall nun totzuschweigen. Es hatte sich ein unabhängiger Untersuchungsausschuss gebildet und es zeigte sich, dass viele Zeugen gesehen hatten, wie der Busfahrer in voller Absicht auf Rattay losgefahren war. Trotzdem schien nichts zu passieren, von den über 60 Zeugen vernahm die Polizei nur wenige. Es würde im Sande verlaufen, dafür würden, der nach außen weltoffen und liberal wirkende Bürgermeister von Weizäcker und sein Haudrauf-Innensenator Lummer schon sorgen. Polizei und Justiz waren in West-Berlin nicht unabhängig, dazu war der Filz zu dicht und zu weitreichend.
Das es in Deutschland auch noch eine außerparlamentarische Opposition gab, zeigte die Friedensdemo in Bonn. 300 000 Menschen waren in die kleine provisorische Hauptstadt am Rhein gekommen, um gegen die weitere Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen zu demonstrieren.
Roberto wohnte immer noch in meinem Büro, er verdiente viel Geld mit windigen Ost-West-Geschäften, die Pistaziengang hielt still und ich schob das Schreiben Tag für Tag vor mir her, bis Rittlin anrief und Druck machte.

Ich spannte einen jungfräulichen Bogen Papier in die Schreibmaschine und begann nachzudenken. Welchen der drei Filme sollte ich mir zuerst vornehmen? “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”, “Mephisto” oder “Das Kabinett des Dorktor Caligari”? Der erste war schwierig, weil ich das Buch nicht mochte und der letzte war einfach, weil ich Dr. Caligari liebte und gut kannte. Am besten ich finge mit Mephisto an, das war mittelschwierig. Ich suchte nach einer Überschrift. “Der verbotene Roman von Klaus Mann endlich verfilmt”. Ich schaute mir mein Werk an und stellte fest: viel zu lang für eine Überschrift. Ich riss den Bogen aus der Maschine, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Der Papierball fiel daneben, weil der Papierkorb voll war, meine Katze begann danach zu jagen. Fasziniert betrachtete ich Pünktchen und begann mir ihr zu spielen. Nach fünf Minuten fiel mir ein, das ich arbeiten wollte. Ich spannte erneut einen frischen Bogen ein und dachte nach.
Es fiel mir jetzt gar nichts mehr ein, mein Hirn war wie leergefegt. Ich dachte an die Ratschläge, die ich in verschiedenen Büchern gefunden hatte. “Schaffen sie sich Rituale!”. Genau, ich kochte Kaffee, drehte eine Zigarette, für Filterzigaretten fehlte mir das Geld und dann legte ich noch eine Tüte Bonbons neben die Schreibmaschine.
Ich trank den Kaffee, rauchte, lutschte Bonbons, aber nichts passierte in meinem Kopf. Gar nichts. Vielleicht hilft ein Ablenkungsmanöver? Ich fing an in der Schreibtischschublade zu kramen. Ich las alte Kontoauszüge, Rechnungen, Lohnsteuerkarten, die ich nicht benutzt hatte. Immer noch nichts. Dann fiel mir Uschis Zettel in die Hand. Ich rief sie kurzerhand an.
“Hallo, der Marcus hier, erinnerst du dich?”
“Ja, klar. Gut das du anrufst. Also, ich hab die Sache nochmal durchdacht und mit meiner Freundin Gudrun drüber geredet. Du hattest schon recht und so.”
Ich war skeptisch: “Was meinst du denn mit, und SO?”
“Na, für dich musste das ja so aussehen, als ob ich dich über den Tisch ziehen wollte.”
“Eher ja übers Bett ziehen und ja, der Gedanke kam mir. Willst du unbedingt ein Kind und ist dir egal, wer der Vater ist?”
“Das stimmt wohl, ich will ein Kind und der Vater spielt nicht so eine große Rolle, außer das er gutaussehend und intelligent sein soll.”
“Und das bin ich, ja?”, langsam macht mir das Gespräch Spaß.
“Ja, das bist du offensichtlich. Also, es tut mir Leid, wenn du dich benutzt fühltst. Als Wiedergutmachung wollte ich dich auf eine Party einladen, die wir am Wochenende hier geben.”
“Wo ist denn hier? Ich fahr nicht in alle Bezirke. Ich hoffe du wohnst in einem ordentlichen Bezirk!”, natürlich verarschte ich sie, das hatte sie verdient.
“Ich weiß nicht, Neukölln?”
“Oh je, das wird wohl nichts. Neukölln!”
Ich zierte mich ein bißchen und lies mich einladen. Danach klappte es endlich auch mit dem Schreiben. Ich kam gut voran. Mephisto fiel mir leicht, ich hatte das Gefühl es wäre “knackig”. Caligari war auch kein Problem. Ich las nochmal in der Filmliteratur nach, lobte die Athmosphäre, die expressionistische Gestaltung, ich verkaufte einen cineastischen Leckerbissen. Dann kamen “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”. Ich hatte den Kolportage-Roman immer verabscheut. Seine Gossen-Romantik machte Heroin für Teenager noch verführerischer, dachte ich. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn Roland Klick den Film mit Laien aus der Drogenszene gedreht hätte. Er war ja auf dem besten Weg dazu. Doch sein politischer Ansatz gefiel den Produzenten nicht und das Tag und Nacht Junkies in den Produktionsräumen herumhingen, oder sogar dort wohnten, gefiel ihnen noch weniger. Klick wurde ausgebootet und Uli Edel machte einen glatten, kommerziellen Streifen daraus. Ich drückte mich ziemlich vorsichtig aus, trotzdem konnte ich meine Kritik nicht verschweigen. Mit dem Ergebnis war ich zufrieden. Die drei Texte trippte ich nochmal sauber ab. Mitten im Mephisto klopfte es an meine Tür. Ein Postbote fragte mich:
“Kennen sie einen Marcus?”
Ich nickte und zeigte auf mich selbst. Der Bote fragte weiter:
“Wohnt hier ein Robert Oderberger?”
Ich wollte die Tür schon zuknallen, als mir bewusst wurde, das er Roberto meinte:
“Ja, das ist richtig.”
Der Bote schaute mich schief an, schien nachzudenken, dann gab er mir ein Telegramm. “An Robert Oderberger c/o Marcus ?, Rheinstraße 14, 1 Berlin 41.”
“dein vater liegt im albrecht-achilles-kh stop wenn du ihn nochmal sehen willst solltest du dich beeilen stop mutter stop”
Das war heftig, als ob Roberto nicht schon genug um die Ohren hatte, jetzt auch das noch. Ich ging zu REAL, kaufte sechs Dosen Hansa-Pils, zu mehr reichte mein Geld nicht und begann auf Roberto zu warten.

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(Berlin Wall Potsdamer Platz November 1975 looking east. CC BY-SA 2.0 Edward Valachovic)

Währenddessen in der Praxis von Professor Amon Philippus in der Uhlandstraße. Der Professor war etwas ratlos, was seinen neuen Patienten betraf. Er wurde nicht schlau aus diesem August Deter, schon der Name war mysteriös.
Und seine Aussage in der Gruppe, er hätte sozusagen sich selbst verloren, kam ihm auch seltsam bekannt vor. Als ob sich jemand diese Figur ausgedacht hätte? Irgendetwas störte ihn bei Deter, für das die Sonnenbrille nur ein Symbol war, sollte er möglicherweise eine Gegenübertragung entwickeln? Deter war ein Rätsel. Eine so weitgehende, retrograde Amnesie war zudem äußerst selten. Trotzdem blieb er seinen Grundsätzen treu und glaubte dem Patienten erst einmal. Aber er musste unbedingt mehr erfahren, vielleicht war dieser Deter der eine besondere Patient, an dem er Philippus, einen völlig neuen Aspekt der Psychiatrie erkennen und studieren könnte, um sich damit in die Annalen der Wissenschaft einzuschreiben. Professor Philippus war zwar ein anerkannter Fachmann, beispielsweise auf dem Gebiet der Traumabehandlung, er hatte einen Lehrstuhl, doch die große internationale Anerkennung war ihm bisher versagt geblieben. Er hatte wohl auch zu wenig veröffentlicht.
Wieder trug Deter die Pilotenbrille, aber diesmal braucht der Professor nichts zu sagen, nachdem Deter Platz genommen hatte, steckte dieser seine Augengläser in die Seitentasche seiner Lederjacke. Arzt und Patient saßen sich nun entspannt gegenüber und Philippus ergriff das Wort:
“Wie geht es ihnen heute, Herr Deter?”
“Eigentlich ganz gut. Es gibt Momente, da fühle ich mich, als ob ich hier in Berlin Urlaub machen würde. Vorhin saß ich im Café Kranzler, wie ein Tourist trank ich eine Weiße und dachte, das Leben sei gar nicht so schlecht. Aber gleich kam dann erneut die Frage, wer ich eigentlich bin und was ich hier verloren habe.”
“Wieso sind sie denn nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte so ein Gefühl, hier würde ich mehr über mich erfahren und
einen Freund treffen. Außerdem hatte ich einen Zettel in der Tasche, das einzige was man nach dem Unfall bei mir gefunden hat. Auf dem Zettel stand die Adresse einer Pension in Berlin. Da wohne ich jetzt. Pension Birth in der Rankestraße.”
“Haben sie diesen Mägdelein-Zettel dabei?”, fragte der Doktor.
Deter griff in seine Brieftasche und reichte Philippus einen kleinen, schmuddligen Zettel. Darauf stand mit Bleistift in Druckbuchstaben nur der Name und die Adresse der Pension Birth. “Birth”, das englische Wort für Geburt, merkwürdig, dachte Philippus. Doch dann riss er sich von diesem Gedanken fort und gab den Zettel zurück.
“Und einem Unfall ist ihr Gedächtnis verloren gegangen.”, stellt Philippus fest.
Deter nickte und erläuterte:
“Ja, aber ich kann mich kaum erinnern, auch die Zeit in der Klinik liegt zum Teil im Dunkeln. Wegen der Kopfverletzung hat man mich erstmal in eine künstliches Koma versetzt. Als sie mich wieder weckten, war ich immer noch sehr benommen. Man hatte mir den Kopf rasiert und ich hatte Pflaster auf der Schädeldecke. Zweimal am Tag kam ein Krankenpfleger und brachte mich in einen Behandlungsraum. Ich bekam eine Spritze, schlief ein und wurde ich in so einer merkwürdigen Maschine behandelt, die “Sieger-Maschine”, nannten sie die. Da habe ich Elekroschocks bekommen. Aber die Chefärztin meinte sie hätte diese Therapie weiterentwickelt, indem bestimmte Hirnregionen durch Elektroden angeregt werden, zum Beispiel der Hippo …, irgendwas mit Hippo?”
“Hippocampus wahrscheinlich. Die Region sieht ein wenig wie Seepferdchen aus, daher die Bezeichnung. Der Hippocampus ist für die Gedächtniskonsolidierung zuständig.”
“Die Chefärztin räumte ein, das dabei das Mittel- und Langzeit-Gedächtnis geschädigt würde, aber statt dessen würden 100-fach neue Bahnungen gebildet. Das sei in meinem Fall unbedingt nötig, damit ich nicht weiter vergesslich bleibe.”
Professor Philippus schüttelte mit dem Kopf: “Das ist eine absolut experimentelle Behandlungsweise, wobei der Terminus Behandlungsweise auch zu bezweifeln ist. Eigentlich wird die Elektrokonvulsionstherapie seit Mitte der 70er Jahre in Europa gar nicht mehr angewendet. Weniger wegen ihrer gewalthaften Natur, viele Patienten haben ja Angst davor und das ist nie gut bei einer Therapie, sondern weil sie keine sichtbaren Erfolge zeitigt. Eine höchst seltsame Klinik, in die sie da geraten sind. Wie heißt den diese Kollegin, die da Chefärztin ist?”
“Ihr Name ist Hölderlein, Doktor Viktoria Hölderlein. Sie meinte, ich hätte ein schweres Trauma erlebt und es wäre nur gut, wenn ich die Erinnerung daran verlieren würde. Sie schwärmte geradezu von ihrer Erfindung. Es wäre, als sein ein Menschheitstraum wahr geworden. Man könne, unbelastet von einer Biografie, die von Verletzung und Erfolglosigkeit geprägt war, ganz neu starten. Als ich in der Klinik war, hörte sich das für mich plausibel und tröstlich an. Vielleicht lag das aber daran, dass sie mir Medikamente gegeben haben, die meine Laune verbessert haben. Die meiste Zeit schwebte ich dort, wie auf rosa Wölkchen, keine Ahnung, was die mir gegeben haben. Die Hölderlein nannte ihre Maschine “Sieger-Maschine”, weil jeder Patient danach wie ein Sieger durchs Leben gehen würde, meinte sie. Im Nachhinein kommt mir dieses Gerede ziemlich verrückt vor, so als ob die Frau selber in eine Klapsmühle gehörte.”

Philippus untersuchte Deters Kopf und fand tatsächlich kleine Narben:
“Das ist ja eine wilde Geschichte. Sie haben nicht Schriftliches von dieser Institution?”
“Ich kann mir vorstellen, wie sich das für sie anhört. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte mir das ausgedacht. Manchmal glaube ich das selber. Weil alles in einem grauen Nebel verschwimmt, wenn ich etwas festhalten will. Aber das Schlimmste ist, ich habe das Gefühl ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben.”
“Was war das denn für ein Verbrechen, Herr Deter?”
“Eine Art Anschlag auf Menschen, eine Bombe glaube ich und irgendwie bin ich mit schuld daran. Es kommen mir jetzt auch öfter Erinnerungen hoch. Eigentlich hatte ich gehofft, dass das passiert. Nun habe ich eher Angst davor, weil ich fürchte, ich könnte eine böse Wahrheit über mich erfahren.”
“Lieber Herr Deter, ich fürchte man hat ihnen in dieser Klinik in verantwortungsloser Weise in ihrem Hirn herumgepfuscht. Hoffentlich fällt ihnen noch mehr dazu ein, dann muss man diese sogenannten Kollegen anzeigen. Und sonst werden wir mit ihren Erinnerungen arbeiten, sie brauchen da nicht allein durchzugehen. Neben mir haben sie ja auch noch die Gruppe. Außerdem werde ich ihnen angstlösendes Medikament aufschreiben und zusätzlich noch “Prager Wasser”, das regt das Gedächtnis an.”
Nein, er hatte keine Vorurteile gegen diesen Patienten, dachte der Doktor. Der Mann tat ihm ehrlich leid und er würde ihm helfen und herausbekommen, was hinter dieser rätselhaften Geschichte steckte.

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(David Bowie Meistersaal Hansa-Tonstudios 1977 CC BY-SA 3.0)

Um 18 Uhr war Roberto immer noch nicht zurück. Ich machte das Radio an und hörte SF-Beat. Juliane Bartel moderierte, meine Lieblingsstimme im Radio. Bei ihr hatten selbst die Versprecher Klasse. Einmal hatte sie, als sie Off-Kudamm-Kinos sagen wollte, “Off-Keydamm-Kunos” daraus gemacht. Der Ausdruck war für mich zum geflügelten Wort geworden. Ich bezeichnete damit West-Berlin-Touristen, die mit dem Stadtplan in der Hand durch die Nebenschauplätze der “Frontstadt” irrten, und dabei einen ängstlichen und verwirrten Eindruck machten.
Juliane Bartel schlug, mithilfe des Stichworts “Helden”, einen Bogen von der Friedensdemonstration vor ein paar Tagen im Bonner Hofgarten, zum Film “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”. Sie teilte meine Meinung, der Streifen wäre spannender geworden, wenn Klick ihn mit Laien gemacht hätte. Aber auch das den entstandenen Streifen von Uli Edel lobte sie. Irrte ich mich in meinem Urteil? War ich voreingenommen? Immerhin hatte ich den Film nicht gesehen. Ach was, ein Vorurteil war auch ein Standpunkt! Ich ging in die Küche, holte mir ein neues Bier und drehte eine Zigarette. Jetzt spielten sie “Heroes” von Bowie, die englische Fassung.

“And we kissed,
as though nothing could fall
And the shame was on the other side
Oh we can beat them, for ever and ever
Then we could be Heroes,
just for one day.”

Bowie hatte das Stück im Sommer 77 im Berliner Hansa-Studio aufgenommen. Wenn man vom Mischpult aus aus dem Fenster blickte, konnte man die Mauer und einen Wachturm sehen. Im Schatten der Mauer traf sich regelmäßig ein Liebespaar, daher hatte Bowie die Idee zu “Helden”.
Ich hatte Bowie nur einmal gesehen in seiner Berliner Zeit. Es war morgens um halb fünf in einem Klub in Charlottenburg, der DNC hieß, Damaschke-Nachtclub. Der Laden war fast leer, ich hatte es nicht geschafft rechtzeitig zu gehen, ich hatte Liebeskummer und zuviel getrunken. Bowie kam in einem Trench-Coat mit hochgestelltem Kragen herein, er marschierte zielstrebig auf den Bartender zu. Ich musste daran denken, das Trench-Coats “Grabenmäntel” hießen, weil sie ursprünglich in den Schützengräben der ersten Weltkriegs getragen wurden. Bowie fragte etwas, der Barmann zeigte auf den Billardraum. Dort konnte ich beobachten wie Bowie mit einem Langhaarigen etwas austauschte, Geld gegen Koks nahm ich an. Das der Musiker in Berlin ein orgiastisches Leben führte, hatten mir Freunde erzählt. Und morgens um fünf geht man nicht los um Downer oder Grass zu kaufen, nur Koks machte Sinn, zum weiterfeiern oder irgendeinen Termin am Morgen abzuarbeiten, ohne dass man geschlafen hatte. Ich folgte Bowie nach draußen und sah noch, wie er in ein wartendes Taxi stieg, während ich mich aufmachte zur Haltestelle des Vierer-Nachtbusses zu laufen.

Es klopfte an meine Tür in der Rheinstraße, ich ließ meinen Freund ein. Roberto begann sofort mir eine Anekdote von Puvogel zu erzählen und ich hatte Schwierigkeiten ihn zu stoppen, um ihm die Nachricht über seinen Vater zu übermitteln. Dann las er das Telegramm von seiner Mutter, ich merkte ihm keinerlei Rührung an. Ich bot ihm einen Stuhl an und holte ein Bier für ihn. Er saß da, stumm und irgendwie verloren, ich fragte ihn:
“Soll ich mitkommen, Roberto?”
Er nickte. Nachdem wir eine Zigarette gemeinsam geraucht hatten, ging er hinüber ins Büro und zog sich seinen hellblauen Anzug an, sogar eine Krawatte hatte er umgebunden. Sie war weinrot, mit einem gelben Charly Brown darauf. Eine halbe Stunde später saßen wir im Taxi, im Gegensatz zu mir hatte er, seit er für Puvogel Konterbande transportierte, immer Geld in der Tasche. Beim Pförtner fragten wir nach dem Zimmer von Herrn Oderberger, der Uniformierte teilte uns mit, dass die Besuchszeit gleich vorbei sei, schließlich verriet er uns aber doch, wo wir hinmussten. Vor dem Krankenzimmer stand Robertos bleiche, übermüdet aussehende Mutter. Caro, Robertos Schwester war beim Vater und wir beschlossen, dass Roberto und ich sie ablösten. Robertos Vater sah alt aus, viel älter als Anfang 70, das Gesicht ähnelte bereits einem Totenschädel und seine Stimme war schwach und brüchig. Der Krebs hatte seine Reserven aufgezehrt und das Terrain für Bruder Hein vorbereitet. Er schien sich sehr über Robertos Besuch zu freuen und mich begrüsste er auch sehr freundlich, ich war ja oft in der kleinen Wohnung in der Pfalzburger Straße gewesen, als wir einen Übungsraum im Keller unter dem Uhrenladen hatten. Roberto setzte sich auf die Bettkante und ich ein paar Meter weiter auf einen Stuhl. Der andere alte Mann, der noch in dem Zimmer lag, schlief.
“Ich schätze es geht nicht mehr lange mit mir und würde dir gern noch was sagen, bevor ich hier verschwinde. Dein Freund kann ruhig mithören.”
Roberto unterbrach seinen Vater:
“Sollest du dich nicht lieber schonen, Papa.”
Der Vater schüttelte den Kopf:
“Nee, das muss jetzt sein. Ich habe dir das nie gesagt, Robert, oder wegen meiner, Roberto, wenn dir das lieber ist. Aber ich war immer stolz auf dich. Als du in Indien deine Pension aufgebaut hast, vielleicht war das kein großes Geschäft, eher sowas wie mein Uhrenladen, doch du hast das allein geschafft und ich fand das toll.”
Robertos Vater machte eine Pause. Ich holte ein Glas Wasser, Roberto gab ihm zu trinken:
“Papa, das strengt dich doch zu sehr an, das kannst du mir später noch sagen.”
“Nein, nein, das muss ich jetzt sagen. Glaub mir, ich weiß das. Eins noch, die Leica. Ich hätte sie damals Legrand abschwatzen sollen, aber ich konnte nicht. Sie ist wertvoll. Wertvoller als Legrand weiß. Caro und du hättet einen besseren Start ins Leben gehabt, es war ein Fehler, es tut mir leid.”
Er musste eine Pause machen, das Sprechen strengte ihn sehr an, doch er war nicht davon abzuhalten, weiter zu sprechen:
“Du weißt ja dass ich in der Berliner Ghetto-Gruppe war, 1943 hat mich die Gestapo festgenommen und sie haben mich sechs Wochen im Keller der Prinz-Albrecht-Straße eingepfercht. Ein SS-Offizier hatte meine Leica für sich behalten. Ich dachte ich sehe sie nie wieder. Na ja, du kannst dir vorstellen, was die Gestapo mit mir gemacht hat. Ich war fast froh, als ich in ein Lager gekommen bin. Dort habe ich eben jenen Offizier wiedergetroffen. Das Lager war in der Nähe von Pressburg und der Offizier, er hieß Altmann, hat mir befohlen mit der Kamera das Lagerleben zu dokumentieren. Es war schlimm, das Schlimmste, was ich je machen musste. Heute denke ich, es wäre besser gewesen, mich umbringen zu lassen. Aber ich habe an meinem Leben gehangen, deshalb habe ich diese Arbeit gemacht und deshalb wollte ich die Leica nicht zurückhaben. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr angefasst.”
Herr Oderberger zeigte auf den Nachttisch, Roberto griff hinein und holte einen Umschlag heraus. Es war ein alter DIN-A5 Umschlag aus gräulich-verblichenem Natronpapier.
“Den sollst du haben, Roberto, da steht drin, was ich erlebt habe. Eigentlich gehört die Leica Caro und dir und …”
Er beugte sich vor und flüsterte:
“Es keine normale Schraub-Leica III, es ist eine Leica IV, ein Apparat, der nie in Serie gegangen ist. Es gab nur wenige Prototypen. Wahrscheinlich ist es die einzige, die es noch gibt. Sie ist sehr, sehr wertvoll.”
Oderberger war am Ende seiner Kräfte, er sagte nun nichts mehr. Roberto küsste ihn auf die Stirn und hielt seine Hand. Ich verlies das Krankenzimmer ohne mich zu verabschieden und wartete auf dem Flur. Eine halbe Stunde später kam Roberto heraus und nickte. Sein Vater war gestorben. Wir sprachen noch kurz mit Caro und Robertos Mutter, aber ich habe keine Ahnung, was dabei gesagt wurde. Mir war, als hätte mir jemand mit einem Brett auf den Kopf geschlagen. Ich fühlte mich heillos überfordert, Frau Oderberger fragte mich, ob ich den Toten noch einmal sehen möchte, ich schüttelte nur den Kopf. Wie mochte sich Roberto fühlen, wenn schon ich so durch den Wind war? Wir schafften es uns zu verabschieden und als wir vor dem Eingang der Klinik gierig Luft einsogen, fiel unser Blick fast synchron nach rechts, wo 50 Meter weiter, am Kudamm der Athenergrill lag. Wir nickten uns zu und stolperten in Richtung Athenergrill los.
Ohne ein Wort zu sprechen liefen wir auf den Getränke-Tresen zu. Kurz bevor wir ihn erreichten, fiel mir ein, das wir ja erst an der Kasse vorn bezahlen mussten. Dieses System war unumgänglich, die Tresenkräfte zapften erst dann Bier, wenn man ihnen einen Bon vorlegte. Roberto übernahm das Zahlen und bestellte Bier und Ouzo, weil es keine doppelten Ouzos gab, eben vier kleine. Mit unseren Getränken setzten wir uns in die letzte hinterste Ecke.
Ich musste an Beaky denken, unseren gemeinsamen Schulfreund, der 1973 an einer Überdosis Heroin gestorben war. Mit ihm hatte ich auch hier gesessen. Wir sprachen kurz über Beaky und sein kurzes, heftiges Leben. Aber ein anderes Thema stand im Raum und begehrte Aufmerksamkeit. Schließlich holte Roberto den Natronpapier-Umschlag heraus:
“Sag mal, Marcus, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich glaube, ich kann das jetzt nicht lesen, vielleicht später einmal, aber jetzt nicht. Könntest du das lesen und mir später irgendwie schonungsvoll beibringen, was drinsteht?”
Ich nahm den Umschlag aus seiner Hand und sagte:
“Ja, klar, kann ich machen.”, obwohl ich gar keine Lust hatte, mich diesem Kapitel der deutschen Geschichte auf so intime Weise zu nähern. Ich griff in den Umschlag und holte ein Heftchen im Format DIN A6 heraus. Aus dem Heftchen fielen ein paar winzige Fotos, auf denen Menschen in gestreiften Häftlingsanzügen zu sehen waren, die so dünn waren, dass es schwerfiel zu sagen, ob es Männer oder Frauen waren.
Ich steckte alles schnell wieder in den Umschlag und dann in meine Jackentasche. Dann stand ich auf, klopfte Roberto auf die Schulter und sagte:
“Ich hol mal noch zwei Ouzo.”

– wird fortgesetzt –

Hansa-Tonstudios: http://de.wikipedia.org/wiki/Hansa-Tonstudios

Bowie in Berlin: http://de.wikipedia.org/wiki/David_Bowie#Die_Berliner_Zeit

Illu: Rainer Jacob

Trailer Film “Chistiane F.”: https://www.youtube.com/watch?v=kgAfjw3Op5Q

Berlinische Leben – “The Fundamental Things Apply – Eventually” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Elf / von Marcus Kluge / November 1981

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Heute vor 34 Jahren starb Ingrid Bergman in London, die, wenn sie noch lebte,  heute 101 Jahr alt geworden wäre. Obwohl sie als Star und Filmikone gefeiert wurde, hatte sie nichts Laszives und eignete sich kaum als Pin-Up-Girl. Eher verkörperte sie eine neuartiges Frauenbild, dass den stets etwas naiv wirkenden Flapper den 20er und 30er Jahre überwunden hatte und souverän, ihrem Intellekt, wie in “Casablanca”, oder auch bewusst ihrem Gefühl, wie in “Notorious”, folgte.  Dieses elfte Kapitel meines “Schöneberg ’81” Romans ist eine Hommage an sie und den Michael Curtiz Film der, wie kaum ein anderes US-Melodram, meine Generation von deutschen Filmfans begeistert hat.

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(Bisher: Roberto ist wegen seiner Schulden zum Gangsterboss bestellt und ich muss ihn begleiten. In der Gruppe habe ich den rätselhaften August Deter kennengelernt, könnte er eine Hilfe sein? Gudrun meldet sich nicht und mir schwant Böses.)

Der Tag hatte schon schlecht angefangen. Es war ein Freitag, der Tag bevor ich mit Roberto, den Boss der Pistaziengang treffen sollte, ein Termin vor dem ich ziemlichen Bammel hatte. Ich war relativ früh aus dem Bett gekommen, nach dem ersten Kaffee und zwei Zigaretten entschied ich, es wäre höchste Zeit Gudrun anzurufen, damit sie nicht auf falsche Gedanken käme. Damit wollte ich dem Tag einen Kick in die richtige Richtung geben. Der Versuch schlug fehl. Meine Einleitung:
“Hallo Gudrun, nachdem du dich nicht gemeldet hast, wollte ich doch mal einen schönen Tag wünschen, bevor du mich wieder ganz vergisst!”,
wurde von einer unfreundlichen Gudrun mit barschen Worten gekontert:
“Du hast ja Nerven hier so einfach anzurufen, nachdem du dich Montag so heimlich aus dem Staub gemacht hast!”
Ich war geplättet und in kürzester Zeit wurde mein Körper und vor allem mein Hirn von Stresshormonen überflutet und ein Sirren in meinen Ohren wurde so laut, dass ich kaum noch hören konnte, was Gudrun mir sonst noch zu sagen hatte. Offensichtlich empfand sie mein Verschwinden so, als ob ich unsere Liebesnacht im nachhinein zu einem One-Night-Stand erniedrigt hätte. Das Briefchen, das ich zurück gelassen hatte, war völlig anders angekommen, als von mir geplant. Wenn ich doch bloß früher angerufen hätte!

Zusätzlich fiel mir jetzt wieder ein, dass morgen der Tag war, an dem wir diesen Ghobadi treffen sollten. Gern wäre ich wieder ins Bett gegangen, noch lieber hätte ich mein Leben an der Garderobe abgegeben, um mir später ein anderes, besseres zurückgeben zu lassen. Roberto schuldete Ghobadi eine für mich horrende Summe, etwas fünfstelliges nahm ich an. Wie war ich da reingeraten, nachdem ich mich sonst erfolgreich aus allem raushalten konnte? Statt mich hängenzulassen, setzte ich mich an die Maschine und begann zu schreiben. Ich arbeitete an die Filmtexten für Werbeagentur, bis mir einfiel, es wäre wichtiger Gudrun einen Brief zu schreiben und den Versuch zu wagen, doch noch mal zu erklären, wieso ich abgehauen war und das es nichts mit Gudrun oder der Situation zu tun hatte.

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Um mich in Stimmung zu bringen legte ich eine Platte mit Ausschnitten aus Warner Brothers Filmen auf, die auch Musik und Dialoge aus “Casablanca” enthielt. Bogart sagte zwar nicht:
“Play it again, Sam!”
Das war eine Erfindung von Woody Allen für seinen Film aus dem Jahr 1972 gewesen. Nein, Bogart sagte:
“Play it, Sam! You played it for her, you can play it for me.”
Und der brave Sam spielte “As Time Goes By”.

“You must remember this
A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh.
The fundamental things apply
As time goes by.
And when two lovers woo
They still say, “I love you.”
On that you can rely
No matter what the future brings
As time goes by.”

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Ein paarmal zog ich einen angefangenen Text wieder aus der Maschine und warf ihn fort, doch dann gelang mir ein freundlicher, stimmiger Brief, den ich mit einer Prise Komik abrundete. Ja, die richtigen, wichtigen Sachen, Menschen und Ideen tauchten auf. Nur geschah das, meiner Erfahrung nach nie zu früh, sondern eher kurz bevor es zu spät war.

Bevor ich am Nachmittag zur Gruppe beim Psychiater Philippus aufbrach, hatte einer plötzlichen Eingebung folgend das kleine Notizbuch eingesteckt, in dem Robertos Vater seine Erlebnisse als Widerstandskämpfer und Lagerhäftling im Dritten Reich aufgeschrieben hatte. In der Gruppe machte ich mir selbst Luft, ich schilderte das unangenehme Gespräch am Morgen mit Gudrun und wie ich mich falsch verstanden sah. Ich bekam erst sehr viel Mitgefühl und gute Worte von den anderen, aber die Diskussion behielt mich im Fokus und das fühlte sich zunehmend peinlich an. Besonders ein Gruppenmitglied schoss sich auf mich ein und zeigte nicht nur Verständnis für Gudrun, sondern kritisierte mich hart, weil mir mein Schlaf wichtiger als die sich anbahnende Liebesbeziehung war. Ich ärgerte mich, hatte aber weder Lust noch Kraft dagegen zu halten. Zu meinem Erstaunen mischte sich nun August in die Diskussion, den ich für absolut egozentrisch gehalten hatte und nahm mich in Schutz. Zum ersten Mal war er mir sympathisch und mir kam eine Idee.

Nach dem Ende der Gruppensitzung wartete ich, eine Zigarette rauchend, vor dem Haus auf August. Es dämmerte und der Novemberabend roch nach Winter, das erste Mal in diesem Herbst. “Schneeluft” nannten manche Menschen das auch. Aus unerfindlichen Gründen verband ich diesen Geruch und diese Tageszeit mit den 70er Jahren. Keine andere Situation war typischer für das zuende gegangene Jahrzehnt. Der Beginn der Nacht am Anfang des Winters, wenn ich wieder einmal feststellte, dass der vergangene Tag mich nicht weitergebracht hatte. Schon weil ich gar nicht wusste, wo ich eigentlich hin wollte. Dieses Gefühl wollte ich hinter mir lassen, aber war ich denn wenigstens auf dem richtigen Weg?
Ich sprach ihn an, als August das Eckhaus in der Uhlandstraße verließ und er freute sich über meine Einladung, gemeinsam etwas trinken zu gehen. Wir liefen die Uhlandstraße in Richtung Kantstraße und setzten uns dann im Schwarzen Café in eine ruhige Ecke im Ersten Stock. Erst sprachen wir über die Gruppe und den Professor. Über die Gründe, wieso wir die Gruppe besuchten brauchten wir nicht zu sprechen, denn darüber hatten wir uns in den Sitzungen ein Bild machen können. Wir tranken Flaschenbier und ich stellte August ein paar Fragen, die mich schon länger beschäftigten:
“Kannst du dich denn nicht an deine Familie und deine Heimat erinnern?”
“Ja und nein, ich komme wohl aus Wien und ich habe eine Vorstellung, wie meine Eltern waren, oder sind. Aber nichts konkretes, wie der Name fällt mir ein.!”, war seine enttäuschende Antwort.
Ich bohrte weiter:
“Wo hast du diesen Namen her, August Deter?”
“Der stammt aus der Klinik, Philippus meint, der sei ein Insider-Scherz unter Psychoheinis. Keine Ahnung was er meint.”
“Und wovon lebst du, du brauchst doch Geld?”
“Das kommt von so einer Stiftung, Seelenhilfe heißt die. Die haben mich unter ihre Fittiche genommen und haben mir auch Papiere besorgt. Die haben was mit der katholischen Kirche zu tun und sind wohl sehr einflussreich in Süddeutschland.”
“Wieso bist du nun ausgerechnet nach Berlin gekommen?”
“Ich hatte da so ‘nen Zettel bei mir, da stand diese Pension in Berlin drauf und ich hatte das vage Gefühl, ich müsse in Berlin irgendeine Mission erfüllen. Mein Betreuer bei der Seelenhilfe meinte, ich solle dem nachgehen und der hat mir auch Philippus empfohlen.”
Langsam brachte ich das Gespräch auf meinen Freund Roberto und sein Problem:
“Ich wollte dir was zeigen!”, ich holte das Notizbuch von Robertos Vater heraus, zeigte ihm die Fotos und machte ihn auf die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem SS-Offizier aufmerksam. August wurde still, ich bestellte noch zwei Bier und dann begann ich ihm die Geschichte von Roberto, seinem Vater und dann von Ari und dem Schmuggel nach Kanada zu erzählen. Ich berichtete von Aris Selbstmord in Wien und schließlich von der Pistazien-Bande, die nun von Roberto das Geld zurückhaben wollte, das Ari für den Kanada-Coup geliehen hatte.
August hörte aufmerksam zu und begann bald zu nicken, so als ob er die Geschichte schon kannte, oder sich zumindest etwas Ähnliches gedacht hatte.
Ich wusste zwar nicht, worin Augusts Beitrag zur Lösung des Problems bestehen sollte, trotzdem war ich sehr froh, als er signalisierte, er würde uns helfen, irgendetwas würde uns schon einfallen, um die Ansprüche der Gangster zu befriedigen. Ich fühlte mich auf jeden Fall schlagartig besser.
Wir tranken noch ein paar Bier und redeten über Filme, das Wissen darüber und die Liebe zum Film hatte Augusts Amnesie nicht tangiert. Genau wie Ari mochte August Bogart-Filme, besonders die aus der schwarzen Serie und natürlich “Casablanca”.

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Ich probierte, ob er wie Ari auch manche Dialoge auswendig konnte:
“Let’s see. The last time we met…”
Ohne zu zögern, setzte er das Gespräch mit Bogarts Text fort:
“It was La Belle Aurore.”
“How nice, you remember. It was the day the germans marched into Paris.“, ich sprach Ingrid Bergmanns Sätze. August antwortete:
“Not an easy day to forget. I remember every detail. The germans wore grey; you wore blue.”
Wir schüttelten uns vor Lachen, es waren ziemlich viele Biere gewesen.
Wir verabredeten uns für Sonntag im Tempodrom, dann zahlten wir. Auf der Kantstraße verabschiedeten wir uns, natürlich auch stilgemäß. August gab mir das Stichwort:
“You still owe me ten thousand francs.”
Ich sprach den, von Claude Rains gespielten, Polizeichef:
“And that ten thousand francs should pay our expences.”
“Marcus, I think this is the beginning of a beautiful friendship!”

Roberto und ich fuhren mit der U-Bahn nach Dahlem-Dorf und begaben uns auf die Suche nach der Adresse von Ghobadi. Schnell fanden wir sie, wir klingelten an einer kleinen Gittertür mit dem Schild: “Konsulat der Volksrepublik Nord-Samaan”. Wir wurden von einem wohlbeleibten Herrn in Empfang genommen, unter dessen Jacket sich eine Waffe abzeichnete. Das Haus war ein großer, einstöckiger Bungalow, keine Villa, wie ich es erwartet hatte. Im Haus tastete ein zweiter, ebenfalls kräftig gebauter Herr uns auf Waffen ab. Hundertmal hatte ich sowas im Kino gesehen, nun erlebte ich es zum ersten Mal am eigenen Leib. Ein seltsames Gefühl. Der zweite Bodyguard, auch er mit einer Beule unterm Sakko, führte uns in einen Raum, dessen Wände üppig mit Ölgemälden behängt war, der Hausherr hatte wohl eine Schwäche für Familienportraits. Das Genre aus dem 18. Jahrhundert, das im Englischen Conversation Piece und im Italienischen grupo di famiglia genannt wurde. Ich war natürlich kein Experte, aber die Bilder hatten eine hohe Qualität, soviel war klar. Trotz des Wandschmucks war der Raum ungemütlich, es war kalt und es gab keine Sitzgelegenheiten; nur ein großer Perserteppich in der Mitte machte ihn etwas wohnlicher. Der Raum schien klimatisiert zu sein, ich schaute auf eine Anzeige an der Wand, 17° Celsius bei 68% Luftfeuchtigkeit schien das amtliche Klima für Ölgemälde zu sein.
Der wandelnde Schrankkoffer lies uns allein, Roberto und ich schauten uns nicht an und wir wechselten auch kein Wort. Mir war klar, dass Roberto die Muffe genauso ging wie mir. Etwa zehn Minuten lies man uns warten, dann kamen die beiden Bodyguards und brachten Sitzkissen sowie ein Tischchen. Die Möbel drapierten sie auf dem Perserteppich, sodass eine orientalische Sitzgruppe entstand. Einer der beiden verschwand wiederum, während sich der andere wie eine Wache neben die Tür stellte. Wir blieben stehen und schauten uns die Bilder an, jedenfalls taten wir so, als ob.
Eine leise, aber durchdringende Stimme lies uns zusammenfahren, wir drehten uns um, der Hausherr hatte den Raum betreten:
“Salam meine Herren. Ich bin hocherfreut, sie zu begrüßen.”
Er blieb etwa zwei Meter vor uns stehen und deutete ein Verbeugung an, auch wir verbeugten uns tief; ich verbeugte mich unwillkürlich tiefer als der Hausherr und Roberto auch. Ghobadi sah, mit seiner Augenklappe, tatsächlich etwas wie Moshe Dayan aus. Er hatte graumelierte Haare, einen gepflegten Bart und trug einen grauen Tweed-Anzug, der perfekt saß. Bei ihm deutete keine verräterische Beule auf eine Feuerwaffe hin:
“Mein Name ist Mohsen Ghobadi, eigentlich bin ich auch Berliner, ich lebe seit einem Vierteljahrhundert hier.”, er trat nun auf Roberto zu:
“Sie sind also der Herr Oderberger. Ich versichere ihnen meine herzlichstes Beileid zum Tod ihres Vaters. Aber ich hörte, sie haben sich noch von ihm verabschieden können.”
Ghobadi sprach ausgezeichnetes Deutsch, nur ein leicht ölig-verwaschener Akzent verriet, dass er kein Muttersprachler war und er war sehr gut informiert. Er schüttelte Roberto die Hand, der sowas wie “Danke schön” stammelte.
“Wen haben sie denn da mitgebracht?”
Ghobadi blickte neugierig in meine Richtung und ich entschloss mich, zurück zu ölen:
“Sehr geehrter Herr Konsul, ich bin hocherfreut sie kennenzulernen. Mein Name ist Kluge, ich bin Schriftsteller und Journalist und sozusagen als Freund und seelische Unterstützung von Herrn Oderberger hier.”
“Sehr erfreut, Herr Kluge. Freundschaft ist etwas Großartiges, fast so wertvoll wie die Familie. Das ist bei ihnen im Westen leider etwas in Vergessenheit geraten.”
Ghobadi hatte mich mit seinem unbedeckten, blauen Auge scharf angesehen, sodass ich froh war, als er sich wieder Roberto zuwendete:
“Dass ihre Schwester ihr Kind verloren hat ist natürlich auch ungemein traurig, das war sicher nicht unsere Absicht. Aber wenn die Dinge eine gewisse Dringlichkeit erreicht haben, passieren solche Missgeschicke, durch die auch Unschuldige Schaden nehmen. Da kann ich ihnen die Verantwortung auch nicht abnehmen, Herr Oderberger! Das wäre für sie viel praktischer, wenn ein Orientale die Schuld tragen müsste, nicht war?”, er grinste jetzt unverhohlen frech.
“Aber sie und ich wissen, und sicher weiß auch der Herr Kluge, dass die Verantwortung allein bei ihnen liegt.”
Roberto räusperte sich, er war kurz davor etwas zu sagen, doch es blieb beim Wollen. Ich hörte erstaunt über mich selbst, wie ich sagte:
“Aber die Gewalt ging nun mal von ihren Mitarbeitern aus.”
Ghobadi schaute mich etwas mitleidig an:
“Vordergründig haben sie Recht, aber versetzen sie sich in meine Lage. Ein alter Geschäftsfreund aus Indien hat mich gebeten diese Schulden einzusammeln und ich habe Herrn Oderberger mehrfach Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Aber er hat über viele Wochen keine verbindliche Zusage gemacht. Zweitausend Euro war das einzige, was wir von ihm bekommen. Ein Bruchteil der 30000 Dollar, die, ohne Zinsen, fällig sind. Herr Oderberger hat sich sogar versteckt. Sein Verhalten war respektlos gegen meinen Freund und mich und man könnte auch sagen: betrügerisch. Verzeihen sie mir das starke Wort, aber es ist doch treffend, oder?”
Sein Deutsch war makellos, es war besser, als das der meisten Deutschen. Fast hätte ich Verständnis für ihn gehabt. Ich hätte gern noch etwas über Gewalt gegen eine wehrlose Frau gesagt, doch es war mir nicht möglich Ghobadi zu unterbrechen; ich hatte einfach nicht die Traute, seinen dominanten Redefluss zu stoppen:
“Lassen sie es sich eine Lehre sein, was den Schütz ihrer Familie angeht. Es ist traurig, wenn man erst durch Schaden lernt. Niemand weiß das besser als ich. Aber setzen wir uns doch.”
Er zeigte auf die Sitzgruppe auf dem Teppich. Einer seiner Diener brachte Teegeschirr und Gebäck, er machte uns mit Zeichensprache aufmerksam, unsere Schuhe auszuziehen, dann setzten wir uns. Ohne Schuhe war es ganz schön kalt. Ghobadi verlies kurz den Raum und kam dann mit einer Mappe zurück und setzte sich auch. Der Bedienstete goss uns Tee ein und nötigte uns von den Keksen zu nehmen. Schweigend tranken wir Tee und knabberten Gebäck, schließlich ergriff Ghobadi wieder das Wort:
“Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.”
Wenn ich die Augen zusammen kniff, hätte ich mir vorstellen können, in einem orientalischen Basar zu sitzen und einem Geschichtenerzähler zuzuhören. Es war fast gemütlich, wenn ich bloß keine Angst gehabt hätte.
“Vor rund 30 Jahren war ich der glücklichste Mann Teherans, ich hatte eine wundervolle Frau, zwei Töchter und ich war als Geheimdienstchef einer der mächtigsten Männer des Landes. Mein Freund Mohammad Mossadegh war Premierminister einer demokratisch gewählten Regierung. Er hatte mich zum Geheimdienstchef gemacht, weil ich ein überzeugter Demokrat war, ich hatte in Oxford und Heidelberg studiert und Gewalt machte mir überhaupt keinen Spaß. Gut beim Geheimdienst ist ein gewisses Maß an Druck ünvermeidlich, doch wir versuchten soweit wie möglich ohne Folter und solche Greuel auszukommen. Doch dann stürzte die CIA Mossadegh, ein Agent namens Kermit Roosevelt* schaffte es mit sehr viel Geld, das Land zu destabilieren und schließlich einen Putsch zu organisieren. Diese Aktion nannte der CIA “AJAX”, es war das Vorbild für jeden Staatsstreich der USA seitdem. Wir waren wohl zu naiv und zu friedfertig, um mit der abgefeimten Bosheit dieses Kermit Roosevelt fertigzuwerden. Übrigens sagt man, Kermit soll das Vorbild gewesen sein, nachdem Ian Fleming seine Romanfigur James Bond geformt hat. Kermits Helfer brachten, vor meinen Augen, meine Frau und meine Töchter um, ich wurde entführt und lange gefangen gehalten. Seien sie froh, dass sie ihre Familie noch haben. Die einzige Familie, die ich noch habe, sind diese Bilder.”, wobei er aufstand und auf die Gemälde an den Wänden zeigte.
Ghobadi baute sich vor mir auf, nun zog er eine Art Urkunde aus der Mappe und präsentierte sie mir:
“Das hier ist der Schuldschein. Neben Herrn Olt, der ja leider verstorben ist, hat ihr Freund Herr Oderberger unterschrieben. Seien sie doch so freundlich und lesen sie die Summe vor, Herr Kluge.”
Ich stand auf und nahm das Papier in die Hand.
“30000 Dollar plus Zinsen steht hier.”, las ich laut vor.
“Ich will realistisch sein. Sie haben das Geld nicht, also schauen wir ob es etwas anderes gibt, um ihre Ehre wiederherzustellen. Mein Geschäftsfreund sprach von einer Kamera, die eigentlich im Besitz ihrer Familie sein sollte, Herr Oderberger. Eine Leica, ein sehr seltenes Stück.”
Nun stand Ghobadi direkt vor Roberto, der bei der Erwähnung der Leica zusammenzuckte. Roberto brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Dann sagte er:
“Ja, aber die Leica gehört jemand anderem. Ich kann sie doch nicht stehlen!”
“Nun, wenn sie sie nicht stehlen wollen, müssen sie sich etwas einfallen lassen. Sie sind doch jung, kreativ und risikofreudig, wie ihre Schmuggeleien zeigen.”

In diesem Moment wurde mir übel, ich hatte Angst mich übergeben zu müssen. Genau das war, was ich unbedingt in meinem Leben vermeiden wollte. Riskante Situationen wie diese, die mich möglicherweise in den Knast bringen konnten. Wieso hatte ich mich bloß auf dieses Treffen eingelassen, nun war ich ebenso dran wie Roberto. Karl Valentin soll gesagt haben:
“Der Kopf ist rund damit die Gedanken ihre Richtung ändern können.”
So etwas passierte gerade in meinem Kopf. Meine Angst, mein Ärger verwandelte sich in Wut und diese Wut richtete sich gegen Moshe Ghobadi. Ich fauchte ihn an:
“Sie drohen uns also, wenn wir die Kamera nicht beschaffen, üben sie Gewalt gegen Robertos Familie. Was ist daran moralischer, als das Handeln von Kermit Bond Roosevelt, der ihre Familie umbringen lies. Sollten sie aus ihrer Erfahrung heraus nicht jeder Gewalt abschwören.”
Ghobadi war überrascht und er versuchte amüsiert zu wirken, doch ich schien einen Wirkungstreffer erzielt zu haben. Er baute sich vor mir auf. Ich wich nicht zurück und er zischte:
“Der Mensch ist eine gewalttätige Species. Das was sie hier im Westen Zivisisation nennen ist eine hauchdünne Schicht, die man durch Manipulation jederzeit, bei jedem beseitigen kann. Und gerade sie, Herr Kluge, als Deutscher sollten vorsichtig sein über andere zu urteilen. Sie haben doch sechs Millionen Juden auf bestialische Weise umgebracht.”
Er hatte mich an einem wunden Punkt erwischt, ich drehte irgendwie durch und schubste ihn heftig, so dass er ein paar Schritte rückwärts stolperte. Ich brüllte:
“Ich hab sie doch nicht umgebracht, sondern meine Vorfahren. Ich bin kein Nazi. Aber sie vielleicht!”
Der Wächter neben der Tür hatte seine Waffe gezogen. Die Übelkeit stieg wieder in mir hoch, ich war entsetzt über mein Verhalten. Ghobadi schien nicht besonders geschockt zu sein, im Gegenteil, er ginste:
“Quod erat demonstrandum, meine Herren. So leicht ist es, mit Manipulation Menschen zur Gewalt zu bewegen. Aber setzen wir uns doch wieder.”
Roberto hatte uns mit großen Augen beobachtet und schien in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Ghobadi sprach, als ob nichts geschehen wäre, weiter über seine Gemälde:
“Die einzige Familie die ich noch habe sind meine Bilder. Ich liebe sie wie meine Kinder. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen. Und hin und wieder muss ich eine neues adoptieren. Derzeit liebäugele ich mit einem von David Cosgrove. Er war ein nicht sehr bekannter Porträtist des späten 18. Jahrhunderts. Der Sammler, der es besitzt, will es eigentlich nicht verkaufen, doch der Zufall will es, dass er auch ein fanatischer Sammler von Leica-Kameras ist.”
Ich unterbrach Moshe Ghobadi:
“Und wir sollen jetzt ihr Problem lösen, indem wir die Leica klauen, die wahrscheinlich unbezahlbar ist.”, mein Mut erstaunte mich und Roberto schaute angstvoll in meine Richtung.
Ghobadi legte den Kopf schief und sprach in einem freundlicheren Ton weiter:
“Meine Herren, ich will sie doch nicht übers Ohr hauen. Sehen sie doch unsere Beziehung als eine geschäftliche. Ich mache ihnen ein Angebot, Herr Oderberger kann seine Schulden bezahlen und ich würde ihnen bei Übergabe der Leica noch ein angenehmes Sümmchen bar auf die Hand geben. Herr Oderberger könnte seine Familie unterstützen, in Goa ein neues Geschäft aufmachen und sie Herr Kluge…”, Ghobadi klopfte mir auf die Schulter:
“… könnten sich auch einen Traum erfüllen. Wie wäre es, wenn ich den Schuldschein zerreiße und 60000 Mark draufzahle?”

Ich handelte noch ein wenig, die Summe stieg etwas und Ghobadi lies Champagner bringen, um unseren Geschäftsabschluss zu feiern. Auf dem Rückweg waren Roberto und ich bester Laune bis uns bewusst wurde, dass wir keinen blassen Schimmer hatten, wie wir die Kamera aus Alex Legrands Besitz in unseren bringen sollten. In der S-Bahn saßen wir stumm nebeneinander. Mein inneres Radio spielte “As Time Goes By” und ich wunderte mich über mich selbst.

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“It’s still the same old story
A fight for love and glory
A case of do or die.
The world will always welcome lovers
As time goes by.”

– wird fortgesetzt –

*Kermit Roosevelt:

http://en.wikipedia.org/wiki/Kermit_Roosevelt,_Jr.

http://articles.mcall.com/2004-07-19/news/3560416_1_iranian-oil-iran-s-oil-kermit-roosevelt

Illustration: Rainer Jacob

Berlinische Leben – “Der letzte Abend der Revolution” / Ein Hügel voller Narren Kapitel Drei / von Marcus Kluge / Rückblende: 1972

1972, also neun Jahre bevor ich Roberto in Schöneberg wiedertraf, lernte dieser den Schauspieler Alex Legrand kennen. Da die erstaunliche Freundschaft zu dem Mimen eine wichtige Rolle in unserer Geschichte spielt, muss ich von diesem Kennenlernen berichten. Damit untrennbar verbunden ist jedoch auch ein Gegenstand, der in der Rückblende in das Jahr 1972 ebenfalls unverzichtbar ist, nämlich die “Leica”. Das Wort “Leica” war für mich bis zum Jahr 1972 lediglich ein russischer Hundename und wurde “Laika” geschrieben. Es erinnerte mich stets an die Hündin, die genau wie ich, 1954 geboren wurde, und die am 3. November 1957 im Erdorbit starb. Ihr früher Tod überraschte die Wissenschaftler, ihre Rückkehr zur Erde war zwar nicht vorgesehen und doch hatte man nicht damit gerechnet, dass sie schon nach wenigen Stunden im All, wahrscheinlich wegen Hitze und Stress, sterben würde. Ihr für mich sinnloser Tod hatte mich schon als kleines Kind empört und gegen die Naturwissenschaften eingenommen. Als mir aber 1972, in der Wannsee-Villa des Schauspielers Legrand, Roberto einen alten Foto-Apparat zeigte, lernte ich, das “Leica” auch der Name dieser schönen Kameras ist, die als wahre Wunderwerke der deutschen Feinmechanik gelten und von denen nicht wenige gesuchte und wertvolle Sammlerstücke sind. Bleibt die Frage, wer ist Alex Legrand und wie lernte Roberto ihn kennen, so gut kennen, dass Roberto mich in Legrands herrschaftlicher Wannsee-Villa empfangen konnte?

Alex Legrand war in den 1950er Jahren der Traum-Schwiegersohn aller Schwiegermütter und ein Traummann für romantische junge Mädchen. Geboren wurde er in Berlin 1922 als Emil Alexander Czirrschenga. Er brauchte keinen Agenten, um zu wissen, dass er unter diesem Namen keinen Erfolg als Schauspieler haben würde. Er spielte nach dem Krieg in Düsseldorf unter dem Namen Alexander Schenga Theater, doch als er sein erstes Filmangebot bekam, er spielte einen Adeligen in einem Heimatfilm, dachte er sich den Künstlernamen Alex Legrand aus. In kurzer Zeit machte er mehrere Berg- und Tal-Heimatfilme und wurde zum Star im deutschsprachigen Raum. Für einige Jahre versuchte er in Hollywood sein Glück, bekam aber nur kleine Nebenrollen. Als ihm aus Deutschland die Hauptrolle in einem Abenteuerstreifen angeboten wurde, fackelte er nicht lange und kehrte zurück. “Die Liebenden von Jaipur” wurde ein sensationeller Erfolg. Es folgten fast ein halbes Dutzend ähnliche asiatische Abenteuer und Liebesschnulzen. Er war der gefragteste Junggeselle des deutschen Jet Set, nur wechslende Flirts mit Stars und Sternchen verhinderten, das man ihm eine Schwäche fürs eigene Geschlecht andichtete. Doch keine dieser Affairen hatte Bestand. Das änderte sich erst 1965, als er die freche junge Komödie “Baby Berlin” drehte. Die weibliche Haupt- und Titelrolle spielte die 25 Jahre jüngere Gaby Sommer. Legrand verliebte sich, sie wurden noch während des Drehs ein Paar und gleich danach reisten sie nach Las Vegas und heirateten dort spontan. “Alex und Baby Sommer” wurden für ein Jahr zum Lieblingspaar der deutschen Boulevardpresse. Dann legte sich die Aufregung, Legrand legte eine schöpferische Pause ein und Baby Sommer bekam nur Rollen in seichten Komödien angeboten, die sie aus Prinzip ablehnte. Legrand hatte seine Gagen klug investiert und sie konnten sich die Auszeit leisten. 1970 hatte Paul Hubschmid dann keine Lust mehr den Professor Higgins in “My Fair Lady” zu spielen, nach fast 1000 Vorstellungen hatte Hubschmid die Rolle satt. Alex Legrand bekam das Angebot ihn zu ersetzen. Baby Sommer spielte die Eliza Doolittle und Legrand hatte sich wieder einmal neu erfunden. Das Paar gab das Musical in der Komödie am Kurfürstendamm en suite, fast die ganze Spielzeit 1970/71.

Legrand hatte ein Hobby, er fotografierte und zwar recht ordentlich. 1965 hatte es sogar einmal eine Ausstellung seiner Bilder gegeben, aber Legrand hatte Angst nur wegen seines Ruhms Erfolg zu haben, deshalb blieb es bei dieser einen. Außerdem sammelte er historische Foto-Apparate, besonders die Produkte der Firma Leitz hatten es ihm angetan.
Im Sommer 1972 spielte er eine Schmuckrolle in einer TV-Serie, die an die außerordentlich beliebten Karl May-Filme anknüpfte. “Kara Ben Nemsi Effendi” wurde im diesem Sommer nicht in Jugoslawien, wie die Spielfime, sondern im tschechoslowakischen Teil der Karpaten gedreht. Man hatte ihm einen Charakter ins Skript geschrieben, der beim großen Sachsen fehlte. Viele Prominente Schauspieler sollten den Erfolg der Serie sichern, die mit weniger Budget als die filme auskommen musste. Didi Hallervorden, Lina Carstens, Ferdy Mayne und Günther Lamprecht gehörten zum Ensemble. Heinz Schubert Verkörperung des Hadschi Halef Omar wurde zum großen Erfolg des Pantoffelkinos und Legrand freute sich dabei zu sein. Legrand hatte sich zusätzlich noch Zeit genommen, das malerische Gebirge zu bereisen. Auf dem Rückweg, während eines Aufenthalts in Pressburg, fand er bei einem Trödler eine Leica. Der Besitzer wusste zwar das der Name Leica Geld bedeutete, trotzdem war der Preis eher ein Trinkgeld für den Mimen. Die Leica ähnelte seiner M3 aus dem Jahre 1935, und Legrand freute sich über den Fund, obwohl der Verschluss nicht funktionierte. Wieder in Berlin probte man für eine weitere Spielzeit “My Fair Lady”, doch diesmal wollte man nach 6 Wochen auf Tournee gehen und den Herbst und den halben Winter mit der Inszenierung reisen.

Dienstag, 15. August 1972. Eigentlich war um 10 Uhr eine Probe angesetzt, doch Baby hatte einen Kater und kam nicht aus dem Bett. Solche Eskapaden leistete sie sich ab und zu, allerdings nur während der Proben. Legrand war mit dem Regisseur frühstücken gewesen und überlegte, was er mit der freien Zeit anfangen könnte, als ihm die Leica einfiel. Er hatte sie in seiner Garderobe, weil er sie schätzen lassen wollte. Nur hatte er Vorbehalte zu einem der großen Foto-Geschäfte zu gehen, er fürchtete übers Ohr gehauen zu werden. Er schlenderte los, die Kamera in einer Fototasche. Der Zufall wollte es, dass er bei Robertos Vater in Pfalzburger Starße landete. Hermann Oderberger hatte ein winziges Foto-Geschäft, es trug sich kaum selbst. Wenn Robertos Mutter nicht als Krankenschwester gearbeitet hätte, wären sie verhungert. Aber Herr Oderberger hing an seinem Geschäft und seine Frau wusste, dass es ihn glücklich machte. Die ganze Wohnung war klein, doch störte sich niemand in der Familie daran, der Vater vermittelte seinen Kindern, dass es wichtigere werte als geld und Besitztümer im Leben gab. Über dem Verkaufsraum befand sich eine Art Hängeboden, auf dem ein Bett stand und der das eigene, kleine Reich von Roberto bildete. Oft lag er auf seinem Bett, träumte vor sich hin, las oder verfolgte die Gespräche, die sein Vater mit seinen Kunden führte. So war es auch heute der Fall.

Legrand präsentierte Herrn Oderberger sein Fundstück und Oderberger wurde von einer andächtigen Stille erfüllt. “Konnte es sein, das er hier nicht nur den heiligen Gral aller Leica-Sammler in der Hand hielt, sondern die eine Leica, die er so gut kannte wie die sprichwörtliche eigene Westentasche?” Diesen Gedanken sprach er natürlich nicht aus, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte und ob der Kunde überhaupt ein Wissender war, was Leicas anging.
Oderberg besah sich die Kamera, die, wie alle Schraub-Leicas, ein schlankes Gehäuse mit abgerundeten Seitenflächen hatte. Ein Blick in den Messsucher bestätigte seine Vermutung, tatsächlich wurde die Entfernungsmessung mittig eingespiegelt. Er hielt also tatsächlich eine Leica M IV in der Hand, von der es nur ein einziges Exemplar im Besitz von Leitz geben sollte, das nicht nur unverkäuflich, sondern auch unbezahlbar sein sollte. Man munkelte, es sei für einen sechs- oder sieben-stelligen Betrag versichert. Es hatte zwar etwa zwei Dutzend Prototypen gegeben, damals 1936, aber außer der einen, war den Leicafreunden keine weitere bekannt. Aber wie gewöhnlich unter Sammlern, nichts Genaues wusste man nicht, und wenn jemand mehr wusste, behielt er es für sich.
Nun war die Frage, ob es auch die Leica M IV war, an die er sich so gut erinnern konnte? Er schraubte das Objektiv ab, was bei Schraubleicas eine etwas umständliche Angelegenheit ist, längst nicht so praktisch wie ein Bajonettverschluss, den erst spätere Leicas hatten. Und tatsächlich im Gehäuse der Kamera fand er das von ihm selbst eingravierte H.O. Es war “seine” Leica M VI, sie hatte nicht nur den Krieg überlebt, sie hatte vier Jahrzehnte, nachdem sie “beschlagnahmt” wurde, den Weg zurück zu ihm gefunden. Eine Geschichte, die so unwahrscheinlich war, das nur das Leben sie schreiben konnte. Hermann Oderberger musste sich am Verkaufstisch festhalten, ihm war schwindlig und er hörte ein Rauschen in seinen Ohren. Vor seinen Augen sah Herr Oderberger Bilder aus jenem Jahr 1942, von der Sowjet-Union Ausstellung, von den Freunden in der Ghetto-Gruppe, vom Verhör-Keller und schließlich vom Lager.
“Der Verschluss ist kaputt, meinen sie sie können sie reparieren?”, hörte Oderberger seinen Kunden fragen. Er riss sich zusammen, unbedingt müsse der Mann die Leica bei ihm lassen, er bräuchte Zeit nachzudenken, wie er sich verhalten sollte: “Das glaube ich doch, diese M III sind ja quasi unverwüstlich. Ich werde es mir in den nächsten Tagen ankucken. Kommen sie doch nächste Woche wieder rein.” Spontan hatte Herr Oderberger entschieden nichts über die Besonderheit der Kamera zu sagen. Roberto, der oben in seinem Hängeboden-Stübchen, alles mitgehört hatte, entschied sich etwas spontanes zu tun.

Wann ist mir eigentlich bewusst geworden, das die Revolte der späten 1960er Jahre endgültig zuende war und die historische Gelegenheit zu einer neuen Chance in meiner Lebenszeit nicht kommen würde? Es musste wohl der Abend des 15. Mai 1972 gewesen sein, an dem ich mit Roberto im Audi Max der TU, ein Konzert von MC5 besuchte, der berühmten Band aus Detroit, die später zu Recht als Wegbereiter des Punk bezeichnet wurde. Ein denkwürdiges Konzert, den obwohl die 68er Revolte eigentlich gescheitert war, kam an diesem Abend noch einmal das Gefühl von Revolution und Auflehnung in das provinzielle, verschlafene West-Berlin der 1970er Jahre. Vier Tage vorher hatte die RAF das alte IG-Farben-Haus in Frankfurt am Main in die Luft gesprengt. Das 5. US-Korps, das dort stationiert war, beklagte einen Toten und 13 Verletzte. Ein “Kommando Schelm” bekennt sich zum Attentat. Das Ziel war geschickt gewählt, natürlich wussten wir von den Verstrickungen der IG-Farben in die Naziverbrechen, vom Zyklon B, mit dem die Gaskammern in Auschwitz betrieben wurden, genauso wie von den C-Waffen der US-Army wussten, die in Vietnam zum Einsatz kam. Wir hatten zwar begriffen, das der Krieg, den die RAF jetzt führte, falsch war und nur zu mehr Repression führen würde, doch klammheimlich hatten wir wohl doch Sympathien. “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.” Dass sich der Name auf Petra Schelm bezog, wurde von den Medien verschwiegen. Man wollte keine Märtyrerin schaffen. Petra Schelm war 1971 das erste RAF-Mitglied, dass von der Polizei getötet wurde. Ich erfuhr den Zusammenhang erst Monate später von einem Flugblatt.

Unsere langen Haare und ausgefransten Jeans waren provozierend für die “Schultheiss-Fraktion”, wie ich die Berliner Spießbürger nannte, aber Roberto setzte dem die Krone auf, indem er einen alten Bademantel seines Vaters trug. Heute hört sich das unspektakulär an, aber damals waren die Wertvorstellungen der Bürger was Kleidung anging noch recht rigide. Zu dieser Zeit war es beispeilsweise eine sichere Sache, in der Kneipe zu wetten, man ließe sich eine Glatze schneiden. Damit konnte man immer 100 Mark oder mehr einstreichen, so stigmatisierend war es für einen gesunden jungen Mann mit einem Kahlkopf auf die Straße zu gehen. Roberto wurde auf dem Weg von der Pfalzburger zur Hardenbergstraße laufend angepöbelt. Mehr als einmal mussten wir laufen, um einem Kneipenmob zu entgehen. Wir fühlten uns als Rebellen und waren bester Laune.
MC5 war damals schon eine Legende und wir brannten darauf sie zu erleben. In der »Motor-City« Detroit bildeten weiße Jugendliche eine »White Panther Party«. Musikalisch wurden diese Jugendlichen von MC 5 angestachelt. Die Band forderte auf zur völligen Befreiung von allen hergebrachten Zwängen: Kick out the jams, motherfuckers! Die MC5-Musik fand auch ihren Weg nach Berlin. Auf Demos wurden MC5-Scheiben von Lautsprecherwagen gespielt. Da hatten wir sie zum ersten Mal gehört.
Der Eintritt im Audi Max der TU kostete 2 Mark Solibeitrag für die Rote Hilfe, die sich um die politischen Gefangenen kümmerte. Als Vorgruppe spielten Ton, Steine, Scherben, die wir kannten, die uns aber nicht interessierten. Der “Blues”, also die aufrührerische psychedelische Rockmusik, die wir suchten und verehrten, kam nicht aus Berlin. Sie kam aus England oder den USA. MC5 spielten diesen “Blues” mit einer beispiellosen aggressiven Energie. Sie hantierten mit Gewehren herum, und Tyler der Sänger wurde scheinbar von Heckenschützen auf der Bühne exekutiert. Zwischendurch informierten politische Gruppen über ihre Arbeit. MC5 spielten “Motor-City Is Burning” von John Lee Hooker, der eigentlich mit dem Lied den Niedergang von Detroit anprangern wollte. Bei MC5 wird daraus die Aufforderung zum Widerstand. An diesem Abend war noch einmal, zum letzten Mal, die Revolution greifbar. Für einen Augenblick dachten wir, jetzt käme die Erhebung wirklich, sie hatte sich nur etwas verspätet, nun würden wir doch siegen und die bürgerlichen Regierungen und ihre bescheuerten Wähler wegfegen. Es war naiv, es war völlig falsch, aber für einen Moment fühlte es sich so an. Zum Ende wurde das Publikum aufgefordert, schwarz mit der BVG zur Lützowstraße 5 zu fahren und dieses Haus zu besetzen. Etwa 500 Konzertbesucher folgten dem Aufruf und besetzten das Haus.

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Roberto und ich waren bei dieser Besetzung nicht dabei, Roberto hatte schon während des Konzertes Bauchschmerzen gehabt, aber danach wurden sie unerträglich, zudem war ihm schwindlig und er sah totenblass aus. Ich brachte ihn ins Krankenhaus, ich wartete, aber die Schwestern weigerten sich mir irgendetwas zu sagen, weil ich ja kein Verwandter war. Erst als Robertos Mutter kam, die ich angerufen hatte, erfuhr ich Roberto hatte einen Darmverschluss. Er war soweit fortgeschritten, dass sofort operiert werden musste, eigentlich hätte er schon seit Tagen unerträgliche Schmerzen haben müssen, wunderten sich die Ärzte. Ein paar Tage später rief mich Robertos Mutter an, er hatte die OP gut überstanden. Eigentlich hätte ich ihn besuchen sollen, aber, wieso auch immer, tat ich es nicht. Doch er rief mich an, als er wieder zu Hause war. Wir sprachen über das Ende unserer Schulkarriere und was wir mit unserem Leben machen wollten. Roberto war nachdenklich: “Jetzt nach dem MC5 Konzert wäre ich fast gestorben. Ich war selber Schuld, ich hatte mehrere Tage Opium gegessen, viel zu viel, und das hat den Darm lahmgelegt. Durch die Droge habe den Schmerz nicht bemerkt, bis es fast zu spät war. Danach habe beschlossen, ich muss irgendwas aus meinem Leben machen, die Drogen allein bringens nicht, du musst auch ein Ziel haben.”
“Wahrscheinlich hast du Recht!”, antwortete ich ihm, “aber ich hänge völlig in der Luft. Eigentlich wollte ich studieren, einen anderen Plan gab es nie. Als die Schweine mich dann vom Gymnasium geschmissen haben, konnte ich das vergessen. Ich will mich einfach nicht mit diesem Scheiß-System einlassen, ich kann nicht wie ein Schultheiss-Prolo malochen gehen. Ich halte schon die Kollegen nicht aus. Selbst Buchhändler kann ich ohne Abi nicht werden” Ich beendete das Gespräch recht schnell und verlor Roberto eine Zeitlang aus den Augen.
Anfang des Jahres war mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst geworden, dass auch ich so etwas wie Sehnsucht in mir trug. Sehnsucht nach echtem Leben, was immer das war, Sehnsucht nach echter Liebe und auch Sehnsucht nach einer guten Arbeit, etwas worin ich gut wäre und wo man mich bräuchte. Ich konnte sogar sagen wann das Gefühl zum ersten Mal in mir aufstieg. Es war am 2. Februar 1972 gewesen, ich merkte mir fast immer die Daten der Tage, an denen wichtiges passiert war. An diesem Tag lief “Rocker” der Film von Klaus Lemke im Fernsehen und plötzlich fühlte ich was. Als der Abspann lief, unterlegt mit Van Morrisons Stimme, die “It’s All Over Now, Baby Blue” sang, löste sich ein Kloß im meinem Hals, mir war traurig und fröhlich gleichzeitig zumute und eine Sehnsucht stieg in mir auf, eine Sehnsucht, fast wie eine Gier und plötzlich wusste ich, das mein Leben doch nicht so sinnlos und traurig war, wie ich es normalerweise empfand.

“Leave your stepping stones behind
There’s something that calls for you
Forget the debt you left that will not follow you.”

“Your lover who has just walked through the door
Has taken all his blankets from the floor
The carpet too is foldin’ over you
And it’s all over now baby blue.”

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Im Spätsommer 1972 besorgte mir meine Mutter einen Job in einer Buchhandlung, obwohl ich kein Buchhändler war, wollten sie mich als Aushilfe beschäftigen, allerdings nur 16 Stunden in der Woche, im Einzelfall auch mehr. Eine Wohnung konnte ich nicht davon bezahlen, es war mir peinlich noch bei meiner Mutter zu wohnen. Trotz des Jobs erinnerte mich die Wohnsituation regelmäßig an die ungeklärte Frage, was ich mit meiner Zukunft machen sollte, denn so ein Job war ja keine Dauerlösung.

Dienstag, 15. August 1972. Alex Legrand war schon auf der Uhlandstraße, als er jemand hinter sich rufen hörte. Ein großer junger Mann lief hinter ihm her und wedelte mit den Armen: “Herr Legrand, Herr Legrand!” Amüsiert blieb Legrand stehen und wartete was der aufgeregte Junge wollte.
Roberto kämpfte noch mit seinem Atem: “Können sie mir vielleicht ein Autogramm geben?” Legrand konnte. Er zog eine seiner Fotografien aus dem Jackett, die er für diesen Zweck stets bei sich trug: “Für wenn soll es denn sein?”
“Ich heiße Roberto, ich bin der Sohn von Herren Oderberger vom Foto-Geschäft, aber Roberto reicht.”
Legrand schmunzelte, irgendwie gefiel ihm dieser schlacksige Junge. Er reichte ihm das Bild und Roberto erklärte: “Wissen sie, ich interessiere mich fürs Theater. Sie spielen doch am Kudamm, oder?”
“Ja, in der Komödie, “My Fair Lady”. Am 24. ist Premiere, jetzt proben wir.”
“Meinen sie, ich könnte mir mal das Theater ansehen, auch hinter den Kulissen und so?”
Legrand schaute Roberto an, er dachte nicht lange nach, fast spontan entschied er: “Warum nicht? Hast du Zeit? Dann machen wir mal ne kleine Führung.”
Roberto war begeistert, er freute sich wie ein kleines Kind und Legrand spielte die Rolle des Fremdenführers: “Vor 90 Jahren war der Kudamm ja noch ein Reitweg!”, legte er los, ” Da wird hier, wo heute das Kudamm-Karree steht, eine Villa gebaut und bald gibt es auch Kultur an diesem Ort. Max Liebermann, der Maler und seine Kollegen von der berliner Sezession, zeigen hier Bilder, 1907 wird dann bereits ein kleines Theater eingeweiht. Aber erst 1921 baut ein Architekt, Kaufmann hieß er, ein richtiges Theater. Du musst dir vorstellen, nachdem 1920 Berlin Dörfer wie Wilmersdorf und Charlottenburg eingemeindete, wurde Berlin zur drittgrößten Stadt der Welt. Kannst du dir das vorstellen?” Roberto schüttelte den Kopf, wieso haben sie ihm in der Schule nichts davon erzählt? Das wäre interessant gewesen. Sie betreten das Kudamm-Karree von hinten, das erst im letzten Jahr eröffnet wurde. Inzwischen haben die den Bühneneingang erreicht, Legrand grüßt den Pförtner: “Tach, Herr Schulz, das ist ein junger Theater-Enthusiast, Roberto war es, oder?”
“Ja, Roberto!”
Legrand zeigte ihm erst das Foyer und den Zuschauerraum, dann betraten sie die Bühne. Legrand wieß auf Kulissen, Beleuchter-Brücken, Drehbühne und die kleine Muschel hin, in der jeden Abend die Souffleuse den Schauspielern hilft, wen sie “hängen”.
“Kommt denn das öfter vor?”, will Roberto wissen.
“Ja, natürlich. Meine Frau hat ständig Hänger!”, bemerkt Legrand etwas uncharmant. Es kriselt gerade etwas in der nun sechs Jahre alten Ehe, das “verflixte siebente Jahr”.
Wieso sind das eigentlich immer Frauen, die Souffleusen, könnte das nicht auch ain Mann machen?”
“Nein, Männerstimmen sind tiefer, das bedeutet, ihre Wellen sind länger und erreichen leicht den Zuschauersaal. Frauenstimmen sind ideal, auch durch bauliche Ausrichtung des Souffleur-Kastens sind sie für das Publikum fast unhörbar. Im Musiktheater, also bei der Oper zum Beispiel wird ständig souffliert, weil sie die Sänger so viel mehr zu merken haben und es häufig nur drei Proben gibt.”
Legrand zeigt Roberto was Gassen sind und wie jede Gasse ihre eigenen Hub-Projekte hat, mit denen man Kulissen herunterlassen kann. Er erklärt was Gassenlicht bedeutet und wie es den Schauspieler dreidimensional erscheinen lässt. Roberto ist begeistert, hier würde er gern arbeiten.
Nachdem sie auch “backstage” waren und die Bühnentechnik angeguckt haben, beendet Legrand die Führung. Er hat Hunger und er lädt den jungen Mann zu einem mittäglichen Imbiss im schickem Restaurant “Kopenhagen” ein. Noch lange wirkt dieser schöne Tag bei Roberto nach und er wünscht sich nichts sehnlicher, als das das Theater bei ihm anruft und ihm tatsächlich einen Job als Bühnenhelfer anbietet. Das wäre dann ein noch schönerer Tag.

wird fortgesetzt –

IMG_20140824_0001Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet. (Zum Vergrößern auf das Bild klicken)

“Hony soit qui mal y pense.”, “Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.”, ist die Devise des englischen Hosenbandordens und erscheint auf dem Wappen des Vereinigten Königsreichs.

RAF-Kommando “Schelm”: Erst Monate danach las ich in einem Flugblatt, dass sich das Kommando “Petra Schelm” nannte, nach dem ersten RAF-Mitglied, das durch Polizeischüsse getötet wurde. Das Opfer wurde zehn Minuten lang liegen gelassen, erst danach wurde Hilfe geleistet. Zunächst wurde sie für Ulrike Meinhof gehalten, erst ein paar Stunden später korrigierte man entsprechende Falschmeldungen. Danach gab es eine Diskussion über die Qualität der Schusswaffenausbildung bei der Polizei.

http://de.wikipedia.org/wiki/Petra_Schelm

Leica:
http://de.wikipedia.org/wiki/Leica_Camera

“It’s All Over Now, Baby Blue”, wurde 1965 von Bob Dylan geschrieben, hier wird allerdings die Fassung der Band “Them” zitiert, der Van Morrison seine unverwechselbare Stimme lieh. Viele andere Bands haben das Lied gecovert, unter anderem:

Hole
Matthew Sweet & Susanna Hoffs
Nena
Roger Chapman
Joan Baez
The Animals
The 13th Floor Elevators
The Chocolate Watchband
Joni Mitchell
Manfred Mann’s Earth Band
Marianne Faithfull
The Byrds
Grateful Dead
Falco
Bryan Ferry
Bad Religion

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Zur Musikszene im weltweiten Berliner Speckgürtel

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Ein Blog im stetigen Wandel. Über den Wert von Familie. Krankheit, Aufarbeitung von Gewalt, Briefe an meinen Vater und meinen Sohn. Wohin wird mich alles führen?

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