Familienportrait – “Rotkopp, Etika, My Fair Lady und ein anderer Kerl” / 1954-57

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Eigentlich sollte ich ein Mädchen werden. Mein Vater hatte, im Schützengraben und Kriegsgefangenschaft, so lange in männlicher Gesellschaft verbracht, dass er sich ein Mädchen wünschte. Außerdem waren in seiner Familie seit längerem nur Jungen geboren worden. Schon Willy, der ältere Bruder von Papa wünschte sich 1930 ein Mädchen, doch es wurde ein Wolfgang daraus. Auch hegte Pa die Befürchtung, einen Sohn irgendwann in den Krieg schicken zu müssen, aus diesen Gründen sollte ich eine Tochter werden. Diesen Gefallen konnte ich ihm nicht tun.

Ich wurde am 18. November 1954 als Junge geboren. Ich hatte dünne weiße Härchen, die kräftig durchblutete Kopfhaut schimmerte durch, so dass die Haare rot wirkten. Mein Vater soll mich lange angeschaut haben, die roten Haare irritierten ihn wohl, weder er noch meine Mutter war rothaarig. Er hatte schon meinen sechs Jahre älteren Bruder als eigenes Kind angenommen, obwohl Thomas einen anderen Vater hatte, so lag ein wenig Skepsis nahe. Doch schließlich sagte er zwei Sätze. Erstens: “Rotkopp, die Ecke brennt.” Und zweitens: “Wir behalten ihn trotzdem.”

Image  Bundesallee 181 mit Mutter

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Mit Etika

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Als die Wehen einsetzten war meine Mutter bei Oma in der Bundesallee 181. Oma rief meinen Vater an, sie schleppte den vorbereiteten Koffer die Treppen herunter und wartete auf Papa im Hauseingang. Damals war neben dem Haus eine Kneipe, als Papa eintraf beschloss er die anstehende Geburt müsse gefeiert werden und Oma und er marschierten in die Kneipe und tranken mit den Anwesenden eine Lokalrunde.

Als sie endlich meine Mutter abholten kamen die Wehen bereits in beunruhigend kurzen Abständen. Als sie das Gertrauden-Krankenhaus erreichten, war die Fruchtblase geplatzt und meine Mutter brüllte aus Schmerz und aus Ärger. Kaum dass sie im Kreissaal ankam, erblickte ich das Licht der Welt und brüllte ebenfalls, auch ich hatte mich über die Verzögerung geärgert. Möglicherweise ist das der Grund, wieso ich Kneipen bis heute hasse. Cafés, Clubs oder Restaurants mag ich, doch Kneipen habe ich stets nur im Notfall betreten.

Damals wohnten wir in einer 7-Zimmer-Altbauwohnung am Hohenzollerndamm. Meine Mutter verkaufte Bücher und Schallplatten an die Mitglieder ihres Klubs, mein Vater machte Außendienst und warb neue Kunden. Als das Geschäft etabliert war, überließ er meiner Mutter den Buch- und Phonoklub und kümmerte sich mehr um seine eigenen Ambitionen. Er gab Schauspielunterricht und arbeitete an seiner Dissertation über Metaphern auf Rednertribüne und Schauspielbühne.

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Also beschloss man, eine Nanny für mich anzustellen. Sie hieß Erika und wir hatten bald ein inniges Verhältnis. Erika trug mich den ganzen Tag auf ihrem Arm herum, sogar wenn sie morgens die Öfen in allen Zimmern anheizte. Nachts schlief sie mit mir in einem Bett, unser Verhältnis konnte kaum enger sein.

Da sie meistens arbeitete spielte meine Mutternur nur abends und am Wochenende mit mir, ich mochte sie gern, aber Erika stand mir näher. So war mein erstes gesprochenes Wort auch nicht Mama oder Papa, sondern Etika, das R gelang mir noch nicht. In meinem dritten Lebensjahr wurde es meiner Mutter zuviel mit dem engen Verhältnis zwischen Erika und mir und sie beschloss Maßnahmen, um meine uneingeschränkte Liebe zurückzuerobern.

Image   Zwei Damen

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Sie führte lange Gespräche mit Erika und weckte in dieser das Interesse, über einen Ehemann und eigene Kinder nachzudenken. Außerdem kaufte sie ihr neue damenhafte Kleider und begann Erikas Umgangsformen zu verbessern.

Einen potentiellen Gatten für Erika zu finden, war allerdings ein großes Problem. In Deutschland gab es ja, durch den ein Jahrzehnt zurückliegenden Krieg, einen Frauenüberschuss.

Meine Mutter durchforstete Zeitungen und Zeitschriften, alle Druckerzeugnisse, in denen man Anzeigen von heiratswilligen Herren finden konnte. Schließlich stieß sie auf ein seriöses Inserat eines deutschen Auswanderers in Kanada. Der studierte Volkswirt hatte sich ein kleines Unternehmen aufgebaut und suchte nun eine kultivierte Gattin, die ihm die langen Abende in der kanadischen Wildnis verkürzen sollte.

Erika war eine herzensgute junge Frau, aber Bildung hatte sie kaum, sie sprach Dialekt und hatte nur acht Jahre Schule genossen. Tatsächlich ähnelte sie Eliza Doolittle, der Blumenverkäuferin in “My Fair Lady”. Das Musical gab es zwar noch nicht, aber meine Eltern kannten die Vorlage, “Pygmalion” von George Bernard Shaw und ich bin überzeugt, meine Mutter hat sich in der Rolle des Professor Higgins gut gefallen. So wie Henry Higgins im Schauspiel, formte meine Mutter aus dem einfachen Mädchen vom Lande eine feine Dame, die einen standesgemäßen Gatten sucht.

Mein Vater tat ein übriges und übernahm den Sprachunterricht, um ihr makelloses Hochdeutsch beizubringen. Dazu wurde das geheimnisvolle Magnetophon-Gerät benutzt, das mein Papa eigens für seine Schauspielschüler angeschafft hatte. Eines Tages muss mein Vater dann: “Ich glaub jetzt hat sie’s!” gerufen haben und Erika konnte akzentfrei, “es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen”, sprechen.

Image  My Fair Lady

Aber mündliches Deutsch war nicht die einzige zu bewältigende Disziplin, auch Briefe mussten geschrieben werden. Gefühlvolle, charmante Liebesbriefe, die das Feuer der Zuneigung beim fernen Galan entfachen sollten. Was soll ich sagen: Meine Mutter hat sie auf der Schreibmaschine entworfen und Erika schrieb sie mit ihrer etwas wackligen Jungmädchen-Handschrift ab. Dazu schickte Erika Bilder von sich in eleganten Kleidern und langen Perlenketten. Der Gatte in spe war begeistert und nach wenigen Monaten kündigte er seinen Besuch in Berlin an.

Die jungen Brieffreunde verstanden sich auch persönlich ausgezeichnet und es kam die erste Nacht, in der Erika nicht das Bett mit mir teilte. Instinktiv wusste ich, dass Erika dabei war, mich für einen anderen Kerl zu verlassen. Ich schrie die halbe Nacht und war nicht bereit, mich in mein Schicksal zu fügen. Aber es half nichts, schließlich wurde Verlobung gefeiert. Ich würdigte meinen Nebenbuhler mit keinem einzigen Blick und auch zu Erika war ich nur noch kratzbürstig. Am nächsten Tag brachten wir die beiden zum Flughafen Tempelhof. Meine Eltern kauften mir haufenweise Spielzeug, meine Lieblingsgerichte wurden gekocht und ich durfte bei ihnen schlafen. Trotzdem dauerte es Monate bis ich über den Verlust hinaus war uns manchmal glaube, dass ich ihn bis heute nicht ganz verwunden habe. Der Kontakt zwischen uns und “Etika” brach ab, man hatte wohl Angst, Erikas Ehemann könnte doch noch herausbekommen, dass Erika nicht ganz ehrlich zu ihm war.

Im Jahre 2013 begann ich die Geschichte meiner Familie aufzuschreiben, dabei fielen mir zwei Briefe meiner in Kanada verschollenen Nanny in die Hände. Ich überlegte schon länger, ob sie noch lebt und wie es ihr ergangen war? Ich erfuhr, Erika lebte in Calgary und hatte eine Tochter namens Marion. Tatsächlich habe ich eine Marion S. aus Calgary bei Facebook gefunden und an sie geschrieben. Marion hat 1975 ihre Schule abgeschlossen, das käme hin. Sogar die Adresse war nicht weit von der entfernt, die Erika 1958 angeben hatte. Trotzdem ich mehrfach an sie und ihren ebenfalls bei Facebook eingetragenen Sohn schrieb, bekam ich nie eine Antwort, wieso auch immer. Das einzige, was ich noch in Erfahrung bringen konnte war, dass eine Erika S. vor etwa fünf Jahren in Calgary gestorben ist.

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Marcus Kluge

 

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