Familienportrait‭ ‬-‭ „Endstation‬ Straßenbahn‭” ‬/‭ ‬Berlin‭ ‬1920-1963

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Mein Großvater Werner Hellmich war‭ ‬21,‭ ‬als er in den‭ Ersten ‬Weltkrieg ziehen musste.‭ ‬Bald wurde ihm klar,‭ ‬dass die Realität des Krieges nichts Ehrenvolles oder Erhabenes hatte.‭ ‬Es war ein schmutziges,‭ ‬sinnloses Töten oder Getötetwerden.‭ ‬Von diesen traumatischen vier Jahren hat er sich nie wieder wirklich erholt.‭ ‬Er kam mit einem Magenleiden zurück,‭ ‬nachdem man ihm ein Drittel des Organs in einer Notoperation im Feldlazarett entfernt hatte.‭ ‬Er war ein stiller,‭ ‬zurückhaltender Mann,‭ ‬der es am liebsten hatte,‭ ‬in Ruhe gelassen zu werden.‭ ‬Leider hatte er sich dafür die falsche Frau ausgesucht.

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Meine Großmutter Elisabeth Schnelle kam‭ ‬1910‭ ‬als‭ ‬15-jährige nach Berlin,‭ ‬um in Steglitz als Hausmädchen in‭ “‬Stellung‭” ‬zu gehen.‭ ‬Im heimischen Liebenwerda gab es nicht genug Arbeit und nur ihre erstgeborene Schwester Martha durfte in der Kleinstadt bleiben.‭ Elisabeth und später ihre kleine Schwester Charlotte musste sich im fernen Berlin ein Auskommen suchen. ‬Hausangestellte wurden nicht gut behandelt,‭ ‬oft waren sie dem Missbrauch durch die‭ “‬Herrschaften‭” ‬ausgesetzt.‭ ‬Jeden zweiten Sonntag hatte sie frei,‭ ‬dann lief sie die Kaiserallee‭ (‬heute Bundesallee‭) ‬hoch in Richtung Zoo und aß bei Aschinger Erbsensuppe.‭ ‬Oft kullerten dabei Tränen in ihren Teller,‭ ‬sie vermisste ihre Familie,‭ ‬hatte Heimweh und litt unter den Arbeitsbedingungen.

Bei allem Leid und den Sorgen,‭ ‬die der Krieg ab 1914 mit sich brachte,‭ ‬hatte er für Elisabeth eine positive Folge.‭ ‬Denn nun wurden Frauen gesucht,‭ ‬die die fehlenden Männer in den Fabriken ersetzten.‭ ‬Sie fing an bei Osram Glühlampen herzustellen.‭ ‬Sie konnte es sich sogar leisten,‭ ‬ab und zu, mit der Bahn in die Heimat zu fahren.‭ ‬Aber sich allein in der fremden,‭ ‬nicht sehr freundlichen Stadt Berlin‭ ‬durchzuschlagen,‭ ‬hatte sie hart gemacht.‭ ‬Ihr Ehemann wird es zu spüren bekommen.

Elisabeth läuft‭ ‬1918‭ ‬während der Novemberrevolution mit der roten Fahne durch Berlin,‭ ‬doch als sie am Abend müde wird,‭ ‬reicht sie das Symbol weiter und geht nach Hause.‭ ‬Sie war dabei und wird später stolz davon erzählen.‭ ‬1920‭ ‬lernt sie Werner kennen.‭ ‬Sie spürt sofort,‭ ‬da ist einer,‭ ‬der sich ihrer Führung nicht verweigert.‭ ‬Schon lange träumt sie den Traum,‭ ‬den viele ledige junge Frauen träumten.‭ ‬Statt in die Fabrik zu gehen,‭ ‬möchte sie Ehefrau,‭ ‬Hausfrau und vielleicht auch Mutter werden,‭ ‬wenn denn das Geld reicht,‭ ‬das der Mann heimbringt.‭ ‬Der stille Werner würde ihr als Gatte gut gefallen,‭ ‬doch einen Fehler hat die Sache, er ist arbeitslos.‭ ‬Elisabeth hört sich um und wird fündig.‭ ‬Morgens um halb fünf weckt sie unsanft ihren Werner und scheucht ihn zu den Verkehrsbetrieben (Die BVG wir erst 1929 gegründet).‭ ‬Ohne Job bräuchte er gar nicht wiederkommen,‭ ‬ruft sie ihm nach.‭ ‬Um viertel sechs meldet sich Werner auf dem Straßenbahnbetriebshof Wiebestraße,‭ ‬er ist der erste Mann,‭ ‬der an diesem Morgen nach Arbeit fragt.‭ ‬So wird er Straßenbahnschaffner und wird es über‭ ‬40‭ ‬Jahre bleiben.‭ ‬Egal bei welchem Wetter und zu welcher Schicht,‭ ‬seine Frau sorgt dafür,‭ ‬dass er aufsteht und zum Dienst geht.‭ ‬Selbst eine leichte Grippe ist keine Entschuldigung,‭ ‬nur wenn er wirklich schwer krank ist,‭ ‬darf er im Bett bleiben,‭ ‬während Elisabeth ihn mit rabiaten Methoden zu heilen versucht.‭ ‬Was sie nicht schafft,‭ ‬erledigt der‭ “‬Vertrauensarzt‭”‬.‭ ‬Heute‭ ‬sind es die medizinischen Dienste der Krankenkassen,‭ ‬damals waren es niedergelassene Ärzte,‭ ‬die als Gutachter vermeintliche Faulenzer und Drückeberger gesundschrieben.‭ ‬Diese Vertrauensärzte sorgten dafür,‭ ‬dass ihre Patienten den Besuch in unguter Erinnerung behielten.‭ ‬Gern nahm man ehemalige Militärärzte,‭ ‬weil die als scharf und gnadenlos bekannt waren.‭ ‬Werner überlegte es sich mehrmals,‭ ‬bevor er sich bei seiner Frau krankmeldete.‭ ‬Es wird ein lebenslanges Trauma für den stillen Mann mit der angeschlagenen Gesundheit.
Trotzdem muss er seine Frau geliebt haben,‭ ‬sie hatte durchaus ihre angenehmen Seiten.‭ ‬Sie schlug sich mit Humor und viel Mutterwitz durchs Leben.‭ ‬Sie war treu und mit einem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn ausgestattet,‭ ‬für ihre Familie tat sie fast alles.‭

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Elisabeth (re.) mit Schwestern, ca. 1922.

Es muss ein Sonntag im Sommer‭ ‬1920‭ ‬gewesen sein,‭ ‬als Werner und Elisabeth sich kennenlernten.‭ ‬Elisabeth leistete sich eine Erbsensuppe bei Aschinger,‭ ‬es ist noch immer ihr Sonntagsritual.‭ ‬In der Mitte des großen Stehtisches lagen die Brötchen in einem Korb,‭ ‬von denen man soviel essen konnte,‭ ‬wie man wollte.‭ ‬Es passierte selten,‭ ‬aber eben jetzt war es so:‭ ‬nur noch eine Schrippe lag im Körbchen‭! ‬Im selben Moment wie Elisabeth griff der freundliche Mann mit der Nickelbrille zu,‭ ‬beider Hände berührten sich über dem Körbchen.‭ ‬Beide zogen ihre Hände blitzartig zurück,‭ ‬aber der nette junge Mann fängt sich schnell wieder,‭ verschmitzt ‬lächelnd greift er den Korb und bietet das Brötchen der Dame an:‭ “‬Ladies first,‭ ‬sagen die Engländer,‭ ‬also bitte schön‭!”
Elisabeth wurde rot bei so viel Charme.‭ Dann‬ unterhielten sie sich über Kinofilme.‭ ‬Werner ist Fan der polnischen Schauspielerin Pola Negri,‭ ‬die Anfang der‭ ‬20er Jahre zum internationalen Star aufsteigt.‭ ‬Elisabeths dunkle,‭ ‬träumerische Augen erinnerten ihn an die Diva und er sagte es ihr.‭ ‬Ein tolles Kompliment‭! ‬Das Kino wird ihr gemeinsames Hobby,‭ ‬zumal Werner wie sie,‭ ‬am liebsten romantische Filme sieht.

Es dauerte nicht lange,‭ ‬bis die zwei ein Paar wurden und nachdem Werner bei der BVG anfing,‭ ‬heirateten sie und dachten an Nachwuchs.‭ ‬Die Wohnung in der Perleberger Straße ist war zwar winzig,‭ ‬aber wenigstens ein einziges Kind wollten beide.‭ ‬Am zweiten Weihnachtsfeiertag‭ ‬1922‭ ‬wurde meine Mutter Käthe geboren.‭ ‬Elisabeth wollte sich das Weihnachtsfest nicht mit einer Geburt verderben,‭ ‬aber am‭ ‬26.‭ ‬half nichts mehr,‭ ‬sie mussten ins Krankenhaus und meine Mutter wurde geboren.
Käthe wird schnell groß.‭ ‬Oft leidet sie,‭ ‬wie auch ihr Vater,‭ ‬unter der Strenge der Mutter.‭ ‬Besonders Krankheit duldet die Mutter nicht.‭ ‬Bauchschmerzen werden mit brühendheißen Wärmflaschen kuriert,‭ ‬Ohrenschmerzen mit in siedendes Öl getauchten Wattepfropfen.‭ ‬Trotzdem liebt Käte ihre Mutter,‭ ‬sie fühlt sich sicher und geborgen bei der starken Frau.‭

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Die Naziherrschaft und den‭ ‬2.‭ ‬Weltkrieg übersteht die Familie äußerlich unbeschadet.‭ ‬Elisabeth bringt sich mehr als einmal in tödliche Gefahr,‭ ‬weil sie,‭ ‬auch in der Öffentlichkeit,‭ ‬über die ihr verhassten Nazis räsonniert.‭ ‬Als zum Kriegsende die Moabiter Wohnung einen Bombenschaden erleidet,‭ ‬ziehen Mutter und Tochter mit einem Handwagen nach Wilmersdorf.‭ ‬Moabit sollte russisch und Wilmersdorf amerikanisch werden.‭ ‬Sie besetzen eine leerstehende Wohnung in der Bundesallee und behaupten frech ihr Mietvertrag wäre verbrannt,‭ ‬sie kommen durch damit‭! ‬Als Werner krank und abgemagert aus dem Krieg zurückkommt,‭ ‬hört er bei Moabiter Nachbarn,‭ ‬vom Umzug nach Wilmersdorf und die kleine Familie ist wieder vereint.‭

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Werner darf wieder Schaffnerdienst in der Straßenbahn tun und ist vielleicht nicht glücklich, aber zufrieden.‭ ‬Ihm wird eine Kur für seine angeschlagene Gesundheit verschrieben,‭ ‬ein Foto zeigt ihn ein wenig skeptisch in die Kamera blickend.‭ ‬Meist wirkt er verschlossen auf Fotos.‭ ‬So auch‭ ‬1960,‭ ‬als er mit mir und meinem Bruder Thomas in den Zoo geht und Thomas ihn knipst.‭ ‬Lange steht Werner vor dem Eisbären‭ ‬der, hinter dicken Gitterstäben in einem viel zu kleinen Käfig haust.‭ ‬Nach dem‭ ‬2.‭ ‬Weltkrieg waren die meisten Häuser und Freianlagen zerstört,‭ ‬weniger als‭ ‬100‭ ‬Tiere hatten überlebt.

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-Seit‭ ‬1954‭ ‬plant die West-Berliner Politik,‭ ‬die Straßenbahnen abzuschaffen.‭ ‬13‭ ‬Jahre später wird,‭ ‬als letzte Linie,‭ ‬die‭ ‬55‭ ‬eingestellt,‭ ‬die vom Zoo über Charlottenburg nach Ruhleben fuhr.‭ ‬Es ist eine Entwicklung,‭ ‬die Werner traurig macht.‭ ‬Gerade Berlin,‭ ‬wo‭ ‬1881‭ ‬die allererste elektrische Straßenbahn der Welt fuhr,‭ ‬kann er sich ohne Tram nicht vorstellen.
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Anfang der‭ ‬1960er Jahre muss er auf Rente gehen,‭ ‬viel lieber würde er weiter arbeiten.‭ ‬Über‭ ‬40‭ ‬Jahre war er BVG-ler,‭ ‬auch als Rentner fährt er mit seiner‭ “‬Ehrennetzkarte‭” ‬fast täglich quer durch die Stadt.‭ ‬Natürlich tut er das auch,‭ ‬um seiner strengen Ehefrau zu entgehen,‭ ‬die es gar nicht schätzt,‭ ‬dass der Mann jetzt viel zu Hause ist und ihre Kreise stört.‭ ‬Sie ziehen in eine Neubauwohnung,‭ ‬nur eine Ecke weiter in der Prinzregentenstraße.‭ ‬Elisabeth wird von einem Auto angefahren.‭ ‬Ihr Wahlspruch:‭ “‬Der sieht mich doch‭!”‬,‭ ‬hat versagt.‭ ‬Im Krankenhaus wirkt sie munter und gelöst,‭ ‬ein Foto zeigt sie mit leuchtenden Augen.‭ ‬Vielleicht ist es die Wirkung vom Sekt,‭ ‬sie hat ein Glas in der Hand.‭ ‬Gern trinkt sie auch Eierlikör,‭ ‬den sie mit Weinbrand Marke‭ “‬Attaché‭” “‬verdünnt‭”‬,‭ ‬wie sie sich ausdrückt.

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Lange kann sich Werner nicht seines Ruhestandes erfreuen,‭ ‬schon‭ ‬1963‭ ‬stirbt er,‭ ‬sein Herz hatte keine Kraft mehr.‭ ‬Sein Sterben ist meine erste Begegnung mit dem Tod.‭ ‬Während die Erwachsenen in der‭ “‬guten Stube‭” ‬die Beerdigung begießen,‭ ‬hat man mich mit Micky Maus Heften ins großelterliche Schlafzimmer geschickt.‭ ‬Mir wird bewusst,‭ ‬dass ich auf dem Bett liege,‭ ‬in dem mein Opa kurz zuvor gestorben ist.‭ ‬Es ist zum gruseln und trotzdem schwer vorzustellen,‭ ‬ihn nie wieder treffen zu können.‭ ‬Ich mochte ihn gern und vermisse ihn.‭

Werners Frau,‭ ‬meine Oma Elisabeth,‭ ‬wird alt,‭ ‬sehr alt.‭ ‬Erst mit‭ ‬88‭ ‬stirbt sie in einem Altenheim im Zustand der Demenz,‭ ‬der ihre letzten Lebensjahre überschattete.

Wenn Werner heute aus dem Straßenbahnerhimmel auf seine Heimatstadt niederblicken könnte, wäre er erfreut. Durch die Vereinigung beider Stadthälften ist ganz Berlin wieder eine Straßenbahnstadt. Auch der Westen:
„Die erste Strecke wurde 1995 über die Bornholmer Straße in zwei Etappen Richtung Westen eröffnet. Das Rudolf-Virchow-Klinikum sowie die U-Bahnhöfe Seestraße in Wedding und Osloer Straße, in Gesundbrunnen gelegen, sind seitdem wieder an das Straßenbahnnetz angeschlossen.“ Quelle WiKi*.
2010 hat Berlin das weltweit drittgrößte Straßenbahnnetz. Das Netz hat eine Streckenlänge von 189,4 Kilometern und 808 Haltestellen. Werner wäre stolz darauf. Nur wieso es keine Schaffner mehr gibt, würde er fragen. Wer soll denn den Passagieren Fahrscheine verkaufen und Fragen beantworten?

M.K.

*Die Berliner Straßenbahn:
https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn_Berlin

Familienportraits‭ ‬-‭ ‬Die Serie:

„Familienportrait” – Die Serie

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