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Familienportrait – “Cold Turkey” / Die Legende von Xanadu Kapitel Acht / 1973 / von Marcus Kluge

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Fast zwei Tage ist es gut gegangen, schlimme Entzugserscheinungen hat er nicht bekommen. Er hat das Mittel genommen das Philippus ihm verschrieben hat. Propanolol ist eigentlich gegen Bluthochdruck, aber es hilft auch gegen Angst und Missstimmung. Gut, die Knochen taten etwas weh, besonders das Knie, doch das kannte er. Die Nase lief, aber das war nicht schlimmer als ein kleiner Schnupfen. Am frühen Abend hat er noch das unangenehme Gespräch mit seiner Mutter geführt, sie weiß nun über Hanna und das Heroin-Problem Bescheid. Seine Vermutungen über Puvogel wollte er für sich behalten, um sie nicht weiter zu beunruhigen, aber als er dann vor ihr saß, hat er es doch erzählt. Er kann nur schwer Geheimnisse vor ihr haben. Ist er deshalb ein Muttersöhnchen? Immerhin, es hat sie beruhigt, dass er zu einem Arzt geht und beim Entzug steht sie ihm bei, sagt sie. Danach haben sie zusammen einen Film im Fernsehen gesehen, “Die Verdammten” von Joseph Losey. Der Film war gruselig, radioaktive verseuchte Kinder werden in einem Bunker gefangen gehalten, sie werden durch unzählige Überwachungskameras beobachtet. Die Kinder haben weiß leuchtende Augen und übernatürliche Fähigkeiten. Als er ins Bett geht verfolgen ihn diese Augen. Er wälzt sich hin und her, an Schlaf ist nicht zu denken, nun tut sein ganzer Körper weh. Alles zieht und spannt, er findet einfach keine bequeme Position. Abwechselnd wird ihm heiß und kalt.

“Cold Turkey” nennen sie diesen Zustand, wegen der Gänsehaut die man bekommt, hat ihm der “Doktor” sein Junkiefreund erklärt. “Affe” sagen sie auch für Entzug, ein unberechenbares Tier sitzt einem auf der Schulter und drängelt wieder die Droge zu nehmen. Er geht in die Küche um Tee zu kochen, am Gasherd brennt schon eine Kochstelle. War er eben schon mal hier und hat es vergessen? Nun hilft auch das Medikament nicht mehr, er hat Angst. Etwas Furchtbares wird passieren, er ist sich sicher. Ins Bett zurück will er nicht. Es ist halb zwei, er beschließt sich anzuziehen, er muss einfach raus. Er steckt schnell noch einen 20-Markschein ein, wieso eigentlich?

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Ohne jeden Plan geht er los, vom Bundesplatz läuft er die Bundesallee hoch in Richtung City. Er kommt an der Sparkassenzentrale vorbei, wo ein Wachmann vor drei Monitoren sitzt, auf denen geschlossene Türen zusehen sind. Ob hinter den Türen Kinder mit leuchtenden Augen gefangen gehalten werden? Irgendwann werden auch auf den Strassen Kameras angebracht werden und Uniformierte werden alles beobachten, wie in “1984”. Noch elf Jahre bis dahin, ob der Roman Wirklichkeit wird, überlegt er? Hoffentlich nicht, aber etwas in der Art erwartet er schon. Jetzt hat er das Gefühl, an den Fenstern stehen gruselige Kinder und beobachten ihn. Er geht schneller, wird er jetzt paranoid?
Er überquert die Güntzelstraße, vorbei am ADAC-Haus. Gleich kommt eine Disco, es soll ein verranzter Laden sein, wo Drogen gehandelt werden, “Baustelle” heißt er wohl. Durch den Eingang hört er Musik, “Eight Miles High” von den Byrds. Er geht rein, der große Raum ist fast leer, zur Deko gehören Baugerüste, auf eine Leinwand werden alte Tom und Jerry Filme projeziert und auf der Tanzfläche schaffen sich drei zugedröhnte Gestalten. Beaky setzt sich an die Theke, bestellt eine Cola, die ihm “aufs Haus” vom rockermäßig aussehenden Barkeeper zugeschoben wird. Es ist die 15 Minuten-Fassung vom Byrds-Album “Untitled”. Roger McGuinn versucht auf der zwölfsaitigen Rickenbacker John Coltranes Saxofonspiel nachzuahmen. Normalerweise würde ihn die Musik begeistern, aber ihm ist nur elend. Beaky sieht sich um und ist sicher, obwohl der Laden fast leer ist, würde er hier Heroin oder was gegen den Entzug bekommen. Der Barkeeper zwinkert ihm zu, als ob der seine Gedanken lesen könnte. Der DJ legte jetzt “Cold Turkey” von John Lennon auf. Beaky kommt sich ertappt vor. Als ob der DJ wüsste, dass Beaky auf Entzug ist.

“My body is aching, goose-pimple bone, thirty-six hours, rolling in pain.”

Er kann die Spannung nicht mehr aushalten und verlässt fluchtartig den Laden. Vielleicht war das sowas wie ein Omen, das ihm helfen soll standhaft zu bleiben. Beaky läuft weiter durch die Nacht und findet sich in der Düsseldorfer Straße wieder, wo Hanna wohnt. Wenn er noch drei Tage durchhielte, hätte er das Schlimmste überstanden und wenn er dann clean zu Hanna kommen würde, mit Geschenken, dann würde sie ihn zurücknehmen, oder? Doch, die Chance war da und er würde sie nutzen, auch wenn sein Plan gefährlich war.

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Solange er läuft sind die Schmerzen auszuhalten, er macht einen weiten Bogen, kommt über den Olivaer Platz zum Kudamm und läuft diesen hoch in Richtung Halensee. Auch hier ist alles ruhig, nur ein paar Bars haben noch offen und der Athenergrill natürlich, der hat ja immer auf. Dieses West-Berlin ist ganz schön provinziell denkt Beaky. Er kommt am ehemaligen “Park” vorbei, wo wohl die 2000 Watt Dynakord-Gigant Anlage hingekommen ist? Links lässt er den Club Eins liegen, nein, er würde standhaft bleiben. Über die Brandenburgische Straße erreicht er die Blissestraße, jetzt hat er Bettschwere und will noch einmal versuchen zu schlafen.
Als er auf Zehenspitzen den dunklen Flur zu seinem Zimmer durchquert, stolpert er über die Reisetasche. Er kann sich noch fangen. Er nimmt die Tasche mit ins Zimmer und öffnet sie. Sie ist randvoll mit Büchern, Puvogels Doubletten! Obenauf liegt ein schmales Bändchen: “Kubla Khan and other Poems by Samuel Taylor Coleridge”. Da war doch was mit Xanadu. Ja, er liest fasziniert das berühmte Gedicht über Kublai Khans legendäres Prunkschloss. Er versteht nicht alles, aber er nimmt sich vor in die Bibliothek zu gehen, um Wörter, die er nicht kennt, nachzuschlagen.

“In Xanadu did Kubla Khan
A stately pleasure-dome decree:
Where Alph, the sacred river, ran
Through caverns measureless to man
Down to a sunless sea.”

Gegen zehn Uhr wird er wach, er fühlt sich zerschlagen. Es ist der dritte Tag, der schlimmste der Entzugstage. Er hat Kopf- und Gliederschmerzen, die Nase läuft, ihm ist kalt. Er zweifelt, ob er durchhält. Mit sehr viel Disziplin befiehlt er sich aufzustehen, er wäscht sich, putzt die Zähne und kocht Kaffee. Fast geht es über seine Kräfte. Da fällt ihm siedendheiss ein, um elf Uhr ist Gruppe beim Professor. 15 Minuten später sitzt er im Taxi: “Uhlandstraße Ecke Lietzenburger, bitte.” Der Taxifahrer mault: “Ne noch kürzere Strecke ha’m se nich’?” Beaky ignoriert den Mann und sieht aus dem Fenster, bis sich der Chauffeur endlich in sein Schicksal fügt.
Als Beaky das Wartezimmer betritt, sitzen bereits ein Dutzend Mitpatienten auf den Sitzgelegenheiten, die nun im Kreis aufgestellt sind. Prof. Philippus betritt den Raum und Beaky versucht ihn anzusprechen, aber Philippus weist ihn ab, allerdings mit einem freundlichen “nach der Gruppe”.
Eine Stunde ist Beaky seinen Entzugserscheinungen ausgeliefert. Die Leiden seiner Mitpatienten können ihn nicht ablenken. Er schwitzt, rutscht auf den Thonetstuhl hin und her um die Schmerzen zu lindern, er hört sein Herz pochen und er träumt von einer Zigarette. Einzig Susanna hört er aufmerksam zu, wie sie sich über seinen Freund, den falschen Doktor, beschwert. Er wäre ein absoluter Egoist und seine Freundlichkeit falsch. Wieso sie mit ihm zusammen ist, fragt der Psychiater. Sie liebe ihn, bekennt Susanna. Beaky erfährt auch, dass Su Geld als Striptease-Tänzerin verdient, obwohl sie mal Kunstgeschichte studiert hat. Dann hat sie in Budapest in einer Bar gejobbt und da ist sie “entdeckt” worden. Aber weil sie für den Geheimdienst arbeiten sollte, ist sie über Jugoslawien in den Westen gekommen. Dann soll Beaky sich vorstellen, er glaubt völligen Schwachsinn von sich zu geben, als er über seinen Liebeskummer und sein Suchtproblem spricht. Doch die anderen hören ihm aufmerksam zu, nicken und nehmen ihn ernst.
Nach der Sitzung legt Professor Philippus Beaky einen Arm auf die Schulter, mit dieser freundschaftlichen Geste zieht er den jungen Mann in sein Sprechzimmer. “Was kann ich für sie tun, Beaky?” Der Arzt schaut seinen Patienten aufmerksam an und wartet bis dieser sich gesammelt hat.
“Der Entzug ist schlimm, ich möchte sie um ein Rezept bitten, Validol oder sowas, bitte.”
“Lieber Beaky, natürlich kann ich ihnen ein Rezept geben, gar kein Problem. Nur weiß ich nicht, ob ich ihnen damit einen Gefallen tun würde. Das Schlimmste haben sie doch schon überstanden, wenn sie jetzt durchhalten wird das auf ihre, Hanna heißt sie, ja, … eine große Wirkung haben. Wenn wir nun mit einem Opioid substituierten, würden sie das später immer als Niederlage werten. Verstehen sie?”
Beaky verstand, er verstand erstaunlich schnell und er musste sich der Logik des Arztes anschließen, oder vielleicht schämte er sich zu sehr für seine Sucht, um zu protestieren: “Ja, gut. Ich halte durch.”
Philippus klopfte ihn auf die Schulter und verabschiedete sich leutselig: ” Wir sehen uns, junger Mann.”

Es ist später Nachmittag und eine immer noch wärmende Sonne taucht die Schlüterstraße in ein flirrendes Licht, als ein offener, weißer Rolls-Royce vor Puvogels Galerie parkt. Der Chauffeur, ein kleiner Mann mit einer Livrée und Schirmmütze, springt aus dem Wagen um ,mit einer tiefen Verbeugung, seinem Fahrgast den Schlag zu öffnen. Aus dem Rolls steigt eine blonde Dame im Chanel-Kostüm, mit perfektem Make-Up und dem Lächeln einer Film-Diva. Sie hat einen kleinen, flachen Hut auf, wie ihn Bob Dylan in einem Song beschreibt, ein Pill-Box-Hut. Nur ist der Hut blau und nicht aus Leopardenfell wie im Lied. Nachdem Beaky seine Überraschung über den fantastischen Wagen und den perfekten Aufzug der beiden verarbeitet hat, fragt er sich nun mit Hochspannung, wie Puvogel die Szene aufnehmen wird.
Puvogel, wie immer in Anzug und Krawatte, streicht sich einmal über sein schmales Schnurbärtchen, wobei sein Lächeln dem eines Haifischs gleicht, als er die Nobelkarosse mit dem schicken, weiblichen Fahrgast erspäht. Dann eilt er zur Ladentür, um die Dame mit einem formvollendeten Handkuss zu begrüßen.
“Von Puvogel ist mein Name, ich freue mich sie in meiner Galerie begrüßen zu dürfen, gnädige Frau.” Inzwischen hat er die Blondine in den Laden geführt und ihr einen Stuhl angeboten, doch sie bleibt lieber stehen. Der Chauffeur ist draußen geblieben und wartet in Habacht-Stellung neben dem Luxusgefährt. Obwohl er eher untersetzt ist, geht von ihm eine gewisse Gefährlichkeit aus, er könnte auch ein Body-Guard sein.
“Meiner Name ist Hrabina, also, Gräfin Elzbieta von Rogacki, sie haben bähstimmt von mir gehört. Sie dürfen mich nennen Gräfin”
“Natürlich, wer hätte nicht von ihnen gehört, ich stehe ganz zu ihren Diensten, gnädige Frau Gräfin”, Puvogel hat noch nie von ihr gehört, aber er lässt sich seine Unkenntnis nicht anmerken. Seinem Assistenten Beaky raunt der Galerist zu: “Champagner für die Dame.”
Beaky ist enttäuscht ins Hinterzimmer zu müssen, um eine der Pikkolo-Flaschen aus dem Eisschrank zu holen, die Puvogel für besondere Kunden bereithält. Aber er versucht dem Gespräch durch die offene Tür zu folgen. Die Gräfin schmeichelt Puvogel wegen seiner Jugendstil und Art Deco-Kenntnisse, er wäre ihr empfohlen worden. Der Mann mit dem Clark-Gable-Bärtchen ist seinem Gast nun schon fast verfallen, für Schmeichelei ist er immer empfänglich. Auch als die Gräfin von Rogacki, sie spricht den Namen korrekt, Rogatzki aus und nicht wie die Berliner Rogakki, von einer Notlage erzählt, schöpft er keinen Verdacht.
Als Beaky mit dem Tablett zurückkommt und erst der Gräfin und anschließend seinem Chef Sekt in flachen Schalen serviert, sind die beiden bereits bei den Details eines weiteren Treffens, sie werden sich am Abend noch einmal sehen. “Ich würde sehr gern ihren Schmuck schätzen und selbstverständlich auch ankaufen, mit dem Preis einigen wir uns bestimmt. Ich habe doch kein Interesse, sie zu übervorteilen, Frau Gräfin von Rogacki. Das wäre Gift für mein Renommee.” Puvogel verschweigt das sein Renommee keineswegs günstig ist, er hat schon Kunden übers Ohr gehauen und in der Branche weiß man das. Sie trinken nun auf ein gutes Gelingen ihres Geschäfts, wobei beide gänzlich unterschiedliche Vorstellungen davon haben.
Fünf Minuten später ist der Mummenschanz vorbei und Beaky fragt sich, ob er die Szene, die sich eben abspielte wirklich erlebt hat, oder ob er er einer Halluzination erlegen war. Doch, es war passiert, Beaky ist seinem Ziel ein Stück näher gekommen, nachdem er den Entzug überwunden hat, hat nun der erste Akt seines Plan erstklassig funktioniert. Allerdings denkt er auch an die Gefahr. Wenn es schiefgeht könnte er wieder im Knast landen, aber andererseits, ein Leben ohne Hanna wäre auch wie ein lebenslanger Knast. Das waren seine Gedanken.

Wird fortgesetzt

Die Illustration hat erneut Rainer Jacob mit spitzem Bleistift kunstvoll zu Papier gebracht.

In der nächsten Folge versucht Beaky Hanna zurück zu gewinnen. Außerdem ist ein tragischer Unfall zu beklagen, was für Beaky unangenehme Folgen hat. Das neunte Kapitel trägt den Titel “Pièce de Résistance” und ist bereits erschienen:

Familienportrait – “Pièce de résistance” / Die Legende von Xanadu Kapitel Neun / 1973 / von Marcus Kluge

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich Namen und Details verändert.

Die Geschichte des Songs “Cold Turkey” von John Lennon:
http://de.wikipedia.org/wiki/Cold_Turkey_%28Lied%29

“Eight Miles High” von The Byrds:
http://de.wikipedia.org/wiki/Eight_Miles_High

 

 

“Die Tiefe der Erinnerung” / Interview mit Marcus Kluge / aus “Achte Reise zur Blechluft”

Anfang 2015 bat mich Günter Sahler um ein Interview. Für “Achte Reise zur Blechluft” befragte er mich zu meinem Blog und der Entstehung meines ersten Romans “Xanadu’73”. Hier dokumentiere ich das Gespräch für die Leserinnen und Leser meines Blogs.

Günter Sahler: In den 80er Jahren hast Du das Fanzine „Assasin“ gemacht und warst auch in der Berliner Musikszene aktiv. Als damaliger Fanzine- und Kassettenmacher dürftest Du mit Deinen Erfahrungen mit Druckereien und Selbstvertrieb beim heutigen Selfpublishing Vorteile haben. Wie siehst Du das?

Marcus Kluge: Was wir damals mit Fanzines und Kassetten probiert haben, entstand aus dem Bedürfnis sich selbst auszudrücken und eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Foto-Kopieren, drucken, Kassetten kopieren und alles in West-Berlin zu verteilen, war natürlich viel aufwändiger als heutige Distributionsformen wie das Internet. Über Berlin hinaus lief ja alles über die Post. Da ist das Internet traumhaft im Vergleich. Wichtigste Erfahrung, war: das Selbermachen und somit die Kontrolle zu behalten. Deshalb haben wir uns auch für eine kleine Berliner Druckerei entschieden und gegen eine Internet-Firma, jetzt beim ersten Buch. Vertreiben werde ich das Buch auch wieder selbst, übers Netz und hier in Berlin.

img_20140126_0007 Fanzine “Assasin” 1984

G.S.: Im Herbst 2013 hast mit dem Bloggen von Familiengeschichten angefangen. Wie hat sich das ergeben und wie bist Du dann dazu gekommen mit deinem ersten Roman zu starten?

M.K.: Nachdem ich fast 20 Jahre für die Medienanstalt Berlin-Brandenburg gearbeitet habe und dort die Fernsehprojekte von Laien produziert hatte, war mir meine Kreativität verloren gegangen. Selbst als ich Rentner wurde, gelang es mir nicht mehr eigene Texte zu schreiben. Es war eine handfeste Schreibblockade und ich beschloss einen Umweg zu gehen. Ich gründete die “Blinden Passagiere”, eine Selbsthilfegruppe, in der ich mit traumatisch belasteten Menschen gearbeitet habe. Ich wollte den Fokus nicht nur auf mich, sondern auch auf andere richten und das hat wohl funktioniert. Ostern 2013 bin in den Keller gegangen und kam mit einer Kiste voller Fotos, Briefe und Dokumente zurück. Ich war fasziniert von den Geschichten, die ich da fand und habe kurz danach angefangen diese aufzuschreiben. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass ich im Sommer 2013 Opa wurde. Eine Freundin empfahl mir ein Blog zu machen, ab dem 13. September 2013 habe ich auf wordpress “Familienportraits” veröffentlicht. In den ersten sechs Monaten wurde 12 000 mal auf Beiträge zugegriffen, eine Reichweite höher, als die Auflage von acht Assasin-Heften. Besonders die Stücke über West-Berlin kamen gut an, weshalb ich die Rubriken Berlinische Leben und Berlinische Räume eröffnet habe. Die “Leben” berichten hauptsächlich biografisch über Berliner und die “Räume” fokussieren auf Institutionen, Klubs und allgemein die Wohnsituation in der Mauerstadt. Zusätzlich habe ich auch Gastautoren gebeten über diese Themen zu schreiben, um den Blickwinkel zu erweitern. Ich möchte möglichst viel aus diesen Jahren dokumentieren, bevor die Zeitzeugen nicht mehr da sind. Siegfried Cracauer hat mal über den Film gesagt, er könne ein Stück Realität für die Nachwelt retten. So etwas versuche ich mit den Mitteln des Internets, ob es mir gelingt müssen andere entscheiden.

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Illu aus Blechluft

G.S.: In Geschichte „Die Legende von Xanadu“ geht es um den Heroinsüchtigen Beaky. Handlungszeitraum sind die 70er Jahre. Was wird auf dem Klappentext des Buchs stehen?

M.K.: Was auf dem Klappentext stehen wird, verrate ich noch nicht*, aber ich erzähle worum es geht. In den 70er Jahren starb ein ehemaliger Schulfreund an einer Heroinüberdosis und schon damals wollte ich darüber schreiben und habe recherchiert. Doch ich merkte, mir fehlte einfach das Handwerkszeug, das Leben von Beaky in seiner Komplexität darzustellen, ihm gerecht zu werden. Erst 35 Jahre später, Anfang 2014, schrieb ich einen kleinen Text über ein Pink Floyd Konzert 1970, bei dem Beaky vorkam und mir fiel sein kurzes, heftiges Leben wieder ein. Also beschloss ich, sein Leben in drei oder vier Kapiteln zu erzählen, an einen Roman hätte ich mich nicht herangetraut. Erst nach und nach gab ich Beaky mehr Raum und schließlich hatte ich einen kleinen Roman von ca. 140 Druckseiten fertig, zu meinem eigenen, größten Erstaunen. Ich hatte mir das nicht zugetraut. “Xanadu” ist eine Erinnerung an das West-Berlin der frühen 1970er Jahre, Liebe, Rausch und Rock’n’Roll sind die Themen. Es war mir auch wichtig, eine Art “Gegendarstellung” zu “Wir Kinder von Bahnhof Zoo” zu schreiben, ohne diese spekulative Gossenromantik des Bestsellers, der wahrscheinlich mehr Leute zum Heroin gebracht hat, als davor abgeschreckt. Mein Gegenentwurf ist Beaky, der aus einer bürgerlichen Familie kommt, der gebildet ist, Thomas Mann liest und den trotzdem eine Leere und Verlorenheit zu den Drogen treibt und dessen scheinbar dramatischer Tod in Wirklichkeit ein banaler Unfall ist.

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Illu aus Blechluft

G.S.: Die Geschichten orientieren sich an der Wirklichkeit und Du schreibst über Dinge aus Deinem Erfahrungsraum. Wie sammelst Du darüber hinaus Material und wie recherchierst Du?

M.K.: Im Wesentlichen hielt ich mich an die goldene Regel und schrieb über das, was ich kenne. Ich habe ein merkwürdig ausuferndes Gedächtnis, besonders an Dinge, die keinen besonderen Nutzen oder Sinn haben, erinnere ich mich perfekt, egal wie lange das Erlebte her ist. Und wen ich mich hinsetze und zu schreiben anfange, setzt das einen zusätzlichen Prozess in Gang und die Erinnerung wird tiefer, komplexer. Mit Ausnahme der Romane schreibe ich Wirklichkeit auf, ohne sie zu verändern. Bis auf die “Erfindung”, die der Prozess der Erinnerung und des Bewusstseins, an sich eben darstellt. Erst mit dem Xanadu-Roman fließt auch fiktives ein, doch das Meiste ist nicht erfunden, ich ordne und verdichte die Dinge nur. In meinem zweiten Roman, “Ein Hügel voller Narren” ist dann auch Neu-Schöpfung eingearbeitet. Das hat sich ganz langsam, organisch entwickelt. Selbst dieses Erfundene scheint mir schon dagewesen zu sein, es fühlt sich an, als ob ich es wiederfinde und aufschreibe, das ist ziemlich merkwürdig, es hat sich ergeben, ohne das ich es forciert habe. Ich muss da an einen Begriff aus der Filmsatire “Brazil” denken, da heißt der Geheimdienst “Information Wiederbeschaffung”. So bezeichne ich den Prozess scherzhaft bei mir selbst.
Neben der Erinnerung benutze ich meine reichhaltige Bibliothek und das Internet zum recherchieren. Im Internet finde ich nicht nur Fakten, sondern auch Zeitzeugen, die ich befragen kann. Das tue ich dann in der Regel per Mail oder Telefon.

12687780_10200986269695111_595421101207345024_n 2014, Foto: Geoff Pugh, Daily Telegraph

G.S.: Du hast derzeit einen guten Output, fast täglich erscheinen neue Texte auf Deine Webseite marcuskluge.wordpress.com. Wie kann ich mir Deinen Arbeitsalltag als Blogger mit WordPress, Facebook und Twitter vorstellen?

M.K.: Ich versuche einmal in der Woche einen neuen, längeren Text zu veröffentlichen. Reblogs, Bilderstrecken und Gastautoren ergänzen den Output. Wenn ich das Blog nicht bespiele, nimmt das Interesse ab, dann habe ich nur noch 40-50 Aufrufe statt 100 bis 200 täglich. Wahrscheinlich fließt es bei mir auch deshalb i.M. so gut, weil ich solange einen Schreibblock hatte und in jener Zeit sind Dinge gereift.
Eine Trennung von Privatleben und Arbeit gibt es nicht mehr. Ich schreibe morgens 500 Wörter in zwei Stunden etwa, alles andere, wie recherchieren, promoten, Kontakte pflegen, empfinde ich nicht als Arbeit. Aus gesundheitlichen Gründen muss ich aufpassen, mich nicht zu überlasten. Ich mache eine Siesta mittags und oft noch eine zweite am frühen Abend. Weil die Arbeit Spaß macht, überlaste ich mich manchmal, dann muss ich Auszeiten nehmen. Ich gehe selten weg, weil mich das ziemlich anstrengt und die Technik ermöglicht, dass ich fast alles von daheim machen kann. Ich empfinde diese Möglichkeiten als Segen. Auf der anderen Seite sind mir die Gefahren durch staatliche Dienste wie die NSA, oder private wie Google, sehr bewusst. Ich fürchte die beschworene Dystopie hat bereits begonnen und wird noch sehr böse Folgen haben. Aber auf Google und Facebook zu verzichten ist unrealistisch. Ein “Grundwiderspruch” hätten die 68er gesagt. 😉

G.S.: Rainer Jacob, der auch schon das „Assasin“ gestaltet hat und dort auch Comics gezeichnet hat, zeichnet nun wieder für deine Romane „Die Legende von Xanadu“ und “Ein Hügel voller Narren” Illustrationen. Wie kann man sich die inhaltliche und technische Zusammenarbeit zwischen Dir als Autor und Webmaster und Rainer Jacob als Zeichner vorstellen? Hättest Du auch ohne die Rainer Jacob an Illustrationen zu den Geschichten gedacht?

12654215_10153561472262982_3892196464954072360_nIllu: Rainer Jacob

M.K.: Rainer und ich sind seit über 40 Jahren Freunde. Obwohl, oder vielleicht auch, weil wir oft unterschiedliche Meinungen haben, respektieren wir den Anderen. Das gilt besonders für das Handwerk des Anderen, er redet mir nicht herein und ich ihm auch nicht. Natürlich gebe ich ihm Themen vor, oder sage z.B., die Figur Ghobadi stelle ich mir optisch so ähnlich vor wie Moshe Dayan. Mehr ist es nicht, welche Szene und welche anderen Figuren und Attribute er zeichnet, entscheidet er selber. Wir haben da eine fast schon intuitive Ebene des Verstehens. Manchmal zeichnet er Dinge, die im Text gar nicht vorkommen und ich greife das auf und schreibe es, oder stelle fest, dass die Sache später eine Rolle spielen wird.
Schon bevor wir, im Frühjahr 2014, unsere alte Zusammenarbeit wieder aufgenommen haben, habe ich meine Texte mit Originalfotos, Briefen, Dokumenten und anderem illustriert. Ich verfüge über ein Archiv von etwa 2000 Fotos, an denen ich die Rechte habe. Eigene, Familienfotos und Fotos, die ich in Auftrag gegeben habe aus der Assasin-Zeit. Nur zeichnen kann ich nicht. Ich hätte ohne Rainer die Romane mit Oldschool-Kollagen illustriert, hergestellt wie zu Fanzine-Zeiten, mit Cutter und Fixogum. Gibts eigentlich noch Fixogum?
Ich habe eine Lust an illustrativen Bildern, die einen in Stimmung versetzen, ohne die eigene Fantasie zu zerstören. An meinem neunten Geburtstag bekam ich “Bambi” von Felix Salten in einer wunderschönen Ausgabe geschenkt, Leinen, Fadenheftung usw. Sie hatte nur einen Fehler, sie enthielt keine Bilder. Bambi ohne Bilder? Ich habe nie Felix Salten gelesen.
Ich sehe meine Romane auch als unterhaltsame Fortsetzungsgeschichten, vielleicht eine Art Edel-Pulp, da gehört die Illustration einfach dazu.

G.S.: Du planst jetzt den Roman „Die Legende von Xanadu“ nicht nur über das Internet zu veröffentlichen, sondern auch als gedrucktes Buch. Finanzieren willst du über Crowdfunding. Wie wird das ablaufen? Wie wirst du dafür Werbung machen?

M.K.: Im Frühjahr werden wir in die Bewerbungsphase gehen, da muss man mindestens 25 Fans nachweisen, das wird kein Problem. Dann loben wir Präsente aus für alle, die uns unterstützen. Z.B. jemand der 12 Euro dazugibt bekommt ein signiertes Buch, für 20 ein schönes T-Shirt, oder auch ein Button für drei Euro. Alles natürlich im Stil der 1970er Jahre. Besonders freue ich mich auf ein “Fan-Heft”, das werden wir als Reminiszenz an das alte Assasin gestalten. In der Finanzierungsphase muss man halt viel in den sozialen Netzwerken aktiv werden und Multiplikatoren um Unterstützung bitten. Wenn das Geld zusammenkommt, wird gedruckt, die anderen Dankeschöns werden hergestellt und anschließend an die Unterstützer versandt. Den Rest der Auflage haben wir zu unserer Verfügung und können unsere Arbeit damit ein wenig bezahlt bekommen. Viele Bücher will ich auch zur Promotion verschenken. Dann könnten wir das darauf folgende Buch, also den “Narrenhügel” schon in einer größeren Auflage drucken. Mal sehen, wie’s läuft. Ich spekuliere nicht gern.

11009871_983143975063930_7128229095041179162_n Buch und Fanheft

G.S.: Um ein Buch im Eigenverlag zu veröffentlichen, hat man heute zahlreiche Möglichkeiten. Seit einigen Jahren propagieren Books-on-demand-Firmen das Publizieren für jedermann. Man schickt seine Daten per Internet an diese Firmen und je nach Wunsch muss man die gedruckten Bücher selber verkaufen oder die Firma kümmert sich vollständig darum. Andererseits gibt es immer noch genügend klassische Druckereien, die die Buchherstellung übernehmen. Welche Erfahrungen hast du in dem Bereich in der letzten Zeit gemacht?

M.K.: Ich habe den Eindruck, die Net-Druckereien sind teuer, so als ob die ein Kartell bilden. Außerdem habe ich keine Kontrolle bei der Produktion, das ist mir zu anonym. Deshalb drucken wir in Berlin in einer kleinen Druckerei. Ich hätte gern ein Hardcover mit Fadenheftung gehabt, musst aber einsehen, dass das Buch damit sehr teuer geworden wäre. Inzwischen denke ich auch seriell, eine Reihe von bezahlbaren Taschenbüchern, könnte ich mir vorstellen. “Xanadu” ist ja Teil einer Trilogie, der zweite Band ist fast fertig und die Familienportraits sollten ja auch mal gedruckt werden.
Es war auch klar, das erste Buch im Selbstverlag herauszubringen. Als Anfänger hätte ich sonst Kompromisse eingehen müssen und möglicherweise nicht die Rechte behalten. Ich habe ja den Vorteil, durch eine kleine Rente unabhängig zu sein. Ich muss vom Schreiben nicht leben. Trotzdem würde ich nicht als Schreiber für die Huff oder andere Medien kostenlos arbeiten. Grundsätzlich ist Schreiben ein Beruf, der auch bezahlt werden muss.

11295933_10153054905407982_2900396548150652592_n Lesung im Pinguin-Club

G.S.: Ohne die Unterstützung eines Verlages, willst Du nicht nur das Buch vertreiben, sondern auch Lesungen durchführen. Wie viel Spaß hast Du am „[fast] alles selber machen“?

M.K.: Es gibt wenig, das mir keinen Spaß macht. Kalkulationen sind nicht so meins und ich bin kein großer Kontakter. Ich muss akzeptieren, dass ich nur langsam vorankomme, das ist manchmal lästig, aber die Gesundheit geht vor. Auf die Lesungen freue ich mich schon, damals als ich noch vor der Kamera stand, hat mir das Auftreten immer Freude gemacht. Das ist das Schauspielerblut meines Vaters nehme ich an. Deshalb drehe ich jetzt auch Video-Lesungen und stelle die auf youtube. Ich selbst lese lieber Bücher, aber viele Menschen mögen sich auch gern was vorlesen lassen.
Weil ich viel allein mache, versuche ich immer wieder mit Freunden und Lesern im Gespräch zu bleiben und mir auch Kritik anzuhören. Letztlich tut man was man für richtig hält, aber man sollte vermeiden abzuheben oder sich im Wolkenkuckucksheim zu isolieren.

2015 erschien die Printausgabe von “Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll in West-Berlin”, in der Edition Assassin. Das Buch hat 148 Seiten und enthält 13 Illustrationen von Rainer Jacob. Jedem Kapitel steht ein klassischer Rocksong als musikalisches Motto zur Seite. Xanadu beschreibt eine Subkultur, die sich Anfang der 70er Jahre in den Kudammnebenstraßen gebildet hatte. Bevor dieses Stück Mauerstadtgeschichte gänzlich in Vergessenheit gerät, haben wir mit einem schönen, illustrierten Buch daran erinnert.

  • Das Buch kostet 13 Euro (inkl. Versand) und kann hier bestellt werden: marcusklugeberlin@yahoo.deEbenfalls bestellbar ist ein “Xanadu-Fanheft”, dass an die Assasin-Fanzines anknüpft, die ich Anfang der 80er Jahre mit Freunden herausgegeben habe.  Das neue, von Rainer Jacob gestaltete Heft, vereinigt Texte, Fotos und Materialien, die das Umfeld des Xanadu-Romans beleuchten und von Kindheit und Jugend in der Mauerstadt der 60er Jahre erzählen. Außerdem enthält es Geschichten wie “A Saucerful of Löschpapier”, “Halber Mensch” und “Bela Rattay’s Dead”. Es ist im DIN A4 Format erschienen, hat 28 Seiten und ist vom Autor signiert. Den Spaß kann man für 6.20€, inkl. Porto bestellen.

*Das steht auf dem Buchrücken:

  • Das kurze und heftige Leben des West-Berliners Beaky, der zehn ist als die Mauer gebaut wird und achtzehn, als er seinen ersten Trip nimmt. Er hat einen Plan, wird er funktionieren? Auf jeden Fall hat er zwei Helfer, die schöne Ungarin Susanna und den Dealer mit der Arzttasche, den alle nur den „Doktor“ nennen. Auch Professor Philippus, der Star-Therapeuten der 68er Generation wird zu seinem Unterstützer. Das Leben hat ihn aus der Bahn geworfen, doch nun steht er wieder auf und kämpft um eine bessere Zukunft. Er versucht von den Drogen loszukommen, er arbeitet beim Galeristen Puvogel, um etwas aus sich zu machen und er verliebt sich. Doch die Liebe hält nicht lange, als seine Geliebte ihn beim Heroin schnupfen erwischt, beendet sie die Beziehung. Als er auch noch Opfer der perversen Lüste seines Chefs wird, schmiedet er einen Plan, um sich an Puvogel zu rächen, seine Geliebte zurückzugewinnen und sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Doch dann passiert ein Unglücksfall, der wie ein Verbrechen aussieht und Beaky gerät ins Visier der Kriminalpolizei… –

Günters Website:

Das Interview und die Illus aus dem Buch erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Günter Sahler.

Foto: Marcus Kluge mit Blechkanister, ca. 1970 (©M.K.)

Edit

Familienportrait – “Am Draht” / “Xanadu ’73” Kapitel Vier / 1973

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Von Anfang an war klar, wer das Zeug testen würde. Speedy, nomen est omen, ist ein durchgeknallter Ex-DDR-Bürger, der drüben im Knast saß und freigekauft wurde. Im Westen stürzt er sich in die Drogenszene, wobei er eine Vorliebe für alles was schnell macht zu haben scheint. Das Rezept hat Beakys Freund, der Doktor, von einem G.I. gekauft.
Sie brauchen ein Schlankheitsmittel aus der Apotheke, das gibt etwas Rennerei. Mehr als zwei Monatsvorräte wollen sie nicht auf einmal kaufen. In der Drogerie ist es einfacher, Beaky kauft gleich 20 Packungen von einer bestimmten blauen Stofffarbe. Er murmelt etwas von T-Shirts und Batik. In einer weiteren Drogerie kommt noch eine Art Katalysator dazu und dann können sie loslegen. Es wird natürlich kein lupenreines Amphetamin, was sie da brauen, aber eine Art Speed soll es schon sein. Es macht angeblich hammerwach, euphorisch und die Wirkung soll für mehrere Stunden anhalten.
Die Herstellung ist schwieriger als vermutet. Erst beim zweiten Versuch, nach einer knappen Woche Arbeit, gelingt es ihnen bläuliche Kristalle herzustellen. Speedy sitzt gerade auf dem Trockenen und ist mehr als motiviert das Eigengebräu zu testen. Der Doktor zerstößt die Kristalle und formt zwei lange, einladende Linien auf einem Spiegel. Er soll erstmal eine nehmen, doch er zieht sich blitzschnell gleich beide in die Nase. Nach wenigen Minuten sackt Speedys Kreislauf weg. Er wird leichenblass und der Doktor kann kaum mehr einen Puls fühlen, Speedy hat die Augen geschlossen und ist nicht mehr ansprechbar. Damit haben sie nun gar nicht gerechnet, ein fataler Anfängerfehler. Der Doktor kommandiert, sie schleppen Speedy ins Badezimmer und legen ihn in die Badewanne. Dort verabreichen sie ihm eine kalte Dusche und der Doc gibt ihm einige sanfte Ohrfeigen, tatsächlich hat beides eine Wirkung. Alle atmen auf und langsam bekommt Speedy wieder Farbe im Gesicht, schließlich schlägt er die Augen auf, grinst und fragt: “Habt ihr noch mehr davon?”

Im Frühjahr des Jahres 1973 sitze ich im Café Bleibtreu, es ist noch früh. Ich bin eben erst aufgestanden, noch nicht richtig wach und schwatze mit der Kellnerin. Wir reden über die Musik der 60er Jahre und fragen uns, wieso das Jahrzehnt, in dem wir leben so wenig tolle Popmusik hervorbringt. Sie kennt sich sehr gut aus und gibt ihr gesamtes Trinkgeld für Platten aus. Hanna ist nicht sehr groß, keine Twiggy, hat blonde halblange Haare und entzückende Grübchen. Sie ist eine Freundin meiner Freundin Ilona, sie kommt aus Bielefeld und studiert nicht sehr zielstrebig Psychologie. Was sie wirklich mit ihrem Leben machen will, weiß sie noch nicht. Als Kellnerin ist sie eine Idealbesetzung, sie kommt mit jedem klar. Ein Mann der auf sein Frühstück wartet reklamiert und Hanna kümmert sich um ihn. Der untersetzte Mittdreißiger lümmelt einige Meter entfernt, mit dem Rücken zur Wand in der Mitte der Bistrobank, die Arme und Beine lang ausgestreckt. Er ist offensichtlich ein aufbrausender Charakter, Hanna beruhigt ihn und bringt ihm sein Frühstück, aber es fehlt nicht viel, beinahe wäre der Kerl explodiert.

Der Herr ist etwas untersetzt, hat bereits tiefe Geheimratsecken und wirkt recht durchschnittlich. Zwei Aspekte heben ihn aus der Menge, zum einem seine hochhackigen, auf Hochglanz polierten Chelsea-Boots und seine sorgfältig manikürten Fingernägel. Während er seine Mahlzeit verputzt, liest er in einem dicken Hefter. An irgendjemand erinnernt er mich.

Ich widme mich dem Tagesspiegel, wieder einmal bestimmt die Watergate-Affäre den Auslandsteil. Richard Nixon hat seinen Kontrahenden mit Wanzen im Watergate-Hotel in Washington abhören lassen und nun gefährdet der Skandal seine Präsidentschaft. Kaum zu glauben, in Deutschland kann ich mir derartiges nicht vorstellen. Im Inland dominiert die Bayerische Landesregierung die Seiten, sie hat Verfassungsbeschwerde gegen den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag eingelegt. Bayern, frage ich mich, gehört das überhaupt zum Inland? In diesem Moment läuft jemand am Café Bleibtreu vorbei, dessen Silhouette ich kenne. Ist das nicht Beaky? Ich besiege die vormittäglich mächtige Schwerkraft und flitze raus aus dem Lokal dem rothaarigen, ehemaligen Schulfreund hinterher. Er ist es und ich lade ihn zum Kaffee ein.

Erneut hat er sich auffallend verändert, obwohl das letzte Treffen nur ein paar Monate zurückliegt. Er ist schmaler geworden, die Wildlederjacke ist ihm zu groß und ein enggeschnürter Gürtel hält die weite Jeans. Die Hände wirken ungepflegt, er hat Nikotinflecken und er scheint an den Nägeln zu kauen. Er wirkt fahrig und seine Pupillen sind unnatürlich weit.

Ohne Punkt und Komma beginnt er sprechen, es dauert einen Moment, bis ich Anschluss bekomme und verstehe worauf er heraus will. Es ist eine Verschwörungstheorie, die er mir in seinem aufgeputschten Zustand erklären will. Sie handelt von einem “Tavistock-Institut” in England, angeblich soll es die Beatles, das Hippietum und die gesamte 68er Revolte geplant und eingefädelt haben, als Teil eines Plans zur Errichtung einer neuen Weltordnung. Danach versuchen Hochfinanz und andere Profiteure mit der Grundmethode “Permanenter Schockzustand” ein Klima von Angst und Bedrohung zu etablieren. Ölkrise, Waldsterben und Terror sollen die Menschen in Rückzug und Realitätsflucht treiben. Über ein “Unterhaltungsprogramm” könnten dann die Massenmedien die durch Ängste erzeugte Wut kanalisieren. Oh, Mann!

An diesem Punkt seiner wüsten Tirade versuche ich ihn zu unterbrechen. Das hätte ich schon früher tun sollen, aber Müdigkeit und Überraschung hatten mich scheinbar gelähmt. “Das ist starker Tobak, Beaky. Wo hast Du denn die Räuberpistole her?”
“Der Doc und ich sind doch jetzt im Speed-Geschäft. Einer unserer besten Kunden ist ein älterer Ami, der sagt, er war früher beim CIA und er hat da mitgemacht”, Beakys Monolog hat etwas am Fahrt verloren und ich bremse ihn nochmal ab: “Komm, lass uns erstmal was zu trinken bestellen.”

Ich rufe Hanna und stelle beide einander vor. Sie schütteln sich die Hände, etwas länger als es normal wäre, habe ich den Eindruck und dann verlässt uns die Kellnerin wieder um Beaky eine Cola und mir einen weiteren Kaffee zu bringen.
Ich würde das Thema gern zum Abschluss bringen, also frage ich Beaky, was den diese Verschwörung direkt mit ihm zu tun haben sollte, denn mir scheint das alles sehr global und spekulativ zu sein.
“Na ja, die Drogen. Ist dir nie aufgefallen, das plötzlich irgendwann in den 60er Jahren überall Drogen aufgetaucht sind. In den USA, in Europa, sogar in Vietnam. Das haben die gesteuert.”
“Aber wer sind denn DIE?”
“Die hinter dem Tavistock-Institut stehen, die haben dann vom Drogenhandel profitiert. Wirtschaftsbosse, Geheimdienste, was weiß ich?”

Das Speed für paranoide Empfindungen sensibel macht, ist ja nichts Neues. Und so sieht Beaky sich in diesem Moment, im Frühsommer 1973, als Marionette unheimlicher Kräfte, die ein Interesse hatten, eine ganze Generation erst in die Rebellion und dann zu den Drogen zu treiben. So wild diese Gerüchte sein mögen, vielleicht ist ein Körnchen Wahrheit in ihnen verborgen, sage ich mir. Aber etwas nicht völlig von der Hand zu weisen ist etwas anderes, als es zu glauben. Beaky jedenfalls scheint, als er mir seine wilde Theorie im Café Bleibtreu präsentiert, gläubig zu sein. So als ob es seine momentane Religion wäre. Ich hoffe, er wird möglichst bald zu etwas Vernünftigerem bekehrt werden.

Glücklicherweise haben wir das Thema nun hinter uns gelassen, doch Beakys nächster Gesprächsgegenstand begeistert mich auch nicht. Denn er erzählt mir von dem Speed-Rezept und davon, dass er fast unbegrenzt viel von dem Zeug bekommen kann. Was gar nicht gut ist für den labilen Beaky, denke ich.

Obwohl ich mir zuerst vorkomme, als ob ich gegen eine Wand rede, mache ich den Versuch, ihm das Zeug auszureden. Ich erkläre ihm, es ist die Droge, die am schnellsten Körper und Geist kaputt macht. Es liegt mir fern, den Moralapostel zu geben, aber Speed nehmen ist so dumm und folgenschwer. Ich argumentiere: “dümmer und folgenschwerer als andere Drogen, mit Ausnahme von Klebstoff schnüffeln. Es ist als ob man eine 30jährige Trinkerkarriere in drei Jahren absolvieren würde.”

Ich kann mich irren, aber meine Worte scheinen auf ihn zu wirken. Während ich mit Beaky spreche beobachte ich den kleinen Mann mit den “Beatles-Stiefeln”. Während er liest macht sein Körper die Andeutung von Gesten und mir wird klar, dass es ein Schauspieler ist, der eine Rolle lernt. Aber welche? Und woher kenne ich den Mimen?

In diesem Moment wechselt die Musik, Hanna hat “Dr. Hook and the Medicine Show” in den Kassetten-Spieler gelegt. “Sylvias Mother” läuft, der erste Track vom ersten Album der Band mit dem Drogen-Image. Dabei schaut sie zu unserem Tisch hinüber und grinst. Ich kenne Hannas Humor und vermute in der Musikauswahl einen Kommentar auf meinen Bekannten Beaky, der heute nicht verbergen kann, dass er “high” ist. Kein böser Kommentar, eher das was englisch “tongue in cheek” heißt, also “augenzwinkernd”. Ich fange Hannas Grinsen auf und lächle zurück, auch Beaky lächelt, er mag wohl Dr. Hook, Hannas milde Ironie entgeht ihm aber, aufgeputscht wie er ist.

Um Beaky aufzuheitern frage ich ihn nach Xanadu, seinem Lieblingsthema, ob er denn jetzt bald dorthin aufbräche. Genau wie eben bei seinen Verschwörungstheorien zieht sich seine Stirn kraus und er poltert los, Xanadu gäbe es gar nicht wirklich. Kublai Khan, der Enkel des Dschingis Khan, habe da zwar ein Lustschloss errichten lassen. Doch 100 Jahre danach, im 13ten Jahrhundert, hätten die Chinesen Xanadu bereits wieder zerstört und der Erde gleichgemacht. Und Marco Polo wäre auch nie dagewesen.

Ich überlege krampfhaft mit welchem Thema ich Beaky auf andere Gedanken bringen kann, der arme Kerl ist wirklich arg neben der Spur. Schliesslich habe ich eine Idee und rufe Hanna an unseren Tisch und bitte sie sich einen Moment zu setzen, das Café ist nicht voll. Ob sie Dr. Hook-Fan ist, frage ich sie. Nein, Fan ist zuviel gesagt, die Musik sei ja eher spaßig gemeint. Beaky wirft ein, das das zweite Album sowieso besser sei, “Cover of the Rolling Stone” wäre doch großartig, worauf Hanna nickt. Zwischen den beiden entspannt sich ein Gespräch und ich ziehe mich kurz auf die Toilette zurück.

Als ich zurückkomme stellen beide fest, riesige Bob Dylan Fans zu sein. Fast im Chor ergänzen sie, das das besonders für die frühen Jahre des Musikers gilt. Sie lächeln sich an. Dann frage ich sie: “Guckt da jetzt nicht hin, aber der kleine Mann dort, ist das nicht ein Schauspieler?” Natürlich Gucken beide sofort hin. Beaky schüttelt den Kopf, aber Hanna weiß was. “Ja doch, mir dämmert es.” Sie verspricht beim Abräumen auf das Manuskript zu schauen, vielleicht hilft uns das weiter.

Beaky fällt auf, dass es schon nach zwölf ist und er einen Termin hat. Sein Job, wie er sagt. Weil er auf Bewährung ist, arbeitet er für einen Antiquitätenhändler und Galeristen, als Fahrer, Lagerarbeiter und alles was so anfällt. In Wirklichkeit macht er auch kleine Deals für seinen Chef, der wie viele seiner Kollegen damals nebenbei Drogengeschäfte macht. Dafür bescheinigt dieser, dass Beaky 40 Wochenstunden bei ihm beschäftigt ist, obwohl es meist nur zwei Tage sind. Beaky muss also los, aber er nimmt sich die Zeit nach Hanna zu fragen. Ob sie einen Freund habe?

Inzwischen hat Hanna versucht dem kleinen Mann mit dem schütteren Haar seine Geheimnisse zu entlocken. Ein Titel steht auf dem Manuskript, “Welt am Draht” und noch ein Name: “Fassbinder”. Auch der Name des Schauspielers ist ihr eingefallen: “Klaus Löwitsch”. Natürlich. Wir überlegen was Fassbinder, das Film- und Theater-Wunderkind aus München da wohl wieder inszeniert. Schon damals fiel uns auf, wieviel dieser Rainer Werner Fassbinder produziert und in wie kurzer Zeit. Als ob er wüsste, dass er nicht viel Zeit haben würde.

Als ich gehe und mich von Hanna verabschiede fragt sie nach Beaky. Ob er viele Drogen nimmt. Ja schon, antworte ich, doch wenn er mal eine wirklich liebe Frau kennenlernte, könne er das überwinden. Und Hanna murmelt nachdenklich: “Eigentlich ist er ziemlich niedlich.”

Fortsetzung folgt

Der ganze Roman “Xanadu ’73” ist 2015 als Buch veröffentlicht worden und kann bei mir bestellt werden. 148 Seiten, 13 Illustrationen, 13.- € inkl. Versand in Deutschland: marcusklugeberlin@yahoo.de

“Welt am Draht” ist ein zweiteiliger Fernsehfilm von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahre 1973. Die Science-Fiction Geschichte handelt von einer Welt, die sich als eine Computersimulation herausstellt. Die Hauptfigur Fred Stiller wird vom Schauspieler Klaus Löwitsch verkörpert.

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=URq7m3-SOtA

„Mit seiner von einem ‚Goldmann Weltraum Taschenbuch‘ inspirierten Story nimmt Welt am Draht eine Diskussion vorweg, die erst später in vollem Umfang ausdiskutiert werden sollte. Fassbinder fragt nach grundlegenden philosophischen Konzepten des Seins, der Realitätswahrnehmung, und eben auch der Videoüberwachung. Er fragt nach dem Objektstatus von überwachten Subjekten und skizziert den Alptraum, als Individuum mit dem Glauben an seine eigene Existenz lediglich einem Trugbild zum Opfer zu fallen (sicher nicht zufällig heißt der Supercomputer des Films Simulakron). Zahlreiche aktuelle Filme nehmen diese Thematik auf, von Cronenbergs eXistenZ über Matrix von den Wachowsky Brothers (sic!) oder Dark City von Alex Proyas. Ein Rückblick auf Fassbinders Werk bringt dem Zuschauer sicherlich einige neue Erkenntnisse, denn Fassbinder inszeniert zwar möglicherweise ein wenig langsamer als genannte Kollegen, dafür allerdings auch mit ein wenig mehr Tiefgang.“
Benjamin Happel, Welt am Draht. Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. filmzentrale.com, abgerufen am 10. Mai 2013. Zitiert nach WiKi.
Das Fersehspiel verschwindet nach der Erstsendung für Jahrzehnte im Archiv. Zur Berlinale 2010 wird eine restaurierte Fassung hergestellt. Michael Ballhaus, der Kameramann des Films, leitet die Arbeiten daran. Bereits 1999 wird der Stoff unter dem Titel “The Thirteenth Floor” neu verfilmt. In der US-amerikanisch-deutschen Produktion spielt Armin Müller-Stahl die Rolle des Helden.

-Der Regisseur, Autor und Schauspieler Rainer Werner Fassbinder stirbt im Alter von 37 Jahren am 10. Juni 1982 in München. Die Todesursache ist Herzversagen, vermutlich ausgelöst durch eine Mischung aus Überarbeitung, Kokain, Schlaftabletten und Alkohol.

-Der Schauspieler Klaus Löwisch stirbt am 3. Dezember 2002 in München an Krebs, er wurde 66 Jahre alt.

Die Tavistock Verschwörung:
http://de.verschwoerungstheorien.wikia.com/wiki/Tavistock_Institute

Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet. Das nächste Kapitel erzählt wie es mit Beaky und Hanna weitergeht. Wird Beaky seine Drogenprobleme in den Griff bekommen? Die fünfte Episode hat den Titel: “Die Einschiffung nach Kythera”: https://marcuskluge.wordpress.com/2014/06/05/familienportrait-einschiffung-nach-kythera-die-legende-von-xanadu-kapitel-funf-1973-von-marcus-kluge/

Editorial – “Information Wiederbeschaffung” / Interview mit Marcus Kluge / aus “Achte Reise zur Blechluft”

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Anfang dieses Jahres bat mich Günter Sahler um ein Interview. Für “Achte Reise zur Blechluft” befragte er mich zu meinem Blog und der Entstehung meines ersten Romans. Das schön illustrierte Buch erschien kürzlich, nun dokumentiere ich das Gespräch für die Leserinnen und Leser meines Blogs.

Neben Interviews von Autoren, Musikern, Graphic Novel-Machern und Fotografen führt eine fiktive Rahmenhandlung in die Geschichten der portraitierten Künstler. Sahlers Protagonist Gierlich reist in einer Art Punk Fantasy in die realen oder erfundenen Welten seiner Interview-Partner. Beispielsweise fährt Gierlich mit einem beigefarbenen Citroen DS direkt in die Handlung meines Xanadu-Romans. Er besucht die Galerie Puvogel in der Schlüterstraße des Jahres 1973, lernt meinen Helden Beaky kennen und versucht die im Roman wichtige Watteau-Kopie zu kaufen. Offenbar hat er ein Geheimnis über das Gemälde erfahren, dass noch nicht einmal ich, der das Bild erfunden hat, kennt. Er lässt erst von seinem Vorhaben ab, als er begreift, dass der Watteau noch für meinen Roman gebraucht wird.

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Das Interview:

Günter Sahler: In den 80er Jahren hast Du das Fanzine „Assasin“ gemacht und warst auch in der Berliner Musikszene aktiv. Als damaliger Fanzine- und Kassettenmacher dürftest Du mit Deinen Erfahrungen mit Druckereien und Selbstvertrieb beim heutigen Selfpublishing Vorteile haben. Wie siehst Du das?

Marcus Kluge: Was wir damals mit Fanzines und Kassetten probiert haben, entstand aus dem Bedürfnis sich selbst auszudrücken und eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Foto-Kopieren, drucken, Kassetten kopieren und alles in West-Berlin zu verteilen, war natürlich viel aufwändiger als heutige Distributionsformen wie das Internet. Über Berlin hinaus lief ja alles über die Post. Da ist das Internet traumhaft im Vergleich. Wichtigste Erfahrung, war: das Selbermachen und somit die Kontrolle zu behalten. Deshalb haben wir uns auch für eine kleine Berliner Druckerei entschieden und gegen eine Internet-Firma, jetzt beim ersten Buch. Vertreiben werde ich das Buch auch wieder selbst, übers Netz und hier in Berlin.

G.S.: Im Herbst 2013 hast mit dem Bloggen von Familiengeschichten angefangen. Wie hat sich das ergeben und wie bist Du dann dazu gekommen mit deinem ersten Roman zu starten?

M.K.: Nachdem ich fast 20 Jahre für die Medienanstalt Berlin-Brandenburg gearbeitet habe und dort die Fernsehprojekte von Laien produziert hatte, war mir meine Kreativität verloren gegangen. Selbst als ich Rentner wurde, gelang es mir nicht mehr eigene Texte zu schreiben. Es war eine handfeste Schreibblockade und ich beschloss einen Umweg zu gehen. Ich gründete die “Blinden Passagiere”, eine Selbsthilfegruppe, in der ich mit traumatisch belasteten Menschen gearbeitet habe. Ich wollte den Fokus nicht nur auf mich, sondern auch auf andere richten und das hat wohl funktioniert. Ostern 2013 bin in den Keller gegangen und kam mit einer Kiste voller Fotos, Briefe und Dokumente zurück. Ich war fasziniert von den Geschichten, die ich da fand und habe kurz danach angefangen diese aufzuschreiben. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass ich im Sommer 2013 Opa wurde. Eine Freundin empfahl mir ein Blog zu machen, ab dem 13. September 2013 habe ich auf wordpress “Familienportraits” veröffentlicht. In den ersten sechs Monaten wurde 12 000 mal auf Beiträge zugegriffen, eine Reichweite höher, als die Auflage von acht Assasin-Heften. Besonders die Stücke über West-Berlin kamen gut an, weshalb ich die Rubriken Berlinische Leben und Berlinische Räume eröffnet habe. Die “Leben” berichten hauptsächlich biografisch über Berliner und die “Räume” fokussieren auf Institutionen, Klubs und allgemein die Wohnsituation in der Mauerstadt. Zusätzlich habe ich auch Gastautoren gebeten über diese Themen zu schreiben, um den Blickwinkel zu erweitern. Ich möchte möglichst viel aus diesen Jahren dokumentieren, bevor die Zeitzeugen nicht mehr da sind. Siegfried Cracauer hat mal über den Film gesagt, er könne ein Stück Realität für die Nachwelt retten. Soetwas versuche ich mit den Mitteln des Internets, ob es mir gelingt müssen andere entscheiden.

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G.S.: In Geschichte „Die Legende von Xanadu“ geht es um den Heroinsüchtigen Beaky. Handlungszeitraum sind die 70er Jahre. Was wird auf dem Klappentext des Buchs stehen?

M.K.: Was auf dem Klappentext stehen wird, verrate ich noch nicht, aber ich erzähle worum es geht. In den 70er Jahren starb ein ehemaliger Schulfreund an einer Heroinüberdosis und schon damals wollte ich darüber schreiben und habe recherchiert. Doch ich merkte, mir fehlte einfach das Handwerkszeug, das Leben von Beaky in seiner Komplexität darzustellen, ihm gerecht zu werden. Erst 35 Jahre später, Anfang 2014, schrieb ich einen kleinen Text über ein Pink Floyd Konzert 1970, bei dem Beaky vorkam und mir fiel sein kurzes, heftiges Leben wieder ein. Also beschloss ich, sein Leben in drei oder vier Kapiteln zu erzählen, an einen Roman hätte ich mich nicht herangetraut. Erst nach und nach gab ich Beaky mehr Raum und schließlich hatte ich einen kleinen Roman von ca. 140 Druckseiten fertig, zu meinem eigenen, größten Erstaunen. Ich hatte mir das nicht zugetraut. “Xanadu” ist eine Erinnerung an das West-Berlin der frühen 1970er Jahre, Liebe, Rausch und Rock’n’Roll sind die Themen. Es war mir auch wichtig, eine Art “Gegendarstellung” zu “Wir Kinder von Bahnhof Zoo” zu schreiben, ohne diese spekulative Gossenromantik des Bestsellers, der wahrscheinlich mehr Leute zum Heroin gebracht hat, als davor abgeschreckt. Mein Gegenentwurf ist Beaky, der aus einer bürgerlichen Familie kommt, der gebildet ist, Thomas Mann liest und den trotzdem eine Leere und Verlorenheit zu den Drogen treibt und dessen scheinbar dramatischer Tod in Wirklichkeit ein banaler Unfall ist.

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G.S.: Die Geschichten orientieren sich an der Wirklichkeit und Du schreibst über Dinge aus Deinem Erfahrungsraum. Wie sammelst Du darüber hinaus Material und wie recherchierst Du?

M.K.: Im Wesentlichen hielt ich mich an die goldene Regel und schrieb über das, was ich kenne. Ich habe ein merkwürdig ausuferndes Gedächtnis, besonders an Dinge, die keinen besonderen Nutzen oder Sinn haben, erinnere ich mich perfekt, egal wie lange das Erlebte her ist. Und wen ich mich hinsetze und zu schreiben anfange, setzt das einen zusätzlichen Prozess in Gang und die Erinnerung wird tiefer, komplexer. Mit Ausnahme der Romane schreibe ich Wirklichkeit auf, ohne sie zu verändern. Bis auf die “Erfindung”, die der Prozess der Erinnerung und des Bewusstseins, an sich eben darstellt. Erst mit dem Xanadu-Roman fließt auch fiktives ein, doch das Meiste ist nicht erfunden, ich ordne und verdichte die Dinge nur. In meinem zweiten Roman, “Ein Hügel voller Narren” ist dann auch Neu-Schöpfung eingearbeitet. Das hat sich ganz langsam, organisch entwickelt. Selbst dieses Erfundene scheint mir schon dagewesen zu sein, es fühlt sich an, als ob ich es wiederfinde und aufschreibe, das ist ziemlich merkwürdig, es hat sich ergeben, ohne das ich es forciert habe. Ich muss da an einen Begriff aus der Filmsatire “Brazil” denken, da heißt der Geheimdienst “Information Wiederbeschaffung”. So bezeichne ich den Prozess scherzhaft bei mir selbst.
Neben der Erinnerung benutze ich meine reichhaltige Bibliothek und das Internet zum recherchieren. Im Internet finde ich nicht nur Fakten, sondern auch Zeitzeugen, die ich befragen kann. Das tue ich dann in der Regel per Mail oder Telefon.

G.S.: Du hast derzeit einen guten Output, fast täglich erscheinen neue Texte auf Deine Webseite marcuskluge.wordpress.com. Wie kann ich mir Deinen Arbeitsalltag als Blogger mit WordPress, Facebook und Twitter vorstellen?

M.K.: Ich versuche einmal in der Woche einen neuen, längeren Text zu veröffentlichen. Reblogs, Bilderstrecken und Gastautoren ergänzen den Output. Wenn ich das Blog nicht bespiele, nimmt das Interesse ab, dann habe ich nur noch 40-50 Aufrufe statt 100 bis 200 täglich. Wahrscheinlich fließt es bei mir auch deshalb i.M. so gut, weil ich solange einen Schreibblock hatte und in jener Zeit sind Dinge gereift.
Eine Trennung von Privatleben und Arbeit gibt es nicht mehr. Ich schreibe morgens 500 Wörter in zwei Stunden etwa, alles andere, wie recherchieren, promoten, Kontakte pflegen, empfinde ich nicht als Arbeit. Aus gesundheitlichen Gründen muss ich aufpassen, mich nicht zu überlasten. Ich mache eine Siesta mittags und oft noch eine zweite am frühen Abend. Weil die Arbeit Spaß macht, überlaste ich mich manchmal, dann muss ich Auszeiten nehmen. Ich gehe selten weg, weil mich das ziemlich anstrengt und die Technik ermöglicht, dass ich fast alles von daheim machen kann. Ich empfinde diese Möglichkeiten als Segen. Auf der anderen Seite sind mir die Gefahren durch staatliche Dienste wie die NSA, oder private wie Google, sehr bewusst. Ich fürchte die beschworene Dystopie hat bereits begonnen und wird noch sehr böse Folgen haben. Aber auf Google und Facebook zu verzichten ist unrealistisch. Ein “Grundwiderspruch” hätten die 68er gesagt. 😉

G.S.: Rainer Jacob, der auch schon das „Assasin“ gestaltet hat und dort auch Comics gezeichnet hat, zeichnet nun wieder für deine Romane „Die Legende von Xanadu“ und “Ein Hügel voller Narren” Illustrationen. Wie kann man sich die inhaltliche und technische Zusammenarbeit zwischen Dir als Autor und Webmaster und Rainer Jacob als Zeichner vorstellen? Hättest Du auch ohne die Rainer Jacob an Illustrationen zu den Geschichten gedacht?

M.K.: Rainer und ich sind seit über 40 Jahren Freunde. Obwohl, oder vielleicht auch, weil wir oft unterschiedliche Meinungen haben, respektieren wir den Anderen. Das gilt besonders für das Handwerk des Anderen, er redet mir nicht herein und ich ihm auch nicht. Natürlich gebe ich ihm Themen vor, oder sage z.B., die Figur Ghobadi stelle ich mir optisch so ähnlich vor wie Moshe Dayan. Mehr ist es nicht, welche Szene und welche anderen Figuren und Attribute er zeichnet, entscheidet er selber. Wir haben da eine fast schon intuitive Ebene des Verstehens. Manchmal zeichnet er Dinge, die im Text gar nicht vorkommen und ich greife das auf und schreibe es, oder stelle fest, dass die Sache später eine Rolle spielen wird.
Schon bevor wir, im Frühjahr 2014, unsere alte Zusammenarbeit wieder aufgenommen haben, habe ich meine Texte mit Originalfotos, Briefen, Dokumenten und anderem illustriert. Ich verfüge über ein Archiv von etwa 2000 Fotos, an denen ich die Rechte habe. Eigene, Familienfotos und Fotos, die ich in Auftrag gegeben habe aus der Assasin-Zeit. Nur zeichnen kann ich nicht. Ich hätte ohne Rainer die Romane mit Oldschool-Kollagen illustriert, hergestellt wie zu Fanzine-Zeiten, mit Cutter und Fixogum. Gibts eigentlich noch Fixogum?
Ich habe eine Lust an illustrativen Bildern, die einen in Stimmung versetzen, ohne die eigene Fantasie zu zerstören. An meinem neunten Geburtstag bekam ich “Bambi” von Felix Salten in einer wunderschönen Ausgabe geschenkt, Leinen, Fadenheftung usw. Sie hatte nur einen Fehler, sie enthielt keine Bilder. Bambi ohne Bilder? Ich habe nie Felix Salten gelesen.
Ich sehe meine Romane auch als unterhaltsame Fortsetzungsgeschichten, vielleicht eine Art Edel-Pulp, da gehört die Illustration einfach dazu.

G.S.: Du planst jetzt den Roman „Die Legende von Xanadu“ nicht nur über das Internet zu veröffentlichen, sondern auch als gedrucktes Buch. Finanzieren willst du über Crowdfunding. Wie wird das ablaufen? Wie wirst du dafür Werbung machen?

M.K.: Im Frühjahr werden wir in die Bewerbungsphase gehen, da muss man mindestens 25 Fans nachweisen, das wird kein Problem. Dann loben wir Präsente aus für alle, die uns unterstützen. Z.B. jemand der 12 Euro dazugibt bekommt ein signiertes Buch, für 20 ein schönes T-Shirt, oder auch ein Button für drei Euro. Alles natürlich im Stil der 1970er Jahre. Besonders freue ich mich auf ein “Fan-Heft”, das werden wir als Reminiszenz an das alte Assasin gestalten. In der Finanzierungsphase muss man halt viel in den sozialen Netzwerken aktiv werden und Multiplikatoren um Unterstützung bitten. Wenn das Geld zusammenkommt, wird gedruckt, die anderen Dankeschöns werden hergestellt und anschließend an die Unterstützer versandt. Den Rest der Auflage haben wir zu unserer Verfügung und können unsere Arbeit damit ein wenig bezahlt bekommen. Viele Bücher will ich auch zur Promotion verschenken. Dann könnten wir das darauf folgende Buch, also den “Narrenhügel” schon in einer größeren Auflage drucken. Mal sehen, wie’s läuft. Ich spekuliere nicht gern.

G.S.: Um ein Buch im Eigenverlag zu veröffentlichen, hat man heute zahlreiche Möglichkeiten. Seit einigen Jahren propagieren Books-on-demand-Firmen das Publizieren für jedermann. Man schickt seine Daten per Internet an diese Firmen und je nach Wunsch muss man die gedruckten Bücher selber verkaufen oder die Firma kümmert sich vollständig darum. Andererseits gibt es immer noch genügend klassische Druckereien, die die Buchherstellung übernehmen. Welche Erfahrungen hast du in dem Bereich in der letzten Zeit gemacht?

M.K.: Ich habe den Eindruck, die Net-Druckereien sind teuer, so als ob die ein Kartell bilden. Außerdem habe ich keine Kontrolle bei der Produktion, das ist mir zu anonym. Deshalb drucken wir in Berlin in einer kleinen Druckerei. Ich hätte gern ein Hardcover mit Fadenheftung gehabt, musst aber einsehen, dass das Buch damit sehr teuer geworden wäre. Inzwischen denke ich auch seriell, eine Reihe von bezahlbaren Taschenbüchern, könnte ich mir vorstellen. “Xanadu” ist ja Teil einer Trilogie, der zweite Band ist fast fertig und die Familienportraits sollten ja auch mal gedruckt werden.
Es war auch klar, das erste Buch im Selbstverlag herauszubringen. Als Anfänger hätte ich sonst Kompromisse eingehen müssen und möglicherweise nicht die Rechte behalten. Ich habe ja den Vorteil, durch eine kleine Rente unabhängig zu sein. Ich muss vom Schreiben nicht leben. Trotzdem würde ich nicht als Schreiber für die Huff oder andere Medien kostenlos arbeiten. Grundsätzlich ist Schreiben ein Beruf, der auch bezahlt werden muss.

G.S.: Ohne die Unterstützung eines Verlages, willst Du nicht nur das Buch vertreiben, sondern auch Lesungen durchführen. Wie viel Spaß hast Du am „[fast] alles selber machen“?

M.K.: Es gibt wenig, das mir keinen Spaß macht. Kalkulationen sind nicht so meins und ich bin kein großer Kontakter. Ich muss akzeptieren, dass ich nur langsam vorankomme, das ist manchmal lästig, aber die Gesundheit geht vor. Auf die Lesungen freue ich mich schon, damals als ich noch vor der Kamera stand, hat mir das Auftreten immer Freude gemacht. Das ist das Schauspielerblut meines Vaters nehme ich an. Deshalb drehe ich jetzt auch Video-Lesungen und stelle die auf youtube. Ich selbst lese lieber Bücher, aber viele Menschen mögen sich auch gern was vorlesen lassen.
Weil ich viel allein mache, versuche ich immer wieder mit Freunden und Lesern im Gespräch zu bleiben und mir auch Kritik anzuhören. Letztlich tut man was man für richtig hält, aber man sollte vermeiden abzuheben oder sich im Wolkenkuckucksheim zu isolieren.


Günters Website:

Leben an Land erkunden

Das Interview und die Illus aus dem Buch erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Günter Sahler.

Foto: Marcus Kluge mit Blechkanister, ca. 1970 (©M.K.)

Illustrierte Lesung – “Die Legende von Xanadu – 1973” / 19. März 2015 – Kulturwerkstatt Danckelmannstr. 9a – 20 Uhr

Brandstifter

Marcus Kluge liest aus seinem ersten Roman und anderen Texten über die Mauerstadt. Liebe, Rausch und Rock’n’Roll sind die Themen des Romans, daneben schaut der Autor auf die Punk- und Hausbesetzer-Szene in West-Berlin zurück. Die Lesung wird durch Zeichnungen von Rainer Jacob und Originalfotos aus dem Archiv des Autors illustriert.

“Im März 2014 begann ich eine Kurzgeschichte über einen ehemaligen Schulfreund zu schreiben. Das kurze und heftige Leben des West-Berliners Beaky, der zehn war als die Mauer gebaut wird und achtzehn, als er seinen ersten Trip nahm. 1973 starb er an einer Heroin-Überdosis und ich hatte das Bedürfnis zu erzählen, wie es dazu kam. Das Thema packte mich derart, dass, zu meiner eigenen Überraschung, ein Roman daraus wurde.”
Marcus Kluge

Der Inhalt des Romans:

Beaky hat einen Plan, doch wird er funktionieren? Auf jeden Fall hat er zwei Helfer, die schöne Ungarin Susanna und den Dealer mit der Arzttasche, den alle nur den „Doktor“ nennen. Auch Professor Philippus, der Star-Therapeut der 68er Generation wird zu seinem Unterstützer. Das Leben hat Beaky aus der Bahn geworfen, doch nun steht er wieder auf und kämpft um eine bessere Zukunft. Er versucht von den Drogen loszukommen, er arbeitet beim Galeristen Puvogel, um etwas aus sich zu machen und er verliebt sich. Doch die Liebe hält nicht lange, als seine Geliebte ihn beim Heroin schnupfen erwischt, beendet sie die Beziehung. Als er auch noch Opfer der perversen Lüste seines Chefs wird, schmiedet er einen Plan, um sich an Puvogel zu rächen, seine Geliebte zurückzugewinnen und sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Doch dann passiert ein Unglücksfall, der wie ein Verbrechen aussieht und Beaky gerät ins Visier der Kriminalpolizei…

Marcus Kluge liest aus “Die Legende von Xanadu” und stellt die Crowdfunding-Kampagne für die Buchausgabe vor.

19. März in der Kulturwerkstatt Danckelmannstraße 9a/14059 B.

Einlass: 19.30h Beginn: 20h

Karten: 8.-/4.-(erm.) Euro – Kartenbestellung per E-Mail blindepassagiere@gmx.de

Leseprobe:

„Xanadu ’73” – Das Buch

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2015 erschien die Printausgabe von “Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll in West-Berlin”, in der Edition Assassin. Das Buch hat 148 Seiten und enthält 13 Illustrationen von Rainer Jacob. Jedem Kapitel steht ein klassischer Rocksong als musikalisches Motto zur Seite. Xanadu beschreibt eine Subkultur, die sich Anfang der 70er Jahre in den Kudammnebenstraßen gebildet hatte. Bevor dieses Stück Mauerstadtgeschichte gänzlich in Vergessenheit gerät, haben wir mit einem schönen, illustrierten Buch daran erinnert.

Das Buch kostet 13 Euro (inkl. Versand) und kann hier bestellt werden: marcusklugeberlin@yahoo.de

Ebenfalls bestellbar ist ein “Xanadu-Fanheft”, dass an die Assasin-Fanzines anknüpft, die ich Anfang der 80er Jahre mit Freunden herausgegeben habe.  Das neue, von Rainer Jacob gestaltete Heft, vereinigt Texte, Fotos und Materialien, die das Umfeld des Xanadu-Romans beleuchten und von Kindheit und Jugend in der Mauerstadt der 60er Jahre erzählen. Außerdem enthält es Geschichten wie “A Saucerful of Löschpapier”, “Halber Mensch” und “Bela Rattay’s Dead”. Es ist im DIN A4 Format erschienen, hat 28 Seiten und ist vom Autor signiert. Den Spaß kann man für 5 €, inkl. Porto bestellen.

Illu Xanadu bag 10

Illu Kapitel 10: “Das Verhör”

Im März 2014 begann ich eine Kurzgeschichte über einen ehemaligen Schulfreund zu schreiben. “Beaky” starb in den 70er Jahren an einer Heroin-Überdosis und ich hatte das Bedürfnis zu erzählen, wie es dazu kam. Das Thema packte mich derart, dass, zu meiner eigenen Überraschung, ein Roman daraus wurde:

“Xanadu ’73 – Liebe, Rausch und Rock’n’Roll in West-Berlin”

Das kurze und heftige Leben des West-Berliners Beaky, der zehn ist als die Mauer gebaut wird und achtzehn, als er seinen ersten Trip nimmt. Er hat einen Plan, wird er funktionieren? Auf jeden Fall hat er zwei Helfer, die schöne Ungarin Susanna und den Dealer mit der Arzttasche, den alle nur den „Doktor“ nennen. Auch Professor Philippus, der Star-Therapeuten der 68er Generation wird zu seinem Unterstützer. Das Leben hat ihn aus der Bahn geworfen, doch nun steht er wieder auf und kämpft um eine bessere Zukunft. Er versucht von den Drogen loszukommen, er arbeitet beim Galeristen Puvogel, um etwas aus sich zu machen und er verliebt sich. Doch die Liebe hält nicht lange, als seine Geliebte ihn beim Heroin schnupfen erwischt, beendet sie die Beziehung. Als er auch noch Opfer der perversen Lüste seines Chefs wird, schmiedet er einen Plan, um sich an Puvogel zu rächen, seine Geliebte zurückzugewinnen und sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Doch dann passiert ein Unglücksfall, der wie ein Verbrechen aussieht und Beaky gerät ins Visier der Kriminalpolizei…
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Jedes der 12 Kapitel hat Rainer Jacob mit einer exklusiven Bleistiftzeichnung illustriert.
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Bestellungen unter: marcusklugeberlin@yahoo.de

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Leseprobe – Die ersten drei Kapitel in meinem Blog:

Familienportrait – „Moonlight Mile“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Zwölf / 1973 / von Marcus Kluge

Als er das Krankenhaus verlässt, kommt er auf die Idee seine neugewonnene Freiheit mit einem Eis bei Monheim in der Blissestraße zu feiern. Dort hat er schon als Kind, mit einer Schüssel, am Sonntag Eis geholt. Es ist immer noch heiß an diesem Juliabend im Jahre 1973, das sein letztes werden wird.
25 Pfennig kostet die Kugel Eis bei Monheim, er nimmt dreimal Rum-Traube. Dann schlendert er am Eva-Kino vorbei, er erinnert sich an die sonntäglichen Jugendvorstellungen. Meist gab es Sandalenfilme, es wurde gejohlt und gepfiffen. Mit seinem Eis setzt er sich ans alte Fenn und starrt auf das Wasser. Doch immer wieder steigen andere Bilder hoch, die sich vor sein inneres Auge schieben. Sie steigen auf wie Gespenster, es sind Fotos, peinliche Fotos, schmerzliche Fotos, Fotos, die sich eingebrannt haben in sein Bewusstsein. Nun merkt er auch wieder sein Knie, ein brennender Schmerz zieht bis in den linken Fuß. Er hat Angst, wovor weiß er gar nicht so genau. Am liebsten würde er schlafen, lange schlafen und am besten auch nicht träumen, nur schlafen. Die Polizei hat ihm alles Dope weggenommen, auch die Pfeifen und die Spritzen. Wo bekommt er nun Drogen her? Seine alte Heroin-Connection hat er gekappt, bevor er auf Entzug gegangen ist. Er hat den Pusher gebeten, ihm nie wieder H oder etwas ähnliches zu verkaufen und damals haben sich manche Pusher noch an solche Versprechungen gehalten. Auf die Szene am Bahnhof Zoo oder an der Kurfürstenstraße will er nicht gehen. Zu hoch ist die Gefahr in eine Razzia zu kommen, mit der die Bullen regelmäßig die Drogenszene aufmischen, wenn sie zu groß und auffällig wird. Früher, als er selbst noch Dealer war, hatte er seine Leute, die ihn gewarnt haben, doch das ist vorbei. Wo soll er hingehen? Da fällt ihm ein, er ist ja in der Blissestraße, hier wohnt Susanna, die kann er besuchen, vielleicht hat die was da.

Da das Haus in der Blissestraße immer offen ist, steigt er gleich die Treppen hoch und klingelt bei Susanna. „Wer ist da?“
„Ich bins, Beaky.“
Susanna ist wieder in ihren Kimono gehüllt, sie sieht krank und dünn aus. Beaky bietet ihr eine Zigarette an, sie rauchen beide und Beaky fragt: „Hast du was von Doktor gehört? Weißt du, die Polizei hat mich verhaftet, ich würde am liebsten das ganze Geld zurückgeben.“
Susanna sieht ihn ungläubig an, sie kann seine Naivität nicht nachvollziehen: „Das Geld wirst du nie sehen wieder, Beaky. Und der Doktor woll auch nicht.“ Wenn sie aufgeregt ist, wird ihr Akzent stärker.
„Meinst du wirklich? Ich habe furchtbare Angst für lange Zeit in den Knast zu gehen, ich würde das nicht nochmal durchhalten. Vielleicht bringe ich mich dann um. Übrigens, ich habe die Schnauze gehalten. Die Bullen wissen nichts von dir.“
„Danke Beaky, du bist guter Kerl“
„Sag mal, hast du Dope, Pulver oder irgendwas?“
„Nein, kein Pulver. Seitdem der Arsch weg ist, habe ich Affen.“
Wieder steigt die Angst in ihm auf, am liebsten würde er auf seine Ängste einschlagen, solange bis sie abhauen und ihn in Ruhe lassen.
Immerhin, Susanna schenkt ihm ein bißchen Grass und auf seine Bitte ein altes Spritzbesteck vom Doc, das er zurückgelassen hat: „Aber, du musst steril machen mit kochende Wasser“, sagt sie mit einem Stirnrunzeln.

Perilog
Erst Mitte August 1973 erfuhr ich was Beaky geschehen war. Ich hatte kaum an ihn gedacht und gehofft es es wäre ein gutes Zeichen, wenn ich nichts von ihm hörte. Doch da irrte ich mich. Nachdem ich die ganze traurige Geschichte kannte, habe ich darüber nachgegrübelt, ob Beaky trotz seines frühen Todes ein erfülltes, ein richtiges Leben hatte. Damals dachte ich an den Satz von Adorno, den Hanna zitiert hatte, nachdem es kein richtiges Leben im falschen gäbe. Und mit dem falschen meinte ich natürlich seine Drogenkarriere. Ich sah die Drogen sehr kritisch, vielleicht besonders kritisch, weil ich sie, wie die meisten meiner Generation, wenige Jahre vorher noch völlig unkritisch gelobt hatte. Wie alle Bekehrten war ich strikt in meinen Ansichten.
Damals, Ende der 60er Jahre, als Beaky begann Drogen zu nehmen, standen sie noch nicht im Zusammenhang mit Gewalt, sozialem Abstieg und Krankheit. Für Beaky waren sie am Anfang Mittel, mit denen man experimentierte und sich selbst erforschte. Er las „The Doors of Perception“, das Essay nach dem sich die „Doors“ benannt hatten. Dort schrieb Aldous Huxley, einer der klügsten Köpfe seiner Generation, über seine Selbstversuche mit Meskalin. Dem glaubte Beaky nachzueifern, am Anfang.
Ich möchte Beakys Leben auch nicht verherrlichen. Diesen Satz: „Live fast, die young“ fand ich schon immer oberflächlich und herzlos. Die, die ihn anführen waren auch meist die, die insgeheim davon ausgingen, selbst ein langes Leben zu haben. Und die, die dem Spruch mit offenen Augen bis in die bittere Konsequenz folgten, waren tragische, von ihren Dämonen verfolgte Menschen. So einer war Beaky auch nicht.
Unseren Eltern ging es gut nach dem verlorenen Krieg. Wir erwarteten, dass es so weiter gehen würde. Alles würde immer besser werden, quasi automatisch und mit den Drogen ließen wir es uns schon einmal, im Vorgriff auf die Zukunft, gut gehen. Es war ausgemachte Sache, das Drogen früher oder später legal werden würden. In der „Bravo“ erschien 1969 eine dreiteilige Serie über das Leben im Jahr 2000. Danach verbrachten die Teenager der Zukunft ihre Nachmittage in Spaßbädern, wobei sie LSD nahmen und Sex mit unterschiedlichen Partnern hatten. Das Lernen erledigten Maschinen, die den Teens das Wissen im Schlaf vermittelten. Nun, es kam anders, sowohl mit dem ewigen „immer besser gehen“, als auch mit den Spaßbädern. Beaky würde es nicht mehr erleben.
Ich versuchte aufzurechnen, was dafür sprach, dass mein Schulfreund nicht völlig sinnlos gelebt hatte. Er hatte die Musik gehabt und er hatte Xanadu gehabt, seinen etwas unrealistischen Traum. „The Legend of Xanadu“, dieser Song von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich hatte ihn inspiriert. Ein nicht einmal erstklassiger Popsong, aber von seiner Lieblingsband, mit den Mariachi-Trompeten und dem Effekt mit dem Peitschenknall, wurde die Basis für seinen Traum. Er hatte sogar angefangen das Gedicht zu übersetzen, das den Begriff Xanadu im englischsprachigen Raum berühmt gemacht hat. Doch wie Coleridge wurde auch Beaky bei der Arbeit gestört und konnte sie nicht vollenden. Diese Koinzidenz wurde mir bewusst, als ich nach Beakys Tod über das Gedicht recherchierte.

Im Sommer 1797 lebte Samuel Taylor Coleridge im Südwesten Englands und arbeitete an mehreren Gedichten. Er war krank und zog sich auf ein abgelegenes Gehöft zwischen Linton und Porlock im heutigen Nationalpark Exmoor zurück. Ein Arzt verschrieb ihm ein Anodyn, wie man damals schmerzlindernde Tinkturen nannte. Die darin enthaltene kräftige Dosis Opium versetzte ihn in einen von lebhaften Träumen begleiteten Schlaf. Davor hatte er einen Text über Kublai Khan und dessen legendäres Lustschloss Xanadu gelesen und im Schlaf wurde ihm ein 200 bis 300 Zeilen langes Gedicht eingegeben. Später bestand er darauf, dass er zu dieser Ballade ohne jede eigene Anstrengung kam, sie war fertig, und er konnte sie im Traum auswendig lernen. Als er erwachte, setzte er sich sofort an den Schreibtisch und begann das gesamte Gedicht aufzuschreiben. Leider wurde er mitten in der Arbeit von einen Besucher gestört. „A person from Porlock“, jemand aus Porlock, der mit ihm Geschäftliches zu besprechen hatte, klopfte an seine Tür und hielt ihn etwa eine Stunde auf. Als Coleridge danach weiterschreiben wollte, musste er feststellen, dass das Poem bis auf wenige Fragmente aus seiner Erinnerung verschwunden war. Trotzdem das Werk so nur 54 Zeilen lang wurde, und erst 20 Jahre später veröffentlicht wurde, gilt es als eines der bekanntesten englischen Gedichte. Generationen von Dichtern haben sich mit ihm auseinander gesetzt und es hat vielfältigen Eingang in Kunst und populäre Kultur gefunden. „A person from Porlock“ wurde zu einem geflügelten Wort für die unglückliche Unterbrechung einer Arbeit, später auch für eine nicht ganz nachvollziehbare Erklärung, wieso man etwas nicht vollendet hat. 1941 inspirierte das Gedicht Orson Welles für seinen epochalen Film „Citizen Kane“. 1968 machte Dave Dee einen Popsong daraus, in dem er das Schloss seltsamerweise nach Mexiko verlegte. In den 80er Jahren wurde Dave Dee bei einer Massenaudienz der Queen vorgestellt. Elizabeth II. soll gesagt haben: „You’ re the one with the whip!“ Aus Xanadu wurde schließlich ein Musical und die Band „Frankie Goes to Hollywood“ hatte 1984 einen Riesen-Hit mit „Welcome To the Pleasuredome“, der mit der gleichen Zeile beginnt, wie das Gedicht: „In Xanadu did Kublai-Khan a pleasuredome …“

August 1973. Es war ein Freitagnachmittag, ich lag in der schönen, in den Boden eingelassenen Jugendstil-Badewanne in der Schlüterstraße und entspannte mich. Axel, einer der WG-Mitbewohner, klopfte an die Tür und brüllte: „Telefon, Marcus. Scheint wichtig zu sein.“
Ich fluchte, stieg aus der Wanne, warf mir den Bademantel über und lief über den Flur. Ich rutschte aus und legte mich langhin. Abermals fluchend erreichte ich das Telefon im Berliner Zimmer. Er war Beakys Mutter. Sie konnte ihr Schluchzen kaum verbergen, als sie mir berichtete, dass Beaky tot war, er hatte eine Überdosis Heroin genommen. Sie bat mich um einen Besuch und ich sagte zu, am Sonntagnachmittag bei ihr vorbeizukommen. Selten hatte ich soviel Bammel vor einem Gespräch. Ja, ich hatte Bammel, auch so ein Berlinisches Wort das aus dem Jiddischen kommt, „baal ema“ bedeutet soviel wie „furchtsamer Mensch“.
Ich hatte Bammel, weil ich mich verantwortlich fühlte. Ich fühlte mich verantwortlich, schon weil ich zur selben Generation wie Beaky gehörte, weil ich auch über die Politik und die Rock-Musik an die Drogen gekommen war, auch wenn ich bald wieder die Finger davon ließ und Drogenerfahrungen nur noch aus zweiter Hand sammelte. Und ich fühlte mich verantwortlich, weil ich vor meinem Urlaub nicht erkannte, wie groß die Gefahr war, die über Beaky schwebte. Ich wusste nicht, wie ich Beakys Mutter unter die Augen treten sollte, doch ich wusste auch, ich würde mich nicht davor drücken können. Zwei Nächte schlief ich sehr schlecht, Sonntagmittag war ich bei meiner Mutter essen, die mir Mut machte. Beakys Mutter wäre schon froh, wenn ihr jemand zuhörte, der Beaky kannte und ihren Kummer nachvollziehen konnte.

Pünktlich um vier stand ich vor dem Haus neben dem „Bundesplatz-Kino“ und klingelte bei Becker. Nachdem Beakys Mutter und ich einen Moment von Fremdheit und Peinlichkeit überwunden hatte, kamen wir ins Gespräch. Innerlich atmete ich ein wenig auf. Beakys Mutter machte mich nicht verantwortlich, im Gegenteil. Wir saßen in ihrer Küche und sie erzählte mir, was passiert war, als ich in Frankreich war. Sie wusste ziemlich gut Bescheid über die letzten Tage ihres Sohnes. Sie hatte mit fast allen Beteiligten gesprochen.
Sie versuchte mich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, doch er war präsent, wie eine große dunkle Wolke, die über den Küchentisch schwebte, an dem wir saßen. Sie war inzwischen Patientin bei Professor Philippus geworden. Die Gespräche halfen ihr und er verschrieb ihr auch ein Medikament, das gegen Depressionen und Antriebsschwäche wirkte. Besonders hilfreich war, das Philippus ihren Sohn gekannt hatte und das Beaky ihm intimste Gedanken mitgeteilt hatte. Beakys Vater war entlastet worden, weder für Brandstiftung noch für Pornografie gab es Beweise. Zwei Jahre später wurde das allgemeine Pornografie-Verbot in den Bunderepublik Deutschland aufgehoben. Petra Porlock entschuldigte sich ausdrücklich bei Beakys Mutter, weil sie ihrem Sohn im Verhör mit Vorwürfen über seinen Vater zusetzte, für die sie keine Beweise hatte. Sie hatte einfach spekuliert, weil sie, wie viele Polizistin meinte, dass der Zweck die Mittel heiligt. Es hatte wohl Ende der 50er Jahre einen Verdacht auf Verbreitung jugendgefährdender Bilder gegen Herrn Becker gegeben, aber das Verfahren war wegen mangelnder Beweise eingestellt worden. Puvogel hatte sich relativ gut erholt, er hatte keine bleibende Schäden, doch es blieben einige Gedächtnislücken, was die letzten Tage vor seinem Unfall betraf. Vielleicht hatte er es auch vorgezogen, sich nicht mehr an diese für ihn peinlichen Ereignisse zu erinnern. Da er damit als Zeuge ausfiel stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren wegen schwerer Körperverletzung und Einbruchsdiebstahl ein. Die Suche nach Beakys Komplizen endete damit auch. Es hatte Spekulationen über Puvogel in den Boulevardzeitungen gegeben, da es aber keine Quellen gab, die die Reporter angraben konnten, verschwand die Geschichte nach kurzer Zeit und andere spekulative Stories füllten das Sommerloch. An Petra Porlock hatten sie die Journalisten die Zähne ausgebissen, sie schwieg, wenigstens das gehörte zu ihrer Auffassung von Professionalität.
Jahre später traf ich Ingomar von Puvogel auf einer Nach-Vernissage-Party bei dem inzwischen verstorbenen Galeristen Kunze in der Giesebrechtstraße. Bei ihm hatte sich aus dem Diebstahl der Watteau-Kopie und Beakys Tod eine amüsante Anekdote entwickelt, in der er selbst eine höchst heldenhafte Rolle spielte. Ich war befremdet aber auch fasziniert. Hanna machte nach dem Studium eine Therapeutenausbildung und lebt als Analytikerin in Bielefeld. Von Susanna habe ich nie wieder etwas gehört und der falsche Doktor soll in Amsterdam gelebt haben, bevor sich seine Spur auf den Balearen verlor.

An diesem Sonntag im August 1973 leitete ich nach einem zweistündigem Gespräch langsam meinen Rückzug ein. Das Gespräch mit Beakys Mutter hatte mich Kraft gekostet. Frau Becker betonte noch einmal: „Frieder hat sie bewundert, Marcus. Er hat oft von ihnen gesprochen, er wäre gern wie sie gewesen. Ich glaube, es wäre in seinem Sinne, wenn sie diese Bücher bekommen. Die hatte ihm Puvogel geschenkt und ich möchte sie nicht behalten.“
Damit holte sie eine Reisetasche unter dem Küchentisch hervor, die randvoll mit Büchern gefüllt war. Sie wog deutlich mehr als zehn Kilo. Ich war nicht begeistert über das Geschenk, aber ich konnte es unmöglich ablehnen. Ich wollte eben aufstehen, als ich merkte Frau Becker hatte noch etwas auf ihrem Herzem: „Sagen sie, Marcus. Glauben sie er hat sich umbringen wollen? Aber dann hätte er doch einen Brief hinterlassen, oder?“
„Ich bin mir sicher, das es ein Unfall war. Er war ja wohl runter vom Heroin gewesen, da passieren leider häufig Überdosierungen. Für Selbstmord war er auch überhaupt nicht der Typ.“
Ganz so sicher war ich mir nicht.

Als Beaky wieder auf der Blissestraße steht, ist die Sonne untergegangen und er überlegt, wo er etwas zum spritzen bekommen könnte. Nein, er will nicht wieder damit anfangen. Nur heute bräuchte er einfach ein Hilfsmittel um einmal total abzuschalten und lange zu schlafen. Dann würde die Welt bestimmt wieder heiterer aussehen. Es gibt doch da diesen Laden in der Bundesallee, wo er kurz drin war, als er auf Entzug war. Die „Baustelle“ ist zwar ein angeranzter Schuppen, aber was zum drücken gab es dort bestimmt, eigentlich ist es genau der Laden, den er jetzt braucht.
Die Disco ist noch leer, kaum ein Dutzend Menschen bevölkern den großen Raum. Beaky hat ein merkwürdiges Gefühl, ähnlich wie ein deja vu. Er stellt sich vor, dass bevor er zur Tür hereinkam, die Personen stocksteif wie Wachspuppen gewesen wären. Nur für ihn würden sie jetzt so tun, als ob sie Gäste, D.J. oder Tresenkraft wären. Verbunden mit diesem Gefühl ist die Ahnung etwas Schlimmes könnte passieren. Ja, er ist ziemlich mit den Nerven fertig.
Der D.J. blendet eben zu „Dead Flowers“ von den Stones über und ein Paar betritt die leere Tanzfläche. Beaky setzt sich an die Theke, der wie ein Rocker aussehende Keeper fragt ihn „Cola?“ und Beaky nickt. Er mag den Song und es hört sich so, als ob Jagger seinen Namen singt:

„Take me down little Beaky take me down
I know you think you’re the king of the underground.“

Beaky schaut sich um und überlegt, wen er ansprechen soll. Der Barmann stellt ihm die Cola hin und verlangt eine Mark. Beaky sucht die Münze aus der Tasche und bevor er bezahlt, fragt er: „Sag mal, weißt du, ob hier jemand Pulver verkauft?“
„Geh mal zu dem Kleinen mit der braunen Lederjacke.“
Er zeigt in Richtung der D.J. Kanzel. Dort stehen ein größerer und kleiner Mann.

„Send me dead flowers to my wedding
Send me dead flowers by the mail.
And I won’t forget to put roses on your grave.“

Der größere Mann sieht wie Ricky Shayne aus. Konnte es sein, dass der ehemalige Schlagerstar in so einem Schuppen rumhing? Na ja, er hatte Ricky Shayne mal in Ilja Richters „Disco 72“ gesehen. Da sah er ziemlich breit aus. Beaky dachte oft wenn er Prominente im Fernsehen oder auf Fotos sah, dass diese auf Drogen wären. Der Sänger war bleich gewesen, wirkte irgendwie steif und sang Playback. Das wurde sehr deutlich als er, ungefähr in der Mitte des Songs, das Mikrofon bis auf die Höhe seines Gürtels sinken lies und völlig vergaß es wieder vor den Mund zu halten. Jetzt sieht er allerdings frisch und wach aus. Der kleinere Mann nicht, er fährt sich mehrfach mit der Hand ins Gesicht und reibt darin herum. Eine typische Junkie-Geste. Ja, das könnte sein „Mann“ sein. Der D.J. spielt nun „Break On Through“ von den Doors.

Tried to run
Tried to hide
Break on through to the other side.“

Beaky hat es nicht eilig, im Gegenteil, jetzt wo er so kurz vor der Erfüllung seines Wunsches ist, kommen ihm Zweifel, ob das was er hier tut richtig ist? Neben der Tanzfläche ist ein Baugerüst aufgebaut, an dem eine Leinwand hängt. Darauf wird ein alter Tom und Jerry Film projeziert. Der Kater bekommt Ärger mit einer grimmig aussehenden Bulldogge. Der Mann, der wie Ricky Shayne aussieht verabschiedet sich nun von seinem Gesprächspartner und verlässt dann mit großen Schritten die Disco. Das ist Beakys Stichwort, er läuft langsam ohne Hast hinüber und spricht den kleinen Mann so cool wie möglich an.
Das Geschäft wickeln sie auf der Herrentoilette ab, einem üblen Ort, der selten oder nie sauber gemacht wird. Beaky kauft ein „halbes Halbes“ für 20 Mark. Der Pusher will erst in die Innentasche seiner Lederjacke greifen, besinnt sich aber und nimmt aus seinem Geldbeutel ein Briefchen, das nicht aus Papier sondern aus goldenem Stanniol gefaltet wurde.

1973 dachte ich, Beaky wäre an den Drogen gescheitert. Heute sehe ich das natürlich differenzierter, im Grunde war es eine Verkettung von unglücklichen Ereignissen und natürlich auch von dummen Entscheidungen, die er getroffen hatte. Er war dabei sich aus dem Milieu der Drogen herauszuarbeiten, doch dann kamen Liebeskummer, Missbrauch und die Behandlung durch eine Polizistin, die ihn vorverurteilte und unter Druck setzte, erneuter Missbrauch eigentlich. In der Folge hatte er einen Rückfall, eine „Abstinenzunterbrechung“, wie es heute die Suchtexperten nennen. Noch der Pusher, der ihm das Heroin verkaufte, hätte es in der Hand gehabt, Beaky vor dem Tod zu retten. Doch der dachte als Geschäftsmann und gab ihm das ungestreckte Zeug, das für Neukunden reserviert war. Hätte Beaky das normale, gestreckte Zeug für die Stammkunden bekommen, wäre eine Überdosis ausgeschlossen gewesen. Es war sein Todesurteil.
Als ich an diesem Sonntagabend zuhause in der Schlüterstraße die Reisetasche mit den Büchern aufmachte, lag obenauf der Gedichtband von Colerigde. Ich schlug den Beginn von „Kubla Khan“ auf.

In Xanadu did Kubla Khan
A stately pleasure-dome decree;
Where Alph, the sacred river, ran
Through caverns measureless to man
Down to a sunless sea.

Dabei fiel ein Zettel aus dem Buch. Auf ihm las ich, in Beakys krakliger Kinderhandschrift, mit dem Bleistift geschrieben, den Anfang des Gedichtes in deutscher Sprache. Etwa 20 Zeilen hatte er offensichtlich selbst übersetzt. Es war sicher nicht die beste denkbare Übersetzung, doch ich fand sie ganz ordentlich.

In Xanadu hat Kublai Khan
ein großes Prachtschloß sich erbaut:
Wo Alph, heiliger Fluss, durchströmte Höhlen
für Menschen nicht ermesslich
hinab zu sonnenloser See.

Oben rechts befand sich ein Datum auf dem Zettel, 13. Juli 1973. War er da nicht schon tot? Ich suchte die Todesanzeige aus meiner Brieftasche, die Frau Becker mir gegeben hatte. Nein, es war sein Todestag. Übersetzt jemand, der Selbstmord machen will, noch ein Gedicht und bricht damit nach einem Drittel ab? Mein Herz schlug schneller, ich begann hastig nach meinem alten Notizbuch zu suchen, in dem die Telefonnummern der Mitschüler notiert waren. Ja, richtig Frieder Becker. Ich lief zum Telefon im Berliner Zimmer und rief Frau Becker an. Erst hatte sie Schwierigkeiten meiner aufgeregten Argumentation zu folgen, doch mit der Zeit konnte ich sie überzeugen, dass ich einen Beweis gefunden hatte. Einen Beweis dafür, das er keine Absicht hatte, sich zu töten.
Der Fund der Übersetzung hatte mich ein wenig beruhigt, ob er auch Beakys Mutter geholfen hatte, konnte ich nur hoffen. Weder von ihr noch von seinem Vater habe ich je wieder gehört. Nur die Bücher, die Puvogel Beaky schenkte, stehen immer noch in meiner Bibliothek und erinnern mich ab und zu an Beaky und sein kurzes Leben.

Beaky hat keine Lust die zwei Stationen von der Güntzelstraße bis zum Bundesplatz mit der U-Bahn zu fahren. Er läuft, der Sommerwind erfrischt ihn. Er wünscht sich das Puvogel nicht aus dem Koma aufwacht und gleich hat er ein schlechtes Gewissen deshalb. Aus einem Fenster hört er den Schlager:

„Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung
Dubdidubdidubdub dubdidub.“

Na super, noch ein Ohrwurm, Cindy und Bert, schlimmer geht’s nicht. Da ist Ricky Shayne noch richtig gut gegen, mit seinem “Ich sprenge alle Ketten und sage nein nein nein nein nein.“
Als er am Volkspark ankommt überquert er die Bundesallee mit der Fußgängerbrücke. Er schaut nochmal in beide Richtungen in den Park, der sich vom Alten Fenn an der Blissestraße, bis zum Schöneberger Rathaus hinzieht. Der Mond ist schon fast voll, es ist Freitag fällt ihm auf. Freitag, der 13. Er ist ein Stadtkind, der Volkspark Wilmersdorf ist, was er sich unter Natur vorstellt. Im Wald oder in den Bergen hat er sich nie wohlgefühlt.
Zuhause hat er es nicht eilig mit dem Schuss. Erstmal geht er in die Küche und setzt einen kleinen Topf mit Wasser auf. Als es kocht, legt er die Spritze hinein und stellt die Eieruhr auf 20 Minuten. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und nimmt sich den Hornby vor, sein englisches Schulwörterbuch. „decree“ schlägt er nach, „order given by a ruler or authority“, das war es, darüber hatte er in der Zelle gegrübelt. Mit Bleistift beginnt er zu schreiben. Etwa eine Stunde arbeitet er, dann klingelt das Telefon. Wer könnte das sein? Vielleicht wegen seiner Mutter. Nein, es ist Frau Porlock, die Polizistin, ihre Stimme hat etwas triumphierendes: „Also, Herr Becker. Ihr Chef ist aufgewacht, ich vernehme ihn morgen vormittag. Kommen sie doch bitte in die Keithstraße. Passt es ihnen um 15 Uhr?“
Natürlich passt es Beaky, was soll er sagen, wie soll er sich entziehen? Sofort ist seine Konzentration weg und er legt nun eine Platte auf. „Sticky Fingers“, die B-Seite. Das erste Stück „Bitch“ mag er nicht besonders, eine up-tempo Nummer mit Bläsersatz ist nicht so ganz sein Fall. Aber sie geht in die Beine und die Zeile „I salivate like a pawlow dog“ bringt ihn immer zum grinsen. Die Amis sagen „smack“ zu Heroin, auf Berlinisch hieße das „Haue“.
„I Got the Blues“ hört er mit Genuss, auch wenn er an Hanna denken muss. Merkwürdig, ursprünglich war Brian Jones der Blues-Guru der Band, doch nun sieht es aus, als ob Mick Taylor, der ihn ersetzt, die Band auch in Richtung Blues beeinflusst. Trotzdem wird Mick Taylor nie einen Brian Jones ersetzen können.
Als er die ersten Akkorde von „Sister Morphine“ erkennt, läuft er in die Küche und holt die ausgekochte Spritze, einen Löffel, Zitronensaft und ein Teelicht. Auf seinem Schreibtisch versammelt er nun alle Ingredenzien für den Schuss. Sein Feuerzeug, Zigaretten, ein Gummischlauch kommen dazu.

„Well it just goes to show things are not what they seem
Please, Sister Morphine, turn my nightmares into dreams.“

Ob es wohl stimmt, das Marianne Faithfull den Text für Sister Morphine geschrieben hat, oder ist das Legende? Oder wurde es erfunden um mehr Platten zu verkaufen? Oder ist beides wahr?

„What am I doing in this place?
Why does the doctor have no face?“

Beaky spritzt Zitronensaft auf den Löffel, dann öffnet er das Päckchen. Es sieht gut aus, feines, braunes Pulver. Mit der Messerspitze entnimmt er Pulver und gibt es auf den Löffel. Ja, ruhig noch ein bißchen mehr. Er will Ruhe, richtig Ruhe: „Moonlight Mile“.

Just another mad mad day on the road.“

Er trennt den Filter von einer Zigarette, dann kocht er das Gemisch auf und zieht es durch den Filter in die Spritze.

„I’m hiding sister and I’m dreaming
I’m riding down your moonlight mile.“

Er bindet den Stauschlauch um den linken Oberarm, sucht eine Vene. Kein Problem, die Kanüle dringt butterweich ein. Ein Fädchen Blut im Kolben zeigt ihm, er hat getroffen. Langsam drückt er den Stoff in die Blutbahn. Die Wirkung kommt mächtig. Er hat Angst, kann nicht mehr atmen, sein Herz ist ein einziger Schmerz. Dann lichtet sich der weiße Nebel. Er ist wieder in Xanadu, er sieht den herrlichen Palast und diesmal ist er nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Er hat nun keine Angst mehr, er fühlt sich sicher und geborgen und er hofft dieses Gefühl würde für immer anhalten.

„I got silence on my radio
Let the airwaves flow
Let the airwaves flow.“

Ende –

– Die Illustration stammt wieder von Rainer Jacob: rainerjacob.com

– Um Xanadu hintereinander im Blog zu lesen, sollte man die Such-Funktion benutzen und “Xanadu Kapitel Eins” “Xanadu Kapitel Zwei” usw. eingeben.

– “Die Legende von Xanadu” wird eine Fortsetzung bekommen. Sie hat natürlich einen anderen Helden, aber den Erzähler und andere Figuren aus Xanadu werden wir wiedertreffen. Die Fortsetzung wird im wesentlichen 1981, vor dem Hintergrund der Berliner Punk- und Hausbesetzer-Szene spielen. Ich habe mit dem Schreiben des Romans angefangen und Rainer Jacob wird ihn wieder illustrieren, worüber ich mich sehr freue. Der Roman trägt den Titel “Ein Hügel voller Narren” und wird wieder hier im Blog vorveröffentlicht.
Das erste Kapitel heißt “Bela Lugosi ist tot”:
http://wp.me/p3UMZB-PT
– Meine Romane sind fiktiv, aber nicht erfunden. Um Persönlichkeitsrechte zu schützen, habe ich Namen und Details verändert.

Familienportrait – „Das Brennen“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Elf / 1973 / von Marcus Kluge

Beaky wurde unsanft aus seinen Träumen geholt, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Zu seiner Verblüffung erkannte er seinen Vater vor sich. Was machte sein Vater hier, bei der Kriminalpolizei in der Keithstraße? Bevor er zuende gedacht hatte, fragte dieser: „Junge, Frieder, was machst du denn hier? Und wieso haben sie dich angekettet?“
Beaky schüttelte den Kopf und formulierte etwas umständlich: „Sie denken, ja also, ich hätte meinen Chef umbringen wollen. Aber das ist natürlich Quatsch, ich hoffe die merken bald, dass ich kein Mörder bin.“
„Den Puvogel? Den Antiquitätenhändler? Als ob es nicht genug zwielichtige Bekannte von ihm gäbe, denen sowas zuzutrauen ist.“
Beaky hatte inzwischen bemerkt, dass auch sein Vater gefesselt war. Der Unifomierte neben Becker senior hatte sich eine Zigarette angezündet und war offensichtlich bereit, Vater und Sohn ein kurzes Gespräch zu gewähren. Herr Becker wollte nicht auf eine Frage warten, er hob seine Hand und zeigte Beaky den Metallring um sein Handgelenk: „Mich wollen sie wegen Brandstiftung drankriegen. Ich soll meine Kneipe angezündet haben. Du weißt doch wie ich an dem Schuppen hänge. Frieder. Niemals würde ich sowas tun.“
Sie tauschten noch ein paar belanglose Sätze aus, dann drängte der Beamte zum Aufbruch, Vater und Sohn wünschten sich Glück und verabschiedeten sich. In Beakys Hirn türmte sich ein weiteres Fragezeichen auf die schon vorhandenen. Könnte sein Vater sowas gemacht haben? Die Kneipe lief ja nicht gut, wollte er die Versicherung kassieren? Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er mochte seinen Papa nicht so sehr wie seine Mutter, doch war er immer eine verlässliche Größe in seinem Leben gewesen, nun wurde ihm bewusst, wie wenig er eigentlich über seinen Erzeuger wusste.

Lange hatte er nicht Zeit darüber nachzudenken, dann wurde auch er abgeführt. Man brachte ihn in ein Zimmer im Souterrain, Licht fiel nur durch eine Art Oberlicht und außer Tisch und Stühlen war der Raum leer. Es dauerte nicht lange, dann erschien Petra Porlock mit einem Stapel Akten unter dem Arm, in ihrem Schlepptau folgte ein junger Uniformierter.
„Also Herr Becker, ich bin ja etwas sauer auf sie. Ich mag es nicht angelogen zu werden. Und gleich zweimal. Sie wissen doch wovon ich spreche?“
Beaky hatte sich vorgenommen erstmal gar nichts zu sagen, den Tipp hatte ihm der “Doc” mal gegeben. Er hätte gern die Arme verschränkt, aber mit der linken Hand war er immer noch an ein Tischbein gekettet. Also schaute er, etwas betreten, auf die Tischplatte vor sich.
Einige Minuten passierte gar nichts, Petra kuckte an die Zimmerdecke, nickte freundlich dem Polizisten zu, während Beaky merkte, wie ihm die Situation zunehmend unangenehm wurde.
„Wissen sie, Beaky, so werden sie doch genannt. Ich kenne dieses Spiel gut und versichere ihnen, ich kann es besser und vor allem länger spielen als sie. Tun sie sich einen Gefallen und beantworten sie meine Fragen, damit wir beide hier irgendwann wieder rauskommen. Wieso haben wir heute morgen das Gemälde aus Puvogels Galerie in ihrem Zimmer gefunden?“
Beaky machte den Mund auf, wollte sprechen, aber nur ein kläglicher Laut kam aus seiner Kehle. Petra wies den Beamten an, Beakys Handfessel zu lösen. Der Befreite rieb sich das Handgelenk, räusperte sich und sagte: „Mein Chef hat mir das Bild zum Aufbewahren gegeben. Ich kann mir nur denken, wieso. Ich habe mich nicht getraut zu fragen.“
„Und, was denken sie?“
„Na ja, es sieht nach einem Versicherungsschwindel aus, oder?“
„Gut, ich werde das prüfen, aber überzeugt bin ich nicht von ihrer Theorie.“

Es wird ein langes Verhör. Petra stellt immer wieder die gleichen Fragen und Beaky bemüht sich, nicht in eine von ihren Fallen zu tappen. Er hält sich gut, findet er. Doch dann zieht Petra ihr Netz enger, sie spielt einen weiteren Trumpf aus: „Also, sie haben zugegeben, dass sie die perversen Fotos gesehen haben, was ich übrigens sowieso wusste, weil überall ihre Fingerabdrücke darauf sind. Also, entweder er hat sie gezwungen, oder er hat sie betäubt? Es kann natürlich auch sein, das sie sich wie ein kleiner Stricher vom Bahnhof Zoo, haben bezahlen lassen? War es nicht so? Haben sie sich nicht verkauft, um sich Drogen von dem Geld zu besorgen?“

Beaky hat feuchte Augen und seine Wangen brennen. Obwohl es kühl ist, schwitzt er und er hat furchtbaren Durst. Der Polizist sitzt mit versteinerter Miene neben der Tür und hört alles mit, was ihm besonders peinlich ist. Er beschließt zuzugeben, was in Puvogels Wohnung geschah. Er hofft, dieses unerträgliche Verhör kommt dann zu einem Ende: „Nein, ich habe nichts bekommen. Ich war vor ein paar Tagen bei ihm und ich glaube, er hat mich betäubt und die Scheißbilder gemacht, das Schwein.“ Die letzten Worte werden zu einer Art Winseln, er ist mit seinen Nerven am Ende, nun hat er auch noch Schmerzen in seinem Knie.
Aber Petra treibt Beaky weiter vor sich her: „So, da hatten sie ja allen Grund wütend auf ihn zu sein, sie sind ja immer noch außer sich. Und traf sie dieser Missbrauch nicht an einer ganz besonders empfindlichen Stelle? Weil schon ihr Vater perverse Bilder von ihnen gemacht hat?“
Aus seinem Mund kommt nur noch ein Flüstern: „Mein Vater? Was hat der denn damit zu tun?“
„Stellen sie sich doch nicht dumm, sie müssen sich doch erinnern können. Ihr alter Herr ist übrigens auch gerade hier. Dreimal dürfen sie raten wieso?“
„Wegen Brandstiftung ist er hier.“
„Ja, und praktischerweise ist sein kleines Fotostudio mitsamt den Bildern auch verbrannt. Ein toller Zufall.“
Beaky schüttelte seinen Kopf verzweifelt, als ob er damit die letzten Sätze wieder ausradieren könnte und er sagt jetzt nichts mehr.

Er ist froh, das Verhör hinter sich zu haben. Er freut sich fast, jetzt allein in einer Zelle zu sein, er liegt auf der Pritsche und hat die Augen geschlossen, langsam beruhigt sich der Schmerz im Knie. Draußen ist es ein heißer Sommertag in diesem Juli 1973, das vergitterte Fenster ist geöffnet und der Wind trägt einen alten Schlager an Beakys Ohren: „Ich sprenge alle Ketten“. Trotz seiner beschissenen Situation muss er über die Ironie des Zufalls grinsen. Ricky Shayne, er erinnert sich, das war ein Star in den 60ern gewesen.
Am späten Nachmittag schläft er ein, dann gibt es Abendbrot, schlichtes Graubrot mit Tilsiter, er isst hastig und bis zum letzten Krümel alles auf. Um 22 Uhr wird das Licht gelöscht, er freut sich auf den Schlaf, doch der hat keine Gnade mit ihm. Immer wieder erscheinen die Fotos, auf denen er aussieht wie ein Opfer mit einem Strick um den Hals, vor seinem inneren Auge. Hat Frau Porlock wirklich das Wort „Kinderpornografie“ gesagt, oder bildet er sich das ein? Ihm wird heiß, schwindlig, er glaubt zu fallen, obwohl er liegt. Es riecht verbrannt in der kleinen Zelle. Dann kommt die Angst, es ist Todesangst, ihm ist als würde er jetzt in diesem Moment sterben. Er steht auf, hämmert gegen die Tür, bis ein schlecht gelaunter Wärter auftaucht: „Woln se alle wachmachn?“ Immerhin hört er dann zu, murmelt „Zellenkoller“, haut ab und kommt mit einer Pille zurück: „Noch en Mucks, denn wird’s die Jummizelle.“

Der nächste Tag zieht sich schleppend dahin, wobei es in der Zelle immer wärmer und schwüler wird. Er hatte schon vormittags mit weiteren Verhören gerechnet, doch nichts passiert. Erst am frühen Abend erscheint Petra Porlock, er steht auf, doch sie bedeutet ihm mit einer Geste wieder auf dem Bett Platz zu nehmen. Sie selbst setzt sich auf den einzigen Stuhl: „Also, ich will fair sein, aber auch nicht verschweigen, dass ich sie immer noch für hochgradig verdächtig halte. Ihr Chef ist nach wie vor im Koma, die Ärzte haben da keine Prognose. Allerdings wird er möglicherweise einen bleibenden Schaden haben, weil die Blutversorgung zum Gehirn unterbrochen war. Man weiß nicht wie lange. Ich hatte gehofft, er kann aussagen, aber es sieht nicht so aus. Ihre Mutter hatte einen Kreislaufzusammenbruch, da dürfen sie ruhig ein gehörig schlechtes Gewissen haben. Die arme Frau hat mit ihnen nur Kummer und Sorgen. Sie liegt im Gertrauden-Krankenhaus, bekommt Infusionen, braucht Ruhe und wird ein paar Tage dort bleiben.“
Petra macht eine Pause und sieht ihr Gegenüber prüfend an. Dann wird ihr Ton eine Nuance freundlicher: „Wissen sie das sie einen Freund haben? Ihr Doktor.“
Beaky wird übel, spricht sie von seinem Freund, dem “Doc”, der mit den 10 000 Mark abgehauen ist? Erst als Petra fortfährt, atmet er erleichtert auf, nein sie meint einen anderen, einen richtigen Arzt.
„Dieser Professor Philippus, ihr Seelenklempner, hat mit dem Staatsanwalt gesprochen. Der Mann scheint gute Kontakte zu haben. Jedenfalls hat er behauptet, Puvogel hätte sich bei irgendeiner sexuellen Handlung selbst stranguliert. Na ja, unsere Gerichtsmediziner prüfen das. Da ich im Moment, und ich betone im Moment nicht genug gegen sie in der Hand habe, sie einen festen Wohnsitz und rein theoretisch auch einen Job haben, lasse ich sie erstmal frei. Sie können ihre Mutter besuchen, aber wenn sie auch nur einen verdächtigen Schritt machen, sei es sie kaufen sich großformatiges Zigarettenpapier oder steigen in einen Bus nach Spandau, gehört ihr Arsch wieder mir und ich lasse sie in Ketten legen. Haben sie das verstanden?“
„Ja, Frau Porlock. Danke und glauben sie mir, ich habe Puvogel nicht einmal angefasst.“
„Nun ja, lassen wir das. Wir sehen uns auf jeden Fall. Adschö Herr Becker.“

Perilog
Als ich Anfang August des Jahres 1973 aus dem Urlaub in Frankreich zurückkam, war Beakys Schicksal bereits besiegelt. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Doch auch wenn ich in Berlin gewesen wäre, hätte ich wohl keinen Einfluss auf die Geschehnisse gehabt, die ihn letztlich das Leben kosten sollten. Trotzdem habe ich mir Vorwürfe gemacht. Schon damals hatte ich die Idee über sein Leben zu schreiben, doch ich merkte, dass mir der Abstand fehlte und es wurde nichts daraus. Woran war Beaky gescheitert? Wenn ich es auf einen Aspekt reduzieren müsste, würde ich sagen es waren die Drogen, an denen er scheiterte. Damals sah ich das auf jeden Fall so. Diese Erkenntnis half mir sogar in gewisser Weise, denn ich begann Drogen sehr viel kritischer zu sehen, als es der Zeitgeist es tat. Nachdem ich selbst mit Drogen experimentiert hatte, wurde ich nun abstinent, ich hatte Angst wie Beaky zu enden. Ich fürchtete mich vor Sucht, Überdosierungen und schlechten Trips, also ließ die Finger von den Substanzen. Vielleicht am meisten fürchtete ich ins Gefängnis zu kommen. Eine solche agressive Männerwelt stellte ich mir als Hölle für mich vor. Aber der Bereich Drogen und Gifte blieb in meinem Blickfeld. Ohne das ich mir es vorgenommen hätte, begann ich Bücher über zum Thema zu sammeln. Hauptsächlich auf Flohmärkten und in Antiquariaten fand ich sowohl Belletristik als auch Sachliteratur. Von Louis Lewins Standardwerk „Phantastika“ über Scheidts „Die Behandlung Drogenabhängiger“, pharmakologischen und toxikologischen Fachbüchern bis zu de Quinceys „Bekenntnissen eines englischen Opiumessers“ oder Karen Boyes Science-Fiction-Klassiker „Kallocain“. Und ich begann auch Geschichten zum Thema zu sammeln. Ich hielt Kontakt mit alten Schulfreundinnen und Freunden, die zu Jüngern von Halluzinogenen, Narkotika oder Aufputschmittel geworden waren und ich hörte stundenlang zu, wenn sie mir von ihren Erfahrungen erzählten. In gewisser Weise wurden Literatur und erzählte Geschichte für mich zu Substituten für die eigene Erfahrung, die ich scheute. Jahrelang war es mein Ziel darüber zu schreiben, dramatische Romane stellte ich mir vor, auch Krimis über ausgetüfftelte Giftmorde wollte ich mir ausdenken.
Ich versuchte mich darin, doch ich war mit meiner Schreibe sehr unzufrieden, mir fehlte Erfahrung, Übung und ein Plan. Ich wusste nicht, wieso ich etwas schreiben sollte und für wen. Ich wusste noch nicht einmal, was ich für mich selbst schreiben sollte. Dazu hätte ich ja wissen müssen, wenigstens ungefähr, wer ich war und was meine Bedürfnisse waren, doch von solchen Erkenntnissen war ich Jahrzehnte weit entfernt.
Alles was ich zu Papier brachte war holprig, gewollt und unzulänglich. Dazu kam, damals in den 1970er Jahren hatte ich eine leicht paranoide Einstellung gegen Polizei und Justiz. Ich befürchtete, selbst wenn ich Namen und Umstände verschlüsselte, könne die Exekutive meine Freunde und Bekannte aus der Drogenszene verfolgen, vielleicht war das weit hergeholt. Denn diese war hauptsächlich beschäftigt die RAF, oder andere „Staatsfeinde“, wie das Sozialistische Patienten-Kollektiv zu verfolgen. Drogendelikte hatten noch nicht den Stellenwert wie später. Richard Nixon hatte zwar schon 1972 den „Krieg gegen die Drogen“ erklärt, aber in Deutschland dauerte es noch Jahre bis diese repressive Welle angespült wurde.
Es blieb also viele Jahre beim „schreiben wollen“. Erst zu Beginn der 80er Jahre fing ich an regelmäßig Texte auf meiner Schreibmaschine zu tippen. Doch Beakys Geschichte war mir noch zu nah. Es folgten Jahrzehnte, in denen ich neben der Arbeit nichts mehr Persönliches schreiben konnte. Es mussten 40 Jahre vergehen, bis mir seine Geschichte wieder einfiel und ich mir zutraute sie zu Papier zu bringen. Im Herbst 2013 schrieb einen Text über ein Pink Floyd Konzert Anfang 1970 und da war er wieder, Beaky. Und der langhaarige Junge mit der Schnute und der Fransenjacke erstand vor meinem geistigen Auge auf und forderte einen Tribut. Ich begriff, dass es ihm schuldig war, sein Leben, oder wenigstens sein tragisches Ende, für die Nachwelt festzuhalten…

Beaky verlässt das Polizeigebäude in der Keithstraße und läuft los, ohne nachzudenken wohin. Er will einfach nur weg und das laufen tut ihm gut, obwohl es heiß ist und er schnell anfängt zu schwitzen. Es ist kurz nach sechs, er kauft schnell noch Zigaretten, bevor die Läden zumachen. Plötzlich steht er vor dem Aquarium, er setzt sich auf eine Bank und raucht eine Camel mit Filter. Zum ersten Mal seit zwei Tagen entspannt er sich ein bisschen. Dann geht er die Budapester Straße lang,am Bikini-Haus und dem Zoo-Palast vorbei, zum Vorplatz des Bahnhofs Zoo. Den Bahnhof Zoo hat er immer gemieden, die Stricher und verkommenen Junkie-Gestalten stoßen ihn ab. Aber jetzt will er doch noch ein paar Blumen kaufen, tatsächlich findet er einen offenen Laden in West-Berlins einzigem Fernbahnhof. Dann stellt er sich an die Haltestelle des 60er Busses, der ihn zur Blissestraße bringt. Von dort sind es nur zwei Ecken zum Gertrauden-Krankenhaus.

„Hallo Mama, wie geht’s dir denn?“
„Ach Frieder, die Blumen sind aber schön. Das wär doch nicht nötig gewesen.“
„Doch Mama, das war nötig. Ich hab ein total schlechtes Gewissen, dass du wegen mir krank bist.“
„Ach Quatsch. Ich hab wohl zu wenig getrunken und bin dann bei der Hitze umgekippt. Der erste Lack ist halt ab bei mir. Nu geh aber gleich mal zu den Schwestern und lass dir ‘ne Vase geben.“
Die Krankenschwestern tragen alle merkwürdige Kutten, das müssen Nonnen sein. Beaky überlegt, wie man die anspricht.: „Bitte Frau Schwester, hätten sie ein Blumenvase für mich?“
Beaky versucht seine Mutter zu beruhigen, er stellt sich als rehabilitiert dar, wobei er in Wirklichkeit Angst hat. Angst, Petra Porlock könnte seinen Plan aufdecken und herausfinden, dass er selbst der Anstifter war. Wenn Puvogel aufwachen sollte, wäre er geliefert. Er hofft seine Mutter merkt nicht, wie es wirklich um ihn steht.
„Pass auf dich auf, Junge. Und iss was Vernünftiges, im Eisschrank sind Bouletten und Kartoffelsalat, die müssten noch gut sein.“
„Ich komme morgen wieder, Mama und ich liebe dich. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“

wird fortgesetzt –

Die Personen und die Handlung von “Die Legende von Xanadu” wurde von wahren Vorbildern und Ereignissen inspiriert, ist aber eine fiktive Geschichte geworden. Zu meiner eigenen Überraschung ist auch der Erzähler, der ja Ähnlichkeit mit mir hat, zur Kunstfigur mutiert. Um Persönlichkeitsrechte zu schützen, habe ich, wo es nötig war Namen und Details verändert. Die letzte Fortsetzung der Geschichte trägt den Titel „Moonlight Mile“. https://marcuskluge.wordpress.com/2014/07/19/familienportrait-moonlight-mile-die-legende-von-xanadu-kapitel-zwolf-1973-von-marcus-kluge/

Die Illustration stammt von Rainer Jacob. Mehr von ihm:
http://www.rainerjacob.com

 

Familienportrait – “Downtown” / Die Legende von Xanadu Kapitel Sieben / von Marcus Kluge / 1973

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Sein Knie tat weh, schon den ganzen Morgen, so als ob es auf seine desolate innere Verfassung reagieren würde. Vielleicht war das ja so. War das nicht die Bedeutung von “psychosomatisch”, wie ihm sein Freund, der falsche “Doktor” mal erklärt hatte. Beaky betrat das Wartezimmer, es war fast leer, und er setzte sich auf den nächsten freien Stuhl. Er war froh, dass ein “richtiger” Arzt so schnell Zeit für ihn hatte, er hatte gehofft, es würde ihm sofort besser gehen, mit der Aussicht seine schwierige Lage mit einem echten Mediziner besprechen zu können. Aber im Gegenteil, alle seine Probleme, Ängste und Ungewissheiten stürzten nun geballt auf ihn ein. Sein Hals war wie zugeschnürt, während eine bittere Übelkeit aus seinem Magen nach oben stieg. Sein Liebeskummer, die Heroinsucht, der Brief seiner Mutter und die bange Frage, was eigentlich genau passiert war während seines Black-Outs, als er sich in Puvogels Gewalt befand. All das zerrte nun seine Gedanken in im Kreise laufende Gedankenketten. Sein kleines Schicksals-Schifflein schien auf dem Ozean des Lebens Brechern ausgeliefert zu sein, für das es nicht gebaut worden war. Lange saß er so da, grübelte er und knabberte an seinen Fingernägeln.

Es kam ihm wie Stunden vor, sein Warten, und langsam beruhigte er sich ein wenig und begann zum ersten Mal den Raum, in dem er saß, wahrzunehmen. Es war gar kein richtiges Wartezimmer. In diesem Zimmer erinnerte nichts an gewöhnliche Orte dieser Art. Ein wahres Sammelsurium von gemütlichen alten Sofas, Sesseln und schlichten Thonetstühlen boten eine reiche Auswahl an Sitzgelegenheiten. Statt Illustrierten lagen Geduldsspiele, kleine Bälle, Stifte und Papier herum. Aber das ungewöhlichste sah er erst, als er sich umdrehte. Hinter ihm war eine Glasscheibe, durch die man direkt in das Behandlungszimmer blicken konnte. Ebenfalls erst jetzt fiel ihm auf, wenn man sich darauf konzentrierte, konnte man über zwei kleine Lautsprecher hören, was im Arztzimmer gesprochen wurde.
Beaky fiel der Begriff “ärztliche Schweigepflicht” ein. Gab es nicht sowas? Durfte das der Arzt überhaupt und war es nicht total peinlich, vor anderen Patienten seine Probleme zu schildern? Im Behandlungsraum sah man Professor Philippus hinter einem kleinen antiken Schreibtisch sitzen. Er war dick, nicht so wie Puvogel, der ein Bäuchlein hatte und sonst fast normal aussah, nein, Philippus war fett, überall. Selbst seine Hände, sein Hals und sogar seine Ohren wirkten adipös. Ihm gegenüber saß eine junge Frau mit dunklen, langen Haaren und einem Puppengesicht. Unter ihrer weißen Nylonbluse blitzte ein schwarzer BH hervor. Der Professor fragte sie eben: “Haben sie denn ihrem Freund ihr Unbehagen kommuniziert, Susanna?” Den Namen sprach er Schuschanna aus. “Der dumme Kerl tat als ob er mich nicht verstanden hatte. Dann haben ich gesagt, er muss mit mir auch in Restaurant oder in Kino gehen, nicht immer jeden Tag nur in Bett. Aber er hat gesagt, ich sollen froh sein, das wir jetzt haben sexuelle Revolution und das Frau jetzt gleichberichtigt werde. Da ist mein Temperament durchgegangen und habe ihm Ohrfeigen verpasst”, “Verpasst” betonte sie auf dem “ver”. Susanna zog heftig an ihrer Zigarette und blies Philippus den Rauch ins Gesicht. Sie sprach mit einem Akzent, russisch oder polnisch dachte Beaky, eine besondere Vorliebe schien sie für manche Vokale zu haben. Die zog sie in die Länge. Der Arzt wedelte müde den Rauch vor seinem Gesicht weg, nun bekam seine Stimme etwas mitleidig väterliches: “Wir besprachen doch, das sie lernen müssen ihre Gefühle verbal zu äußern. Mit Gewalt erreichen sie möglicherweise das Gegenteil.” “Manchmal sehe ich rot und dann bricht Temperament mit mir durch.” Témperament! Vielleicht war es auch ein ungarischer Akzent? Nun blickte der dicke Mann auf seine Armbanduhr und verkündete: “Für heute müssen wir schließen, Schuschanna. Vergessen sie nicht zu bezahlen beim rausgehen und denken sie daran, schreien! Schreien sie ihren Frust aus sich heraus wie ein Baby, jeden Tag, am besten gleich morgens und ohne Rücksicht auf Verluste.” Er wirkte wie ein freundlicher großer Bär, als er sie zur Tür geleitete. Zum Abschied umarmte er sie, während sie ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange drückte.
Unter Philippus Kollegen munkelte man, er wäre so dick, weil er die Probleme seiner Patienten in sich hineinfräße. Meistens sprach man positiv über ihn, man wusste dass er spektakuläre Erfolge erzielte mit teilweise sehr unkonventionellen Methoden. Einzig sein unbestreitbar vorhandenes Charisma wurde ambivalent gesehen, viele Patienten wurden geradezu abhängig vom ihm und er scharte Anhänger um sich, mit denen er seltsame, geheime Exerzitien durchführen sollte. Es waren wohl Neider, die ihn mit Sektenführern wie Maharishi Yogi oder Otto Mühl verglichen.

“Von was träumen sie, Herr Becker, oder darf ich Frieder sagen?” “Mein Spitzname ist Beaky”, traute sich der Jüngere zu antworten. “Ich träume eigentlich selten, meist von der Schule.”
“Das meine ich nicht, was ist ihr Lebenstraum, Beaky? Was möchten sie erreichen?”, nun war Beaky aus dem Konzept. Mit einer solchen Frage hatte er nicht gerechnet. “Äh Xa…”, er räusperte sich, “also Xanadu, da will ich mal hin, wissen sie, in China!” “Hochinteressant. Das legendäre Xanadu. Und wenn sie das erreicht haben? Was machen sie am Nachmittag?” Philippus schaute Beaky mit großen Augen fragend an.

Jetzt war Beaky endgültig aus dem Tritt. Es trat eine Pause ein, die Beaky unangenehm war. Philippus tat nichts um die Spannung zu lösen. Er wartete auf eine Antwort. Schließlich fiel dem jungen Mann wieder ein, wieso er hier war und seine Hemmung löste sich. Heroin und Hanna, Hanna und Heroin, der ganze Teufelskreis war wieder präsent, der eben im Wartezimmer sein Hirn durchtobte. Er durchbrach das Schweigen: “Es geht um Hanna, meine Freundin, vielmehr meine Ex-Freundin. Ich liebe sie, aber sie hat Schluss gemacht.” In diesem Moment fiel Beaky siedendheiss ein, das ihr Gespräch im Wartezimmer mitgehört werden konnte. Er blickte zur Seite, durch die Glasscheibe. Dort saßen nur zwei Patienten, ein Langhaariger wie er selbst und eine ältere Dame mit einer Kurzhaarfrisur, die aristokratisch wirkte. Beide schienen am Geschehen im Behandlungszimmer uninteressiert zu sein, was Beaky beruhigte. Außerdem könnte er es jetzt nicht mehr ändern.
Der Psychiater wartete ob noch etwas nachkäme, dann antwortete er: “Darum geht es also, die Liebe. Wissen sie, Beaky, die Liebe ist strenggenommen eine Krankheit für uns Psychoheinis. Wenn man verliebt ist, sieht man die Welt völlig unrealistisch, man wird labil, extrem abhängig vom Verhalten des Liebes-Objektes. Selbst die Schmetterlinge im Bauch sind eigentlich pathologisch. Wir nennen die Liebe deshalb auch die schöne Psychose.” ‘Schöne Psychose’ sagte er mit einem heiteren Glucksen. Dann fuhr er wieder ernst fort: “Wieso hat Hanna sie denn verlassen?” Nun war Beakys Hemmung endgültig weg, an das Wartezimmer dachte er nicht mehr. Von seinem Heroinproblem erzählte er und das er davon loskommen wollte, wegen Hanna und überhaupt. Weder sein Knie ließ er aus, noch seine sorgenvolle Mutter. Auch von seinem Chef, der Einladung, dem riesigen Filmriss und dem Traum, in dem Puvogel ihn würgte, berichtete er dem Psychiater. Philippus fragte nach, wieviel Heroin, wie lange schon, selbst den blassen Striemen auf Beakys Hals untersuchte er. Schließlich nahm der Arzt wieder hinter seinem zierlichen Sekretär Platz.
Dann fasste er seine diagnostischen und therapeutischen Feststellungen zusammen. Er wäre bereit ihn zu unterstützen, wenn er es ernst meine mit dem Entzug. Er würde ihm ein Mittel verschreiben gegen die Ausfallerscheinnungen, besonders gegen die Angst. Dann müsste Beaky zweimal in der Woche in seine Gruppe kommen, das wäre unerlässlich. Besonders wenn es Beaky gelänge Hanna zurück zu gewinnen, würde er, Philippus, einen guten Ausgang sehen. Sein Filmriss bei Puvogel dürfte eine durch Heroin und Alkohol ausgelöste delirante Episode darstellen, die Striemen am Hals könnten sehr wohl beim Transport des Bewusstlosen entstanden sein. Außerdem sei für eine positive soziale Prognose, die Arbeit in der Antik-Galerie wichtig. Nur für sein Knie, da könne er nichts tun, da müsse ein Orthopäde konsultiert werden.

Fünf Minuten später steht Beaky mit einem Rezept auf der Uhlandstraße. Ihm fällt ein, neben der “Besenwirtschaft”, einem Weinlokal, in dem er mit seinem Vater mal Zwiebelkuchen essen war, ist eine Apotheke, also läuft er ein paar Schritte in Richtung Ludwig-Kirch-Straße. Der Apotheker gibt ihm das Medikament, murmelt etwas von Kreislauf, was Beaky nicht versteht. Er ist in Gedanken, unkonzentriert. Als er aus der Tür tritt passiert ihm ein Malheur, obwohl es nur ein Stufe gibt, schafft Beaky es, so heftig zu stolpern, dass er der Länge nach auf den Bauch und auf sein Gesicht fällt. Ein Augenblick kann lang sein, jedenfalls kommt es Beaky so vor. Er hat sich auf die Zunge gebissen, es schmeckt nach Blut, ebenfalls schmeckt es nach Ungeschicklichkeit, Versagen, Scham. Er kennt diesen Geschmack gut. Auf dem Schulhof hat er oft so gelegen, besiegt, beschämt, erniedrigt. Er glaubt um ihn herum stehen Leute und lachen über ihn und seine Dummheit. Tränen schießen in seine Augen. Seine rechte Wange ist aufgeschürft und seine linke Handfläche auch, sonst hat ihn seine Wildlederjacke geschützt. Der Apotheker stürzt aus der Tür, hilft Beaky auf und äußert mitleidig: “Aber Herr Becker, was machen sie denn?” Erstaunt nimmt Beaky wahr, dass niemand ihn auslacht, ein paar Passanten schauen betroffen und der Apotheker geleitet ihn an seinem Arm zurück in den Laden, wo er Beakys Wunden säubert, mit Jodtinktur desinfiziert und verpflastert. Beaky empfindet seine Fürsorge als wohltuend. Ihm fällt ein, er könnte mal ins Musicland schauen, gleich nebenan, kurz vor der Ludwig-Kirch-Straße. Diesmal achtet er sorgsam auf seine Füße, als er die Apotheke verlässt und nach wenigen Schritten betritt er das Geschäft mit den Hieronymus Bosch Fototapeten, in dem er schon viel Geld gelassen hat. Bereits in den 60er Jahren hat er den Lohn aus Vaters Kneipe hier in Vinyl-Scheiben angelegt. Die Wände mit der Bildwelt des mittelalterlichen Malers hatte ihn damals schon fasziniert, kaum zu glauben, dass das nicht irgendein Hippie auf LSD gemalt hat, sondern ein Mensch aus der Renaissance.

BildH. Bosch: “Die Hölle” (©: Public domain)

In der Mitte des Geschäfts steht ein runder Tresen, inmitten dessen ein blasser, schmaler Mann mit Geheimratsecken auf einem Barhocker tront. Von der Decke hängen Kopfhörer einladend über dem Verkaufstisch. “Erna”, so nennen alle den Besitzer, eigentlich heißt er Ernst Wüst, begrüßt den Stammkunden herzlich, fast wie einen alten Freund. Was nicht erstaunlich ist. Beaky war sogar mal bei ihm zuhause gewesen in der Gasteiner Straße. Aus alter Gewohnheit fragt Beaky, ob was gutes Neues reingekommen ist, aber Erna schüttelt nur den Kopf, wie meistens in letzter Zeit. Nein, nicht wirklich, nur Hard-Rock, Heavy Metal und billiger Glam-Rock. Da fällt dem schwulen Plattenhändler ein, dass er Beaky eine Nachricht geben soll, er wühlt aus einem Stapel Visitenkarten und ähnlichem einen Zettel und gibt ihn Beaky. “Von deinem Freund, dem Doktor”, bei Doktor zwinkert er. “Bei Su” steht auf dem Zettel und eine Telefonnummer. Erna beantwortet das klingelnde Telefon und Beaky verabschiedet sich mit einem Winken. Zur Teestube am Ludwig-Kirch-Platz ist es nicht weit, dort scheint ihm ein geeignetes Plätzchen zum Ordnen seiner Gedanken zu sein. Auch die langhaarige, blonde Sabina begrüßt ihn wie einen Freund und macht ihm einen Jasmintee. Merkwürdig, heute sind alle nett zu ihm. Sowas ist der junge Berliner sonst gar nicht gewohnt. Berlin ist ja keine besonders freundliche Stadt und wenn man lange Haare hat, muss man sich, auch 1973 ist das noch so, von der Schultheiss-Fraktion einiges anhören.

Er dreht sich einen kleinen Joint. Seit er auf Heroin ist, kifft er nur noch wenig. Er konzentriert sich auf den Duft und die Wärme, die aus dem Becher aufsteigen. Und dann ordnen sich seine Gedanken fast wie auf einen Schlag und er erkennt, dass nur eines wirklich Priorität hat. Nur Hanna ist ihm wirklich wichtig, alles andere wird sich lösen lassen, denn alles andere hat er in der eigenen Hand. Nur über Hanna kann er nicht bestimmen. Die Beziehung war das Beste was ihm im Leben passiert ist und er wird um sie und ihre Liebe kämpfen. Was immer er dafür tun muss, ist er bereit zu tun, alles mit Ausnahme von Selbstmord, denn dann würde er Hanna auch verlieren. Das war keine Option für ihn. Und noch etwas bemerkt er, sein Knie tut nicht mehr weh, schon seit seinem Sturz auf den Bürgersteig vor der Apotheke hat er keine Schmerzsignale mehr wahrgenommen. Umso besser, dann kann er jetzt unbeschwert seine nächsten Schritte planen.

Lange sitzt er in der Teestube am Ludwigkirchplatz. Er braucht einen Plan, aber es fehlt ihm ein zündender Gedanke, der seine Phantasie in Gang setzt. Dann sieht er einen Mann im Trench-Coat, der mit einem Koffer in die Pfalzburger Straße einbiegt. Es ist ein alter, großer Koffer, er scheint noch nicht einmal voll zu sein, der Mann lässt ihn lässig vor und zurück schwingen, während er zügig läuft. Mit einem solchen Koffer könnte man vieles transportieren. Wertvolles könnte man damit wegtragen, und langsam baut er in seinen Gedanken, wie mit Bausteinen, Klötzchen auf Klötzchen, bis es steht sein Traumschloss, sein Xanadu. Lange hat er nachgedacht, nun hebt er den Kopf und hört auf die Musik, die aus dem Lautsprechern kommt. Normalerweise spielen sie gitarrenlastige Musik, Rock- und Folk-Balladen in der Teestube. Sowas wie “It’s a Beautyful Day”, “America” oder “Cat Stevens”, deshalb ist es ungewöhnlich, dass nun ein klassischer englischer Pop-Song aus den 60er Jahren läuft.

When you’re alone
And life is making you lonely,
You can always go, downtown
When you’ve got worries,
All the noise and the hurry
Seems to help, I know, downtown.”

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Das Lied, mit dem Petula Clark 1964 einen sagenhaften internationalen Erfolg hatte, hellt Beakys Stimmung auf. Manchmal haben Popsongs diese Wirkung bei ihm. Seine inneren Zweifel weichen einer durch nichts begründeten Zuversicht, dass er all seine Probleme in den Griff bekommen wird. Denn nun hat er einen Plan. Einen Plan zur Rückgewinnung von Hannas Liebe, der gleichzeitig eine Rache an Puvogel enthält und nicht zuletzt die Erfüllung seines Lebenstraums bedeuten würde. Xanadu! Der Lebenstraum, an den er zuletzt immer weniger geglaubt hatte, bis zu diesem Tag. Sagte das seine Mutter nicht immer wieder, das gerade die Krisen, die schlimmen Zeiten im Leben, einen weiterbringen und oft zu positiver Fortentwicklung, zu größerer Zufriedenheit oder sogar Glück führen. In diesem Moment glaubt er, dass sie Recht hat. Allerdings würde er die Hilfe eines Freundes benötigen. An mich wird er wohl auch gedacht haben, in diesem Augenblick, aber ich bin in Frankreich und außerdem bin ich nicht der richtige für die Aufgabe. Beaky braucht einen Freund, mit dem er nahezu wortwörtlich “Pferde stehlen” kann, wobei nur “Pferde” eine Metapher darstellt, das “stehlen” nicht. Für dieses Konzept fällt Beaky nur einer ein, sein alter Freund, den alle “Doktor” nennen, obwohl der nicht wirklich ein Arzt ist.

“Doktor” öffnet Beaky die Tür zur Hinterhaus-Wohnung seiner Freundin in der Blissestraße, “Su” steht an der Klingel und “Milan”. Das Zimmer hat keine schöne Aussicht, eigentlich hat es gar keine Aussicht. Aus dem Fenster blickt man auf eine hässliche Brandmauer, die nur wenige Meter entfernt den Augen Einhalt gebietet. Der Raum scheint Wohnzimmer und Küche gleichzeitig zu sein, hinter einer halbgeschlossenen Tür hört man Musik, da vermutet Beaky “Doktors” Freundin und sowas wie ein Schlafzimmer. “Doktor” bietet seinem Freund einen Stuhl an und setzt sich selber. Auf dem Tisch vor ihm liegt eine Federwaage, Plastiktüten mit Pulver und kleine Stücke von buntglänzendem Stanniolpapier, aus dem normalerweise Kinder Weihnachtsbaumschmuck oder ähnliches basteln.

Sie haben sich viel zu erzählen, die Freunde haben sich lange nicht gesehen. Schließlich erleichtert Beaky sein Herz, indem er von Hanna berichtet, das er vom Heroin wegkommen will und das er Angst hat, sein Chef Puvogel könnte ihm K.O.-Tropfen untergejubelt haben und dann irgendwelche perverse Sachen mit ihm angestellt haben: “Er hat Fotos von mir gemacht, schweinische Sachen und dann hat er mich gewürgt, glaube ich.” Obwohl Professor Philippus die Striemen am Hals für normal hielt, sagt ihm sein Bauchgefühl, das rote Mal stammt vom zwielichtigen Kunsthändler. Das erklärt er dem “Doktor”, der nickt und murmelt: “Der fiesen Sau würde ich alles zutrauen. Verprügeln sollten wir ihn, den dreckigen Motherfucker!” In diesem Moment fliegt die Tür zum Nebenzimmer auf und eine hübsche dunkelhaarige Frau in einem Kimono betritt den Raum. Beaky traut seinen Augen nicht, kann es sein, das es die gleiche Person ist, die er beim Professor durch die Scheibe gesehen und über die Lautsprecher gehört hatte? Als sie den Mund aufmacht und spricht, weiß er, sie ist es! “Der Chef deiner, der Perverse, er ist ein Würgeengel. Er steht auf Ersticken-Spiele.” Susanna hatte offensichtlich die ganze Zeit mitgehört. “Doktor” bemüht sich das Gespräch wieder an sich zu reißen: “Das ist mein guter alter Freund Beaky. Wir haben schon einiges zusammen gedreht.” Dabei zwinkert er lustig. Dann steht er auf und stellt Beaky mit einer großen Geste seine Freundin vor: “Und das ist meine große Liebe, Schuschanna!”, wobei er einen dritten Stuhl nimmt und ihn für Susanna bereitstellt.
Danach kommt das Gespräch ins Stocken, Doktor beginnt mit einem Taschenmesser Pulver in drei Häufchen zu teilen. Beaky braucht nicht zu überlegen, er würde nichts von dem Heroin nehmen und das teilt er Doktor mit, vielleicht etwas unfreundlich. Aber “Doktor” überspielt die Situation mit einem lässigen, “Wer nicht will, der hat schon.” Dann reicht er Susanna einen abgeschnittenen Strohhalm, sie zieht ein Häufchen in die Nase, dann folgt “Doktor” ihrem Beispiel.

“Doktor” bietet Zigaretten an, Ernte 23, alle nehmen und rauchen. Dann muss Beaky endlich nachfragen, was ihn dringend beschäftigt: “Was meinst du mit Würgeengel?”
Susanna erhebt sich, geht zum Ausguss und macht den Kaltwasserhahn an. Sie lässt sich ein Glas einlaufen, kommt an den Tisch zurück, trinkt und räuspert sich. “Das ist eine Sexspiel. Hatte mal eine Kollegin in Budapest, die hat mir erklärt. Du drückst Hals zu bei Sex, soll sehr starke Gefühl sein. Kannst Du machen allein oder mit Partner. Manche sind ganz wild dafür, dein Chef wohl auch einer. Ist sehr gefährlich, schon Leute sterben daran.” Beaky schaut Susanna ungläubig an, während “Doktor” kleine Stanniolbriefchen mit Pulver füllt und dann mit der Federwaage auswiegt. Susanna drückt ihre Zigarette aus und verkündet: “Ich muss mich machen fertig. Jemand muss ja arbeiten gehen in diese Haus.” Dem entgegnet Doktor milde: “Was ich hier mache ist also keine Arbeit?”, während er auf die Utensilien vor sich auf dem Tisch deutet, “kannst froh sein, dass ich mich darum kümmere. Sonst wär kein Dope im Haus. Und das möchtest du doch nicht, Liebling.” Susanna zieht die Stirn kraus und verschwindet im Schlafzimmer. Als sie eine Viertelstunde später die Wohnung verlässt und sich verabschiedet, schauen die Männer kaum hoch. Inzwischen sprechen sie über Beakys Plan. Ein anderer Freund, wie ich zum Beispiel, hätte wohl das Waghalsige und die Gefährlichkeit des Vorhabens gewürdigt und ein Wort der Warnung gesprochen. Aber der “Doktor” ist nicht so, er liebt das Risiko und wo Beaky noch Bedenken hat, ist “Doktor” bereits vom Erfolg der Sache überzeugt.

-Wird fortgesetzt-

Die Illustration hat dankenswerterweise Rainer Jacob gezeichnet. Mehr von Rainer: http://www.rainerjacob.com

Text von “Downtown”:
http://www.absolutelyrics.com/lyrics/view/petula_clark/downtown

In diesem fantastischen Artikel erzählt Robert Buskin die Geschichte des Megahits von Petula Clark. Außerdem gibt er einen schönen Einblick in die Studioarbeit der 60er Jahre, besonders in den Pye Studios, wo noch unbekannte Größen wie Jimmy Page oder John McLaughlin sich ein Zubrot als Studiomusiker verdienen. Damals wurde bei Einspielungen noch ein Riesenaufwand getrieben. Neben einer Beat-Combo nahm man, mit vielen Dutzend Mikrofonen, ein komplettes Orchester auf, mit Streichern, Blech- und Holzbläsern, sowie Keyboards und Backgroundchor. Über ein 4-Spur Neumann-Pult zeichnete man auf einem 4-Spur Ampex-Rekorder auf. 1999 sagt Petula Clark: “We had no idea we were recording a monster. You never do.”
http://www.soundonsound.com/sos/jan12/articles/classic-tracks-0112.htm

 “Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.Das achte Kapitel trägt den Titel “Cold Turkey” und ist bereits erschienen:

Familienportrait – “Cold Turkey” / Die Legende von Xanadu Kapitel Acht / 1973 / von Marcus Kluge

   

Familienportrait – „Die Spinne und die Fliege“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Zehn / 1973 / von Marcus Kluge

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Petra Porlock hatte eine Gabe. Sie konnte in Menschen lesen, wie andere in einem Buch. Mit jeder ihrer zunächst beiläufig wirkenden Fragen schoss sie einen Faden und mit der Zeit entsponn sie ein Netz. Ein Netz, in dem sich ein Verdächtiger schließlich so hilflos gefangen sah, wie eine Fliege im Netz einer geschickten Spinne. Sie war schon immer klug und findig gewesen, aber erst als sie anfing für die Kriminalpolizei zu arbeiten, zeigte sich die Gabe. Sie erhielt diese Gabe nicht umsonst, so wie man für alles im Leben zahlen muss, so zahlte auch Petra einen Preis dafür. Einen hohen Preis. Eigentlich wollte sie Anwältin werden, während ihres Studiums in den 50er Jahren hat sie als Mannequin gejobbt und dabei ihren Ehemann, den englischen Modefotografen Sam Porlock, kennengelernt. Dann passierte ein Verbrechen, das ihr Leben auf den Kopf stellte. Ihre beste Freundin wurde entführt, vergewaltigt und ermordet, es war ein grausames, sinnloses und ekelhaftes Verbrechen. Die Polizei brauchte fast zwei Jahre um die Tat aufzuklären und den Mörder vor Gericht zu stellen. Petra verfolgte jedes Detail und sie entschloss sich endlich selbst zur Kriminalpolizei zu gehen.

Sie wurde die erste Frau, die in der Mordkommision Keithstraße selbstständig Fälle aufklären durfte. Zunächst hatten sie ihre männlichen Kollegen mit einer gewissen Abschätzigkeit behandelt, doch dann mussten sie feststellen, dass die Kollegin gut war und eine hohe Aufklärungsrate hatte. Nun wurde sie respektiert, aber sie blieb ein attraktiver Fremdkörper mit ihrer auffälligen Afro-Frisur, ihren Miniröcken, High-Heels und der Vergangenheit als Fotomodell. Wenn die älteren Kollegen bei einem Bier zusammensaßen fiel schon mal ein abfälliger Spitzname für sie. Heimlich warteten einige wohl doch, dass sie einen Fall so richtig in den Sand setzte. Der Chef übertrug ihr knifflige, heikle Fälle, auch weil sie mehr Fingerspitzengefühl besaß, als die meisten ihrer männlichen Kollegen. Besonders Verdächtige aus den sogenannten “besseren Kreisen” fasste sie mit Seidenhandschuhen an, während sie mit weniger Privilegierten auch ruppig umspringen konnte.
Obwohl sie überqualifiziert war, hatte man sie gern genommen, sie konnte sich gut darstellen und ihre Motivation war offensichtlich. Erst wurde sie bei der Sitte eingesetzt, dann wechselte sie ins Rauschgiftdezernat und schließlich erfüllte sich ihr Herzenswunsch, sie durfte Morde aufklären. Erst hier blühte ihr kriminologisches Talent voll auf. Wenn sie gegen einen Verdächtigen ermittelte, biss sie sich förmlich fest und fast immer bekam sie ein Geständnis oder es gelang ihr eine wasserdichte Indizienkette aufzubauen. Als eines Morgens der Galerist Ingomar von Puvogel erwürgt und halbtot gefunden wurde, musste ihr Chef nicht lange nachdenken. Der zwielichtige Puvogel war der Polizei als Drogenhändler der feineren Gesellschaft bekannt und man ging von einem Fremdverschulden aus. Es gab also reichlich Porzellan zu zerschlagen.
Eigentlich hatte Petra Porlock einen Urlaubstag, doch als sie von einem ausgedehnten Spaziergang mit ihrem Hund zurückkam, klingelte das Telefon, der Auftragsdienst teilte ihr mit, dass sie gebraucht wurde. 45 Minuten später hielt sie mit ihrem kleinen Sportwagen vor der Galerie Puvogel in der Schlüterstraße.

Hannas Korb hat Beaky niedergeschmettert, er war froh, dass er einen Termin bei seinem Psychiater Prof. Philippus hatte. Er redete nicht lange drumherum: “Ja, ich bin froh das Pulver los zu sein. Aber ich fühle mich so traurig, nicht nur wegen Hanna, die Droge fehlt mir. Mit ihr hatte ich immer ein warmes ruhiges Gefühl im ganzen Körper. Wie kommt das, wieso fehlt mir etwas, was andere Leute haben? Ich denke manchmal ich bin falsch auf dieser Welt.”
“Also der Einzige sind sie bei weitem nicht. Viele Menschen fühlen sich entfremdet und insuffizient. Sehen sie, Beaky, unsere Geschichte beginnt ja nicht mit der Geburt. Sie beginnt viel früher. Wir leben in einer materialistisch geprägten Zeit. Auch wenn Karl Marx umstritten ist, in einem ist man sich einig, der Mensch sei ein Produkt seiner Umwelt. Das mag ja nicht falsch sein, ist aber nur die halbe Wahrheit. Meinen Kollegen Rattner und Richter darf ich damit wahrscheinlich nicht kommen, für die ist das Soziale allein maßgebend. Das Hereditäre, das Erbliche, können sie nicht beweisen, deshalb spielt es für sie keine Rolle. Ich glaube aber auch an Dinge, die ich nicht im Labor studieren kann. Ich will sicher keine Geister beschwören, doch hat Shakespeare Recht, es gibt mehr, als uns die Schulweisheit lehrt. Lassen sie sich das von einem alten Mann sagen. Denn wir bekommen auch die Erfahrungen unserer Vorfahren mit ihren Genen aufgebürdet zusätzlich zum sozialen Einfluss von sagen wir, Großeltern und Eltern. Ihr Vater war doch im Krieg. Wo war er denn und wann kam er heim?”
Beaky räuspert sich: “Meist wohl in der Osten und dann drei Jahre in Gefangenschaft in Sibirien. Aber er redet ja nicht viel.”
“Die Heimkehrer schweigen meistens, sie versuchen die fuchtbaren Erinnerungen zu vergessen, was nicht funktioniert. Ihr Vater hat diese acht Jahre, das Elend, das Grauen, Hunger und Kälte mit seinem Erbgut an sie weitergereicht, behaupte ich mal. Sagten sie nicht, er wurde auch verletzt?”
“Ja, am Knie.”
“Kommt ihnen das nicht merkwürdig vor, das sie schon als Kind ein kaputtes Knie hatten?”
Auf die rhetorische Frage antwortet Beaky nicht, eine Gedanke steigt wie eine Luftblase in ihm auf: „Dann ist mein Drang zu Drogen auch vererbt, Herr Doktor?“
„Ganz so einfach wollen wir es uns nicht machen. Selbst wenn da ein Hauch Wahrheit dran ist, müssen wir schon an dem arbeiten, was die Asiaten Karma nennen. Für sie als jungem Mann sollten Liebe und die Arbeit wichtiger sein, als solche Substanzen. Der liebe Gott hat sich bestimmt was gedacht und das waren sicher nicht die Hippies. Nein, seine Apotheke hat er für Kranke und Alte gemacht. Meiden sie die Drogen, bis ihr Leben mehr Stabilität hat, oder noch besser bis sie alt und krank sind.“
„Oft fühle ich mich leer und ich kann nichts mit mir anfangen. Ich freue mich einfach über nichts und was ich will, kann ich nicht kriegen.“
„Diese Entfremdung, die sie empfinden, ist wohl eine Folge unserer modernen Lebensweise. Alles ist auf Schnelligkeit und Effektivität gepolt, für Muße bleibt kein Platz. Ja das ist ein Problem. Ihre Generation ist mir sympathisch, mit ihrer Suche nach Spiritualität. Nur der Weg ist zweifelhaft, auch hier soll nun die Materie Abhilfe schaffen. Die Substanzen, die Drogen sollen für Bewusstseinserweiterung sorgen. Meditation, ja vielleicht, das könnte klappen. Aber die besten bewusstseinserweiternden Drogen sind Arbeit und Liebe. Wenn wir arbeiten machen wir Erfahrungen, die wir nirgendwo sonst machen können. Mit der Liebe ist es ähnlich, nur wenn wir den Anderen wirklich einmal mehr lieben, als uns selbst, ist das eine ungeheuer bedeutende Bewusstseinserweiterung, die Erkenntnis, das wir nicht das Zentrum des Universums sind. Wenn sie eine gute Arbeit gefunden haben und eine Liebesbeziehung wird die Leere weichen, glauben sie mir. Geben sie nicht auf.“
„Aber können sie mir nicht etwas geben, was mir jetzt hilft? Ich habe Angst vor einem Rückfall.“
Der Psychiater schrieb ein Rezept aus und reichte es Beaky: „Aber erwarten sie nicht zuviel. Sie werden schnell eine angstlösende, beruhigende Wirkung feststellen, aber die eigentliche antidepressive Kraft baut sich erst in einigen Wochen auf. Diese trizyklischen Antidepressiva benutzt man schon seit vielen Jahren, anfängliche Nebenwirkungen vergehen bald, Alles Gute, Beaky und verzeihen sie, dass ich soviel von ihrer Zeit beansprucht habe.“

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Schon von weitem konnte Beaky die verschiedenen Polizeiwagen vor der Galerie Puvogel stehen sehen und er lief langsamer. Wieso waren das so viele? Da musste noch anderes passiert sein, etwas das nichts mit ihm zutun hatte. Beakys Schritt wurde etwas weniger zögerlich, nun war es ehe zu spät umzukehren, außerdem würde er sich verdächtig machen, wenn er heute nicht zur Arbeit käme. Eine hübsche Frau mit einer Afro-Frisur stand vor dem Geschäft und beobachtete ihn.
„Mein Name ist Petra Porlock von der Mordkommission. Wenn ich richtig informiert bin, sind sie der Herr Becker.“ Sie reichte Beaky die Hand und lächelte ihn so strahlend an, wie es die Umstände erlaubten. Sie machte eine einladende Geste: „Treten sie doch ein in die gute Stube.“
Beaky stutzte etwas über diese seltsame Formulierung, überhaupt war das eine seltsame Polizistin. Er betrat die Galerie, in der mehrere Männer Spuren sicherten. Petra bot ihm einen Stuhl und er bemühte sich zu antworten.
„Ja, Frieder Becker ist mein Name. Ich arbeite hier. Was ist denn passiert und wo ist Herr von Puvogel?“
„Also, die schlechte Nachricht ist, jemand hat versucht ihren Chef umzubringen, aber was genau passiert ist, da dachte ich, könnten sie mir helfen.“
„Nein, ich habe keine Ahnung. Wie geht es ihm denn?“
„Der Herr von Puvogel ist lebensgefährlich verletzt, er hat Ligaturen am Hals, also jemand hat versucht ihn zu erwürgen. Er liegt im Koma, mehr weiß ich auch nicht. Aber sie wissen doch von dem Einbruch, Herr Becker?“
Beaky schüttelte möglichst überzeugend den Kopf, obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, längst durchschaut worden zu sein. Die Kriminalistin nickte andächtig, während sie ihre nächste Frage formulierte: „Sie haben ihrem Chef auch Modell gestanden, oder?“
Beaky hielt es für besser erst einmal alles abzustreiten: „Nicht das ich wüsste.“ Wenn Beaky das Mienenspiel der Polizistin verfolgt hätte, wäre ihm als Reaktion darauf ein kleines Lächeln aufgefallen, aber er hatte genug damit zu tun, seine eigene Miene unter Kontrolle zu halten.
„Ich denke, das wars schon, erstmal. Ihre Adresse habe ich, ja, sie sind entlassen, Herr Becker.“
Beaky war froh, das Verhör so schnell hinter sich gebracht zu haben, er winkte kurz zum Abschied und verlies mit schnellen Schritten die Galerie. Allerdings kam er nicht weit, Petras Stimme rief ihn noch einmal zurück: „Ich vergaß, ihre Fingerabdrücke wollten wir noch machen. Es ist ihnen sicher recht, wenn wir das gleich hier machen und sie nicht extra in die Keithstraße müssen.“
Beaky fragte ängstlich: „Aber wieso denn?“
Petra Porlock klopfte ihm stärkend auf die Schulter und erklärte dann, vielleicht ein wenig zu munter: „Routine, nichts als Routine. Sie brauchen sich gar keine Sorgen zu machen.“

Diese letzte Bemerkung von Petra Porlock hatte keine entlastende Wirkung auf Beaky, im Gegenteil, er macht sich Sorgen, große Sorgen. Sie würden ihm vielleicht einen Mordversuch anhängen. Nein, Puvogel hatte sich wahrscheinlich selbst aus Versehen erhängt bei seinen Spielchen. Das würde er der Kommissarin erklären und das Bild und die 10 000 DM könnte er zurückgeben, dann käme er mit einem blauen Auge davon, hoffentlich. Er machte sich auf den Weg zu Susanna und dem Doc. Er schaute sich um, sie würden ihn doch nicht verfolgen, oder?

Susanna öffnete ihm die Tür, sie trug einen Kimono und sah verheult aus: „Ach du, Beaky.“
„Hallo Susanna, sag mal ist der Doktor da?“
„Der Höllenhund mich verlassen hat, weg ist dein Freund“, wieder schossen ihr Tränen in die Augen und sie schluchzte. Beaky verstand nicht: „Wie weg?“
„Hat genommen die 10 000 Mark und ist gegangen, wo Pfeffer wächst. Er hat uns beide be-trogen, du Dummkopf.“
Nachdem sich Susanna etwas beruhigt hatte, erzählte sie, am Morgen hätte sie einen Zettel gefunden. Der Doktor müsse „Geschäfte erledigen“. Das Geld würde er „demnächst zurückgeben“, was Susanna aber nicht glauben konnte. Beaky beschwor Susanna, nicht alle Hoffnung in den Doc aufzugeben, dabei zweifelte er innerlich ganz erheblich an der Vertrauenswürdigkeit seines alten Freundes. Schon einmal war er durch ihn die Fänge der Polizei geraten und was Frauen anging war der Doc ein lebendes Beispiel für Untreue.

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Bevor er sich auf sein Bett legte, suchte er eine zu seiner Stimmung passende Platte und legte „Out of Our Heads“ auf, die US-Version des Stones-Albums aus dem Jahr 1965, auf der die B-Seite mit „Satisfaction“ beginnt. „I Can’t Get No Satisfaction“ schien ihm passend zu sein. Damals war Jagger noch richtig gut, in seiner britischen Version eines Blues-Shouters. Damals war er noch nicht dieser androgyne Clown, ein eitles Abziehbild seines aufgeblasenen Egos. Aber bald spukten wieder die Ereignisse der letzten Tage durch sein Hirn und er hing seinen meist trüben Gedanken nach. Erst beim fünften Song „The Spider and the Fly“ hörte er genauer hin, bisher hatte er immer den Sänger für die Spinne gehalten, jetzt kam ihm in den Sinn, das die Blondine nicht die Fliege war, sondern der Sänger selbst die Beute darstellen konnte.

„She was common, flirty, she looked about thirty
I would have run away but I was on my own
She told me later she’s a machine operator
She said she liked the way I held the microphone
I said my, my, like the spider to the fly
Jump right ahead in my web.“

Am nächsten Morgen, genau um 6 Uhr 30 klopfte es laut an der Wohnungstür der Beckers. Beakys Mutter war schon wach und konnte gerade noch verhindern, dass die Polizei die Tür eintrat. Petra Porlock zeigte ihr einen Durchsuchungsbefehl und ein halbes Dutznd zivile und uniformierte Beamte betraten die Wohnung. Sie beschlagnahmten den Koffer mit dem Gemälde, Beakys Drogen und Zubehör, sowie alle 100-Mark-Scheine, die sie finden konnten. Beaky musste sich in Anwesenheit eines Polizisten anziehen. Um kurz nach sieben trat Beaky aus der Haustür, er war jetzt mit Handschellen an Frau Porlock gefesselt. Petra machte das immer so, sie glaubte, es stelle eine spezielle Beziehung zwischen sich und dem Verdächtigen her.
Im Polizeigebäude in der Keithstraße fesselte ihn die Polizistin an eine Holzbank und er musste warten. Dieses Warten im Gang kam ihm wie Stunden vor, das einzige was er tun konnte, war ab und zu eine Zigarette zu rauchen. Er hatte schnell noch den Gedichtband von Colerigde eingesteckt, aber darauf konnte er sich unmöglich konzentrieren. So überlegte er immer wieder, was er auf mögliche Fragen antworten würde. Dabei schaute er sich auf dem riesigen, stillen Gang um, jedesmal wenn eine der Türen aufging hörte er höllischen Lärm aus den Großbüros, in denen Dutzende von Sekretärinnen auf Schreibmaschinen eintippten. Es roch nach Linoleum und Putzmittel, fast wie in der Schule. Vielleicht war es das neue Medikament, das ihm Professor Philippus verschrieben hatte, oder es war die kurze Nacht, die nun ihren Tribut forderte, aber er schlief ein und sofort begann er zu träumen. Er stand vor Hannas Wohnungstür und klopfte, eine Frau öffnete ihm, doch es war nicht Hanna, es war Petra Porlock: „Treten sie ein in meine gute Stube!“

wird fortgesetzt –

„The Spider and the Fly“ haben die Rolling Stones am 13. Mai 1965 in den RCA-Studios in Hollywood aufgenommen. Es bezieht sich auf Mary Howitts gleichnamiges Gedicht von 1929, das den meisten Engländern bekannt ist. Über den Song:
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Spider_and_the_Fly_%28song%29

Über das Gedicht von Mary Howitt:
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Spider_and_the_Fly_%28poem%29

Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet. Mehr von Rainer:
http://about.me/rainer.jacob

Das nächste Kapitel heißt “Das Brennen” und ist bereits erschienen: https://marcuskluge.wordpress.com/2014/07/13/familienportrait-das-brennen-die-legende-von-xanadu-kapitel-elf-1973-von-marcus-kluge/

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

 

Familienportrait – „Maskerade“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Sechs / 1973 / von Marcus Kluge

Es ist ein Montagmorgen als das Unheil passiert. Sechs Wochen sind sie nun zusammen, alles scheint wunderschön, sie sind verliebt und Probleme hat es bisher nicht gegeben. Beaky fühlt sich selbstsicher, er ist von innerer Ruhe erfüllt, er stottert nicht und wird nicht rot. Beaky nimmt immer noch heimlich kleine Mengen Heroin, das Schnupfen hinterläßt ja keine Spuren. Weder sieht man Einstiche auf der Haut, noch die typischen Stecknadelpupillen oder das blasse Gesicht, das die Stoffwechselveränderung bei Fixern verursacht und weshalb sie für den Kundigen so leicht zu identifizieren sind. Er glaubt fest, wenn er das Pulver aufgebe, würde er die Maske aus Selbstsicherheit verlieren und sein Glück würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Er realisiert nicht, auf wie dünnem Eis er tanzt, die euphorisierende Wirkung der Droge hilft ihm die Einbruchsgefahr fast perfekt zu verdrängen. Nur wenn er unterwegs ist, um Drogen zu holen oder zu verkaufen, kommen ihm solche Gedanken vom Scheitern seiner Liebe zu Hanna. Dann schnupft er auf der nächsten Toilette ein kleines Häufchen Pulver und im Handumdrehen sind die Sorgen und die belastenden Selbstvorwürfe im Kopf verschwunden. An diesem Morgen hat Beaky vergessen das Badezimmer abzuschließen und als er eben dabei ist, die hellbraune Substanz ins Nasenloch hochzuziehen, betritt Hanna den Raum und erwischt ihn. Sie ist sauer, stocksauer. Ohne sich seine Entschuldigungen anzuhören, wirft sie ihn aus ihrer Wohnung. Beaky steht wie ein begossener Pudel auf der Treppe, als die Wohnungstür noch einmal kurz aufgeht und Hanna seine Wildlederjacke auf ihn pfeffert.

Wir alle haben unsere Schwächen. Die kleineren, wie etwa die Essanfälle, die uns nächtens vor den Kühlschrank treiben oder die Ausreden, mit denen wir uns vor uns selbst entschuldigen, weil wir wieder nicht Sport gemacht haben. Und es gibt die etwas bedeutenderen, wie die Beerdignug eines Bekannten, zu der wir nicht gegangen sind, weil wir am Abend vorher gefeiert haben oder die Hilfe, die wir zugesagt und doch nicht gegeben haben. Falls sie diese nicht kennen, stellen sie sich etwas Anderes vor, das ihnen bekannt ist. Lassen sie sich nicht täuschen, jeder hat Schwächen, auch wenn manche Mitmenschen wie Heilige wirken. Ob wir diese Entscheidungen aus freiem Willen oder eher nach unseren Instinkten und heimlichen Wünschen treffen, was wohl ganz überwiegend der Fall ist, soll uns nicht weiter beschäftigen. Besonders wenn Freunde beteiligt sind, die wir im Stich gelassen haben, neigen wir dazu uns schuldig zu fühlen. Denn die Verantwortung übernehmen wir dann. Es sei denn wir gehören zur privilegierten Klasse der Soziopathen, denen diese Last genommen wurde, weil ihnen Gewissen, Empathie und soziales Mitempfinden fehlen. Ich jedenfalls, ich hatte einen solchen Moment der Schwäche, als Ende Juni gegen Mitternacht Beaky ins Tolstefanz kam, um mich um Hilfe zu bitten. Und als ich Anfang August zurück kam aus meinem Urlaub und erfuhr, welchen tragischen Verlauf die Dinge genommen hatten, senkte sich mein schlechtes Gewissen, wie ein engmaschiges Netz auf mich nieder und ich brauchte lange, um mich wieder davon zu befreien.

Das Ur-Tolstefanz hatte sein Domizil in der Sächsischen Straße, nicht weit von der Pariser Straße entfernt, in einem großen Eckladen. Die Discothek war jeden Abend voll, Studenten, Langhaarige, hübsche Mädchen, die tanzen wollten und ein paar Jet-Setter, oder Gäste, die sich dafür hielten. Meine Freundin Ilona hatte mir den D.J.-Job besorgt, sie arbeitete schon länger am Tresen und schwärmte dem Chef von meiner Musikbegeisterung und meiner Plattensammlung vor, bis der mich engagierte. Die Arbeit war ideal für mich, ich wurde nur selten angequatscht, was meiner Menschenscheu zugute kam und das Platten auflegen machte mir wirklich Spaß. Ich fing um neun Uhr an und gegen vier kam Karlo, ich glaube so wurde er genannt, und drückte mir 60.- D-Mark in die Hand, manchmal mehr. Das war viel für mich, natürlich verdiente Ilona besser, schon weil sie großzügige Trinkgelder bekam.

In dieser Nacht, ich glaube es war die Nacht zum 27.Juni 1973, blendete ich eben von den Doors auf die Rolling Stones über. Nach „L.A. Woman“ blieben meist alle Tänzer dabei, um ihr Mitleid mit dem Teufel zu bekunden: „Sympathy for the Devil“. Heikler als diese Blende waren die Wechsel von Rock zu schwarzer Musik, aber Karlo wollte das so haben. Wenn dabei Tänzer ausstiegen, war ihm das Recht, sie sollten ja auch Drinks kaufen. Außerdem wollte er nicht zuviele schwarze Gäste im Tolstefanz haben, genausowenig, wie er nicht zuviele “Rocker” in seinem Laden sehen wollte. Also spielte ich seiner Ansage folgend, zu einer Hälfte Rock und zur anderen „The Sound of Philadelphia“, ein gerade sehr beliebtes Genre des Soul, das der Spiegel damals in einer Titelstory zur Leit-Musik der 70er Jahre erklärt hatte. Die Prophezeiung war ja richtig, nur bezeichnete man diesen Stil später mit dem umfassenderen Begriff „Disco“. Als die ersten Tänzer in den berühmten Background-Chor des Stones-Songs einstimmten, „Huh Huh“, „Huh Huh“, stand Beaky vor mir und es war klar, dass es ihm übel ging.

Ich stellte meine Monitorboxen leiser und Beaky fing unvermittelt an, auf mich einzureden: „Marcus, du musst mir helfen, es geht um Hanna!“, das wäre auch mein erster Gedanke gewesen. „Sie hat mich erwischt, beim Pulver ziehen und jetzt will sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich liebe sie und ich muss irgendwas tun, um sie zurückzugewinnen.“

“Vielleicht hättest du dir das früher überlegen sollen. Dass Hanna da ihre Grundsätze hat, wird dir doch klar gewesen sein“, war meine weder originelle noch empathische Antwort und wirklich Mitleid hatte ich auch nicht. In diesem Moment war ich es leid, immer wieder der Notnagel für Beaky zu sein und ich wusste auch wirklich nicht, wie ich ihm helfen sollte. Schließlich war heute Nacht meine letzte Schicht vor dem Frankreich-Urlaub. Zwei Tage später würde ich schon in Paris sein, zum ersten Mal Paris, ich freute mich sehr darauf. Mir fiel nichts anderes ein, als ihm den Rat zu geben, einen Entzug zu machen und wenn er die schlimmen Tage überstanden hatte, zu ihr zu gehen und sie um Verzeihung zu bitten. Dann holte ich zwei Pils, trank mit ihm, quatschte ein bißchen über Musik und die Anlage hier im Laden, aber ich merkte das er in Gedanken woanders war. Ja. Natürlich war er das. Also schickte ich ihn nachhause mit dem strengen Befehl, am morgigen Tag mit dem Entzug anzufangen. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre mir klar gewesen, dass er, so ganz alleine einen „cold turkey“ nicht durchhalten würde. Ohne ein die Entzugserscheinungen milderndes Medikament und ohne „soziale“ Unterstützung würde er nicht durchhalten. Wenn am zweiten oder dritten Tag, die Schmerzen und die depressiven Gedanken unerträglich würden, hätte er wohl nicht die Kraft abstinent zu bleiben. Außerdem kannte er genug Leute, die ihm sogar ohne Bares, das eine oder andere Pulver auf „Kommi“ geben würden. Also “Kommission”, was bedeutete “auf Kredit”, dann würde er wieder verkaufen müssen und wäre drin im Teufelskreis aus Konsumieren, Dealen und wieder Konsumieren. Aber soweit wollte ich in jener Nacht nicht denken und manchmal mutmaße ich, wenn ich mich anders, hilfsbereiter, verhalten hätte, wäre es nicht zu der unglücklichen Verkettung von Ereignissen gekommen, die auf diese Nacht folgte, während ich in Frankreich war, weit weg von deren Schauplatz.

Beaky fing am nächsten Tag nicht an, das Heroin zu entziehen. Er war sich sicher, er könne auf Entzug nicht arbeiten gehen und nachdem er schon seine Freundin verloren hatte, wollte er wenigstens an seinem Job festhalten. Auf die naheliegende Idee zum Arzt zu gehen kommt er zwar, aber zu dem alten Hausarzt mit den Schmissen will er nicht und einen anderen kennt er nicht. Also steht er um elf auf, zerkleinert eine Prise Heroin mit einer 50 Pfennig-Münze und saugt das Häufchen mit einem zusammengerollten 20 D-Mark-Schein in sein rechtes Nasenloch. Der Versuchung seinem linken Nasenloch die gleiche Behandlung zukommen zu lassen, widersteht er. Es reicht aber auch, augenblicklich sind seine trüben Gedanken verschwunden, er duscht, zieht ein sauberes hellblaues Batik-T-Shirt an und macht sich auf den Weg zu Ingomar von Puvogels Antik-Galerie in der Schlüterstraße.

Der Antiquitätenhändler ist sehr verständnisvoll und gibt sich empathisch, als Beaky ihm von Hannas Entscheidung, die Beziehung zu beenden, erzählt. “Complètement desolé”, sei er, “betrübt” also. Und: “Ja ja, die Frauen, unberechenbar seien sie.” Beaky ist froh, von seinem Chef verstanden zu werden und kommt nicht auf die Idee, dass Puvogel diese Situation zu seinem Vorteil ausnützen könnte. Denn eben darüber denkt der undurchsichtige Herr mit dem Bärtchen nach. Er ist bereits dabei, in seiner Vorstellung einen Plan zu schmieden.
“Vielleicht kann ich sie etwas ablenken, Frieder. Sie lesen doch gern und sie mögen Bücher. Haben sie schon mal von Karl Grünberg gehört? Das war ein kommunistischer Schriftsteller.” Beaky zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
“1928 hat er Brennende Ruhr veröffentlicht, ein Roman über den Ruhraufstand, das war eine Arbeitererhebung gegen den reaktionären Kapp-Putsch”, dozierte Puvogel. “Thomas Mann hat das Buch geschätzt, erstaunlicherweise”, nun schüttelte Puvogel sein pomadisiertes Haupt über den großbürgerlichen Romancier, der Gutes über den “Asphaltliteraten” Grünberg geschrieben hatte. Beaky hatte Mühe den Ausführungen seines Chefs zu folgen. Worauf wollte Puvogel denn hinaus?
“Grünberg ist letztes Jahr gestorben. Ich hatte das Glück, mir einen Teil seines Nachlasses zu sichern, fast seine ganze Bibliothek.”
“Ach, Bücher”, bemerkte Frieder überflüssigerweise.
“Ja, mein lieber Frieder. Bücher, habent sua fata libelli. Sie haben ihr Schicksal, die Bücher”, er nickte.
“Um sie ein wenig aufzubauen, werde ich ihnen einige Doubletten überlassen, Was halten sie davon?” Davon hielt Frieder, der lieber Beaky genannt werden wollte, viel.

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Am gleichen Abend klingelte Beaky an der Tür von Puvogels Privatwohnung in der Fasanenstraße. Er war noch nie dort gewesen und bewunderte die Villa aus dem 19. Jahrhundert. Man sah noch Schäden aus dem 2. Weltkrieg, sodass eine Anmutung von Ruine das Bauwerk umgab, verstärkt noch durch die Dämmerung wirkte es düster und geheimnisvoll auf den jungen Mann. Sein Chef öffnete, im Anzug wie immer, allerdings hatte er statt einer Krawatte ein blau-goldenes Seidentuch um den Hals. Puvogel führte ihn in einen großzügigen Wohnraum, der von einem Konzertflügel dominiert wurde. Sonst bestand die Einrichtung aus einer seltsamen Mischung von schlichten Bauhaus-Möbeln und eher verspielten Jugendstil-Lampen und anderen Accessoires aus dem fin de siécle. Ja, Beaky stellte stolz fest, dass er schon einiges über Antiquitäten gelernt hatte in den letzten Monaten. An den Wänden hingen, neben venezianischen Masken, Grafiken, die er wegen ihrer reichen Ornamentik auch dem Jugendstil zuordnen konnte, dennoch hatte er dergleichen noch nie gesehen. Einige davon waren geradezu pornografisch.
“Aubrey Beardsley. Ein genialer englischer Zeichner und Illustrator, der leider nur 25 Jahre alt wurde. Er starb fast so früh wie heute die Pop-Sänger, nur waren es bei ihm nicht die Drogen, er hatte Tuberkulose.” Beaky überlegte, ob die Anspielung ihm gegolten hatte, Puvogel wusste von seinen Drogenproblemen, aber er wischte den Gedanken zur Seite.
Der Ältere hofierte den Jungen in eine Sitzecke, wo mehrere Barcelona-Sessel um einen flachen Glastisch gruppiert waren. Auf dem Tisch stapelten sich schon einige Bücher. Puvogel entschuldigte sich, um weitere “Doubletten”, wie er sagte, zu holen und der junge Mann verspürte einen plötzlichen Drang der Natur. Auf dem Flur irrte er umher und öffnete eine Tür, dahinter befand sich so etwas wie ein Fotostudio. Seltsam, er wusste gar nicht, dass Puvogel diesem Hobby frönte. Inmitten einiger Scheinwerfer ruhte eine Art Chaiselongue vor einer goldfarbenen Tapete, daneben auf einem Podest stand die Statue eines nackten jungen Mannes, dessen bäuerlich wulstige Stirn nicht so recht zu dem sonst eher filigranen Körper passen wollte.
“Curiosity killed the cat!”, hörte Beaky seinen Arbeitgeber rezitieren. “Nicht jede Tür im Leben sollte man öffnen, geschätzter Freund.”
Nachdem er sich erleichtert hatte, wurde er von Puvogel auf einem der Sessel platziert und hörte dann den Erläuterungen über die meist dicken, gebundenen Bücher vor sich zu. Puvogel empfahl ihm Thomas und Heinrich Mann, Frieder war froh bei Thomas Mann etwas mitreden zu können. Nachdem er ihm einige Klassiker wie Dante, Rabelais und eine dreibändige Casanova-Ausgabe ans Herz legte, stand Puvogel auf, um eine “Erfrischung” zu holen. Frieder schwirrte der Kopf.

Heutzutage kennen wir die entlegensten Single Malt Whiskies, die aus kleinen Destillerien in gutsortierte Fachgeschäfte geliefert werden, aber in den 70er Jahren war, zumindest in Deutschland, der Scotch der Wahl “Chivas Regal”. Der Romancier der Edel-Kolportage, Johannes Mario Simmel hatte diesem schottischen Destillat 1971 in “Der Stoff aus dem die Träume sind” ein Denkmal gesetzt. Auch Frieder hatte davon gehört, unter anderem von seinem Vater, der Chivas als teuersten Schnaps auf der Karte seiner Kneipe führte. So kam es, das Frieder, obwohl er nicht scharf auf Alkohol war, unbedingt probieren wollte, als der Galerist eine Flasche des edlen Getränks auf einem Beistelltisch öffnete. Er goss in zwei Whisky-Tumbler je zwei Finger breit von der goldbraunen, öligen Flüssigkeit. Dann bestand er darauf Beaky einen Eiswürfel ins Glas zu tun, dessen Protest ließ er nicht gelten, Chivas trinke man natürlich mit Eis! Mit den Gläsern kam der zwielichtige Kunsthändler zum Tisch zurück und reichte Beaky eines davon.

Der Whisky schmeckt schärfer, als der Jüngere sich das vorgestellt hat. Puvogel erzählt nun von einem Gedichtband, noch einmal reisst Beaky sich zusammen, weil sein Chef das legendäre “Xanadu” erwähnt. Samuel Taylor Coleridge habe ein Gedicht darüber geschrieben, “Kubla Khan”. Es solle Coleridge, wie eine Vision, im Opiumrausch erschienen sein. Das ist das Letzte woran er sich erinnert. Dann wird es dunkel um ihn.

Endlich hat er es geschafft, er ist in Xanadu. Beaky weiß zwar nicht genau, wie er hergekommen ist, mit dem Flugzeug wahrscheinlich. Doch nun ist er hier. Ein bißchen enttäuscht ist er schon, er hätte es sich prächtiger vorgestellt. Wenn er sich umschaut, sieht er vor allem Wüste und Ruinen, besser die Reste von Ruinen. Mauern, die schon vor Jahrhunderten geschleift wurden, abgebrochene Säulen und unter Sand fast verschwundene Fundamente und Wege. Nirgendwo sieht er Menschen, das macht ihn nervös. Er läuft schneller und nach einer Weile sieht er so etwas wie einen Kiosk, an dem man Karten, Reiseführer, Souvenirs und auch Getränke kaufen kann. Im Kiosk steht ein Mann mit blonden, lockigen Haaren, der eine Maske trägt, er erinnert Beaky an Bob Dylan. “Das ganze Zeug wartet nur auf deine Wenigkeit”, sagt Bob Dylan, nickt ihm zu und öffnet die Arme zu einer allumfassenden Geste. Beaky, der eigentlich etwas zu trinken kaufen wollte, wird rot und unsicher. Sein Mund ist staubtrocken, wahrscheinlich die Wüstenluft, sein Hals ist wie zugeschnürt. Jetzt hört er Pferdegetrappel hinter sich, er sieht sich um und erkennt Hanna, die auf einem weißen Pferd auf ihn zu reitet. Sie neigt sich zu ihm nieder und flüstert in sein Ohr: “Komm Beaky, I think it’s time to go.” Dann reicht sie ihm die Hand und zieht ihn auf den Schimmel. Sofort nachdem er sie von hinten umfasst hat, reitet sie los. Er hört eben noch, wie Bob Dylan ruft: “Das wird der reinste Osterspaziergang!” Er wundert sich, dass Bob Dylan deutsch kann. Sie reiten bis sie zu einer Kneipe kommen, sie sieht aus wie das “Zum Schotten” in der Schlüterstraße. “Seltsam”, denkt Beaky und steigt ab. Auch die andere Person steigt vom Pferd und dreht sich um. Er bekommt einen Riesenschrecken als er sieht, das nun Puvogel vor ihm steht. Puvogel dreht im brachial den Arm um und schiebt ihn in die Kneipe, in der ein Fotostudio aufgebaut ist. Der Mann mit dem Schnurrbart zwingt ihn auf die Chaiselongue und nimmt sein Hèrmes-Tuch ab, das er um Beakys Hals legt und ihn damit würgt bis der Junge bewusstlos wird.

Am nächsten Morgen erwacht Beaky mit einem Filmriss, der so groß und breit ist wie eine Hollywood-Verfilmung des alten Testaments: Außerdem hat er höllische Kopfschmerzen und ein äußerst ungutes Bauchgefühl. Wie war der Abend zuende gegangen? Wie war er nach Haus und ins Bett gekommen? Und was war passiert in den Stunden, die ihm fehlen?
Auf dem Küchentisch findet er einen Zettel von seiner Mutter:
“Guten Morgen, Frieder. Dein Chef hat dich gestern heim gebracht, Du warst offensichtlich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Ich mache mir Sorgen. Bin um sieben wieder da, wir müssen reden. Deine Mama.”
Zusätzlich zu seinem Missbefinden, überfällt ihn glühend-heiß sein schlechtes Gewissen, als er den Zettel seiner Mutter liest. Er versucht sich zu sammeln, kocht Kaffee und dreht sich eine Zigarette. Das belebende Getränk und das Nikotin helfen ihm, seine Fassung wieder zu erlangen. Langsam findet er in den Tag. Seine Kehle ist immer noch wie ausgedörrt. Er lässt eben ein Glas kaltes Wasser einlaufen, als es an der Wohnungstür schellt.
“Frieder Becker” steht auf dem Päckchen, Beaky erkennt Hannas Handschrift. Als er beim Gang zurück in die Küche das Päckchen aufreißt, stolpert er über eine Reisetasche. Was ist denn das? Er hat sie noch nie gesehen. In der Küche schüttelt er den Inhalt des Päckchens über den Küchentisch. Es enthält nur zwei Dinge, eine Musikkassette und eine Visitenkarte. Die Karte ist von einem Professor Dr. Amon Philippus, einem Psychiater und Psychotherapeuten in der Uhlandstraße. “Du brauchst Hilfe”, hat Hanna noch dazu geschrieben. Er trinkt das Wasser, mit der Kassette geht Beaky zurück in sein Zimmer und legt sie ein. Dann hört er ein Lied, das er von Hanna kennt. Es ist ihm peinlich eben dieses Lied zu hören, er wird rot, denn der Text trifft ihn exakt an seiner wunden Stelle, dem Schuldgefühl das er hat, weil er die Beziehung in den Sand gesetzt hat, wegen eines kleinen Häufchens Pulver und zum ersten Mal seit seiner Kindheit weint er.

“I’ve seen the needle
and the damage done
A little part of it in everyone
But every junkie’s
like a settin’ sun.”

Fortsetzung folgt

Neil Youngs Song über Heroinsucht, “The Needle and the Damage Done”, erschien zuerst auf seinem Studioalbum “Harvest” im Jahre 1972. Es ist seitdem von einer fast unendlichen Reihe von Musikern gecovert worden. Hier erfährt man mehr darüber:
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Needle_and_the_Damage_Done

Der vollständige Text:
http://www.azlyrics.com/lyrics/neilyoung/needleandthedamagedone.html

Die Zeichnung ist eine Orginal-Illustration von Rainer Jacob. Die Grafik “Maskerade” stammt von Aubrey Beardsley (©: creative commons). Das siebte Kapitel trägt den Titel “Downtown”. “Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Pièce de résistance” / Die Legende von Xanadu Kapitel Neun / 1973 / von Marcus Kluge

Bild

Gegen 23 Uhr hält der weiße Rolls-Royce vor der noch von Kriegsschäden gezeichneten Villa in der Fasanenstraße. Der Chauffeur springt eilfertig aus dem Wagen und hält der Dame, die der Kühle der Nacht mit einem Pelzjäckchen trotzt, den Schlag auf, salutiert und flüstert: “Hals- und Beinbruch, Schuhchen.” Die Gräfin klingelt, näselt ihren Namen in die Sprechanlage und drückt die Tür auf als es summt.
Puvogel verbeugt sich tief und gibt der Gräfin einen Handkuss, dabei bemerkt er einen auffälligen Ring mit einem Skarabäus an ihrem Zeigefinger, den sie über ihren weißen Glacé-Handschuhen trägt. Der sonstige Schmuck der Dame ist hoffentlich wertvoller, den dieser Ring ist Tinnef. Elzbieta von Rogacki lässt sich ihr Jäckchen abnehmen, aber ihre Fendi-Handtasche hält sie unter dem Arm fest, auch die Handschuhe behält sie an. Der Kunsthändler geleitet sie zu einem Barcelona-Sessel und bietet ihr eine Erfrischung an.
“Sähr gern, eine Ärrfrischung. Sie haben zufällig einen Scotch, lieber Härr Puvogel?”

Der Kunsthändler füllt zwei Whisky-Tumbler mit Chivas Regal und stellt diese auf den Glastisch vor die Gräfin.
“Chivas Regal, mein Liebes-Getränk, sie haben auch Eis, liebär Puvogel?” Sie übertreibt es etwas mit dem Akzent, das Schauspielern macht ihr Spaß, sie muss sich zusammenreißen, konzentrieren. Sofort als Puvogel den Raum verlässt, holt sie ein Fläschchen aus der Fendi-Tasche und gibt zehn Tropfen daraus in eines der Gläser. “Brutsomnol” hat ihr Freund in seiner Arzttasche gehabt, K.O.-Tropfen der zweiten Generation. Früher nahm man Barbitursäure für derartige Anschläge, aber das wirkte nur langsam und die Gefahr von tödlichen Überdosen war groß. Das konnte bei Brutsomnol nicht passieren. Etwas beängstigend findet sie es allerdings schon, dass ihr Freund “zufällig” etwas so gefährliches wie dieses Mittel bei sich trägt. Als der Kunsthändler mit den Eis zurückkommt, steht die Gräfin und bewundert die Grafiken an der Wand. Puvogel gibt ihr Eis, dann trinken sie. Die Beardsley-Drucke sind uninteressant, aber daneben entdeckt sie Ausgefalleneres. Sie muss Puvogel noch ein paar Minuten aufhalten, bis die Tropfen wirken: “Das ist ja Austin Osman Spare dieser Druck. Särr exklusiv Herr Puvogel. Ist echte Signatur?” Susanna kommt in ihrer Rolle als Gräfin zugute, dass sie vier Semester Kunstgeschichte in Krakau studiert hat.
“Ja, 100 % echt. Aus einem Nachlass. Sie kennen sich aber gut aus, Gräfin.”
“Nu ja, ich sammle selbst ein wänig.”

Der Galerist merkt eine gewisse Müdigkeit in seinen Beinen, er setzt sich und nur wenige Augenblicke später ist er eingeschlafen. Sie klappst ihm ein paarmal auf die Wange, um zu prüfen ob er wirklich tief schläft. Als Puvogel darauf nicht reagiert, beginnt sie seine Taschen zu durchsuchen. Sie findet das Schlüsselbund mit der Marke von Scotland Yard als Schlüsselanhänger, das werden sie brauchen. Nun noch die Karte, in seiner Brieftasche wird sie fündig. Dort ist die alte Spielkarte, ein Herz-König und auf ihr stehen die Zahlen, die sie brauchen. Sie hat ihre Rolle nun fertig gespielt, sie ist stolz auf sich. Auch der falsche “Doktor” in seiner geliehenen Livrée lobt sie, während sie in die Uhlandstraße fahren, um den Rolls-Royce zurückzugeben, der eigentlich Rolf Eden gehört. Sie konnten ihn ausleihen, weil ein Kunde von “Doktor” in der Garage neben der S-Bahn arbeitet, wo er untergestellt wird, wenn Eden ihn nicht braucht. Zeit zum feiern haben sie noch nicht, denn der “Doktor” muss mit Beaky den letzten Teil ihres Plans ausführen, bevor Puvogel wieder erwacht und merkt, dass er über den Tisch gezogen wurde. Aber danach werden sie ihren Coup begießen.

20 Minuten später könnte ein aufmerksamer Beobachter in der Schlüterstraße zwei Gestalten sehen, die mit einem großem Koffer die Galerie Puvogel betreten. “Wo ist denn der Sparstrumpf vom Herren von und zu?”
Beaky, der seine langen Haare zusammengebunden hat und unter einem Käppi versteckt antwortet: “Der Safe ist in seinem Blaubartkabinett, hinten.”
Sie finden die Tür verschlossen, aber sie haben ja Puvogels Schlüsselbund, das Susanna in ihrer Verkörperung der Gräfin Rogacki gestohlen hat, damit verschaffen sie sich Einlass. Der kleine Raum ist nur mit einem bequemen Sessel, einem Biedermeiertischchen und einem Bücherregal ausgestattet. An der Wand hängen unzählige Fotos, die fast alle Männer, mit Stricken, Schlipsen oder Schals um den Hals, zeigen. Manche sind nackt und erregt, wobei sie gewürgt werden. Andere sind gänzlich angekleidet und tragen die Würgewerkzeuge als harmlose Accessoires. Auf dem Tisch verstreut liegen schwarz-weiß Abzüge und Beaky wird es siedendheiss, als er bemerkt, dass die Bilder ihn selbst zeigen. Er liegt entkleidet auf Puvogels Chaiselongue, man sieht die Hände seines Chefs, wie sie ihn mit dem Hermes-Tuch würgen, das der Kunstfreund an diesem Abend trug.

Während Beaky kein Wort herausbringt, murmelt sein Freund, der “Doktor”: “Geschieht ihm recht, dem perversen Motherfucker, dass wir ihm seinen Notgroschen und sein pièce de résistance* klauen.”
Beaky wühlt immer noch ungläubig in den Fotos, im Gegensatz zum “Doktor” trägt er keine Handschuhe. Sein Freund legt eine Hand auf Beakys Schulter: “Reiß dich los und verrat mir wo der Tresor ist.”
Beaky schiebt den Lehnstuhl mit der hohen Lehne zur Seite, dahinter hängt ein gerahmtes Filmplakat von “Der Würgeengel”, den Luis Bunuel 1962 in Mexiko drehte. Beaky hängt das Bild ab, dahinter befindet sich der Safe. Puvogel hat Beaky leichtsinnigerweise erzählt, dass er hier für Notfälle Bargeld deponiert hat. Er hat Beaky sogar die alte Spielkarte gezeigt, auf der die Kombination steht. Offensichtlich hat Puvogel Beaky keine kriminelle Energie zugetraut. Er hat sich geirrt. “Doktor” öffnet nun den kleinen Geldschrank, ihn ihm liegen Papiere, ein Schmuckkästchen und eine Umschlag, auf dem “Reptilienfonds” steht. Der falsche Mediziner öffnet das Kuvert und hält nun 10 mal 10 Hundert-Mark-Scheine und einige Pässe und Ausweise in der Hand. Die Ausweispapiere legt er zurück, den Umschlag mit den Geldscheinen steckt er ein.
Nun folgt der letzte Akt des Plans, der sperrige Koffer kommt zum Einsatz. Der Koffer hat am meisten Mühe gemacht, es hat eine Weile gedauert, bis sie bei den Trödlern einen gefunden haben, der groß genug ist, immerhin ist das Bild fast einen Meter breit. Hoffentlich hat Beaky sich beim Ausmessen nicht geirrt, ein oder zwei Zentimeter könnten schon einen Strich durch ihre Rechnung machen. Der Doc nimmt die Kopie der “Einschiffung von Kythera” von der Staffelei und sie verstauen Puvogels pièce de résistance im Koffer, es passt genau. Sie verlassen den Laden, schließen ab und wenige Augenblicke später sind sie in der Dunkelheit der Kudamm-Nebenstraße verschwunden.

Susanna, der es einen Riesenspaß gemacht hat, die Rolle der Gräfin von Rogacki zu spielen, hat eine Flasche echten Champagner gekauft um ihren Erfolg zu feiern. Der “Doktor” stellt das Gemälde auf einen Stuhl und die drei Freunde stoßen an. Beaky trinkt zum ersten Mal das edle Prickelwasser, aber der trockene Veuve Cliquot kommt ihm sauer vor. Das tut seiner guten Laune keinen Abbruch, Puvogels perverse Fotos von ihm haben ihn zwar geschockt, aber nun weiß er wenigstens was genau passiert ist und außerdem hat er sich gerächt. Und Rache soll ja süß sein. Die drei stellen sich Puvogels Gesicht vor, wenn er entdeckt, dass sein Lieblingsstück fehlt und auch sein Notgroschen über Nacht verschwunden ist.

Auch der Doc hat eine Überraschung, die er nun auf den Tisch stellt, ein kleines Fläschchen medizinisches Kokain. An dem weißen Kreuz auf rotem Grund erkennt man, dass es aus der Schweiz stammt. Der Doktor gibt mit seinem Wissen an: ” Die Schweizer sind die einzigen in Europa, die Kokablätter zu medizinischen Zwecken importieren dürfen. Das hier ist von Sandoz. In den USA ist übrigens Coca-Cola die Firma, die Koka verarbeiten darf. Wo wohl das ganze Koks landet? In der Brause ist ja seit 70 Jahren nicht mehr.” Beaky musste immer wieder über das Wissen des falschen Doktors staunen. Als ob der irgendwo ein Elektronengehirn hätte, mit dem er das gesamte Weltwissen abrufen könnte. Doktor formt mit Hilfe einer Rasierklinge auf einem kleinen Spiegel sechs lange, schmale Linien und Beaky prüft das Wissen seines Freundes, indem er fragt, wieso Koks in Linien von einem Spiegel genommen wird. Das lässt sich der Doc nicht zweimal fragen, er beginnt zu dozieren: “Hast du schon mal was von Narziss gehört, sein Alter war ein Flussgott, seine Mutter eine Nymphe und dieser Narziss verliebte sich in sein Spiegelbild. Kokser sind selbstverliebte Narzissten, sie wollen sich im Spiegel sehen, wenn sie teure lange Linien sniefen. Koks ist Luxus, ein Prestige-Objekt, man gibt gern damit an, wie mit einem Sportwagen. Man kann es sich leisten und man hat die Beziehungen, es zu bekommen. Außerdem ist Koks der perfekte Genuss, man wird euphorisch, aber es befriedigt nicht wie Heroin. Bei Koks kann man fast immer noch eine Line nachlegen, wenn man das bei Heroin täte, wäre man spätestens nach der dritten Runde tot. Heroin nimmt man in kleinen Häufchen, es ist für den User eine Notwendigkeit und es befriedigt sein Verlangen”, hier machte er eine kunstvolle Pause: “Es sei denn der Stoff ist Scheiße.”
Nun steht der Doc auf, er sucht in einer Schublade und kommt dann mit einem schmalen Lederfutteral zurück. Er öffnet es und nestelt aus dem bordeaux-roten Samtfutter ein silbernes Röhrchen, etwa acht Zentmeter lang, und reicht es Susanna. Die zieht jeweils eine Linie in jedes Nasenloch, wobei sie das untätige Nasenloch zuhält, anschließend nimmt sie mit der Beere ihres Zeigefingers die restlichen Krümel auf und verreibt diese auf ihren Schneidezähnen. Nun absolviert der Doc dieselbe Prozedur und reicht den Spiegel mit zwei übriggebliebenen Portionen Beaky.
Beaky hat noch nie Kokain genommen, er ist neugierig, schließlich ist es medizinisch rein, obwohl er mit den Drogen kürzer treten will, kann er der Versuchung nicht widerstehen. Aber er begnügt sich mit einer Linie, zieht sie hoch und bevor der Doc in stoppen kann, legt er das Röhrchen auf den Spiegel, doch da ist es schon über die letzte Portion gerollt und hat das Pulver auf der Tischplatte verteilt. Der Doc grinst und sagt: “Typischer Anfängerfehler. Merke: nie das Röhrchen auf den Spiegel legen.”
Innerhalb kurzer Zeit merkt Beaky wie ihn eine Welle von positiven Gefühlen überschwemmt. Mehrere wichtige, schöne Ideen formen sich in seinem Kopf und er weiß garnicht, welche er davon zuerst aussprechen soll. Schließlich entscheidet er sich für: ” Ich bin riesig froh, dass der Plan so gut geklappt hat, es ist toll euch als Freunde zu haben. Danke das ihr mir geholfen habt, ich würde euch am liebsten umarmen.”
Beaky ist ziemlich begeistert von dem Stoff. Zwei Lines zieht er noch, doch dann gibt ihm sein Freund nichts mehr von dem teuren Schweizer Produkt. Im Gegenteil der ungewöhnlich gesprächige Doktor gibt ihm sogar eine Art Warnung mit auf seinen Heimweg:
“Gewöhn dich nicht dran, Beaky. Koks ist nicht der richtige Stoff für dich, du bist von Natur aus nervös und aufgeregt. Koks ist für Leute die leer oder sehr müde sind. Du brauchst etwas das beruhigt und dir ein warmes, zufriedenes Gefühl gibt, wie die Milch an der Brust der Mutter den Säugling stillt. Die Mutter aller Drogen, der Schlafmohn, ist deine Droge. Opium kommt von griechisch ‘opion’, der kleine Saft. Die Muttermilch für Erwachsene, denen etwas Grundlegendes fehlt.”
Als Beaky mit dem großen Koffer die Treppe hinuntersteigt ist er immer noch euphorisch, aber auch etwas nachdenklich. Er hält ein Taxi an, der Fahrer verstaut den Koffer mit dem Gemälde im Kofferraum. Damit der Fahrer ihn nicht wegen der kurzen Fahrt anblafft, hat er ihm gleich einen Zehner in die Hand gedrückt und “Zum Bundesplatz, neben dem Kino” gemurmelt. Im Autoradio läuft Joe Cockers “With a Little Help from My Friends”.

What do I do when my love is away?
(Does it worry you to be alone?)
How do I feel by the end of the day?
(Are you sad because you’re on your own?)

No, I get by with a little help from my friends
Mm, get high with a little help from my friends
Mm, gonna try with a little help from my friends

Ja, er ist dankbar für ihre Hilfe und es scheint ihm auch ein Omen zu sein, dass sie ihm bei der Verwirklichung seines Plans geholfen haben, ein Omen dafür, dass Hanna ihn zurücknehmen wird. Er kann sich kaum vorstellen, wie sie ihn abweisen sollte, wo er doch das Heroin für sie aufgegeben hat und ihr Geschenke mitbringt.
Daheim nimmt er sich das Bändchen mit den Coleridge Gedichten, macht es sich in seinem Bett gemütlich und lässt sich in die Traumwelt des romantischen Dichters fallen. Es ist schon hell draußen, als er mit dem Buch auf der Brust einschläft.

Bild

Das Erwachen am nächsten Morgen ist unangenehm. In wenigen Augenblicken ist die Euphorie, die noch im Traum nachgewirkt hat, vergangen und das Ungewisse, Gefährliche seiner Situation wird im schlagartig bewusst. Er hat einen Einbruch begangen, viel Geld und ein Bild gestohlen, ein Mensch ist nach seinem Plan betäubt worden und Hannas Reaktion kann er, nüchtern betrachtet, überhaupt nicht einschätzen. Jetzt kommen auch die Fotos wieder in sein Gedächtnis, er wird nochmal rot, als er an die perversen schwarz-weiß-Abzüge denkt. Puvogel hat ihn richtiggehend missbraucht, wie konnte ihm das nur passieren, hätte er nicht gewarnt sein müssen. Sicher, er gab all diese merkwürdigen Stories über seinen Chef, aber die hat er nicht ernstgenommen. Wie ist er eigentlich an Puvogel geraten? Ihm fällt ein, dass sein Vater ihm den Tipp gegeben hat, sich bei dem Galeristen zu bewerben. Puvogel wäre ein Geschäftsfreund seines Vaters. Doch welche Geschäfte sollten das sein? Merkwürdig, er nimmt sich vor seine Mutter dazu zu befragen. Um sich abzulenken und den letzten Akt seines Planes einzuläuten, ruft er Hanna an.

Überraschend schnell hat Hanna eingewilligt ihn zu treffen, noch am selben Tag, wenn sie mit ihrer Schicht im Café Bleibtreu fertig ist, soll er sie besuchen. Er hat Schwierigkeiten den Tag herumzubringen, er scheint sich endlos zu dehnen. Er versucht zu lesen, doch er schafft es nicht sich zu konzentrieren. Er würde gern einen Joint rauchen, um die Langeweile zu vertreiben, aber es scheint ihm eine unpassende Idee zu sein. Für das Gespräch mit Hanna sollte er so nüchtern wie möglich sein. Ihm fällt auf, es ist oft ein Anlass für ihn etwas zu konsumieren, wenn er nicht weiß was er mit sich anzufangen soll. Das muss sich ändern, aber wie? Am frühen Nachmittag fällt ihm ein, in die Bibliothek zu gehen, er will dort einiges nachschlagen. In der Bücherei in der Brandenburgischen Straße staunen sie über seinen großen Koffer. Langsam fällt ihm das Ding auf die Nerven, aber heute abend würde er es ja los, wenn er Hanna das Bild schenkte.

Er ist zu früh vor Hannas Haus in der Düsseldorfer Straße, mit dem riesigen Koffer steht er da, wie bestellt und nicht abgeholt. Als Hanna kommt, kann sie ein Grinsen nicht unterdrücken: ” Willst du verreisen, Beaky?”
“Ne, das ist ‘ne Überraschung für dich.”
“Oh toll, ich liebe Überraschungen.”
Sie sitzen unter dem Atelierfenster, der Himmel wird von einem Sonnenuntergang blutrot gefärbt. Hanna hat Pfefferminztee gekocht und ein paar Kerzen angezündet.
“Was ist denn nun in dem Überseekoffer, Beaky?”
Er will mit einer großen Geste seiner Ex-Freundin das Gemälde aus dem Koffer holen und präsentieren, aber das Stück leistet Widerstand und kippt mit der Bildseite nach unten.
Hanna staunt: ” Ein Gemälde?”
Indem er das Bild aufrichtet, betet er das Verslein herunter, das er sich zurechtgelegt hat: “Zum Zeichen meiner Liebe schenke ich dir die Einschiffung nach Kythera, die hat dir doch so gut gefallen und nun gehört sie dir.”
Hanna schüttelt ihren Kopf, weniger als eine Geste der Ablehnung, es ist eher ein Zeichen, dass sie nicht wirklich versteht, was er meint. Beaky der spürt, das sein Ansinnen dabei ist zu scheitern, schickt eilig hinterher: “Und das ist nicht das Einzige. Ich will dich auch zu einer Reise nach Xanadu einladen, ich hab das Geld schon. Außerdem bin ich clean, ich habe das Heroin aufgegeben, für dich, also für uns…”
Jetzt hat er sich verheddert, er wird rot und hat einen Riesenkloß im Hals. Er setzt sich wieder. Hanna wird so langsam klar, das hier ein Missverständnis von nicht geringer Größe vorliegt und sie beginnt Maßnahmen zur Begrenzung des Schadens zu ergreifen: “ich glaube es ist Zeit für einen guten Schnaps”.
Aus ihrer Pantryküche holt sie zwei Cognac-Schwenker und eine Flasche alten Brandy aus dem Hochschrank, den sie von ihrer Ibiza-Reise mitgebracht hat.
Nachdem sie angestoßen haben beginnt Hanna die Situation aufzuklären:
“Als du heute anriefst dachte ich, unsere Trennung wäre klar zwischen uns, doch ich merke, dass du es anders siehst. Also, wir hatten ein paar schöne Wochen, aber als ich begriff, dass du mich die ganze Zeit angelogen hast und heimlich Heroin genommen hast, hat das die Sache für mich entwertet. Du bist ein lieber Kerl, aber es gibt kein richtiges Leben im falschen, hat Adorno glaube ich gesagt, verstehst du was ich meine?”
Beaky machte seine kindliche Schnute und nickte langsam mit dem Kopf.
“Es hört sich für mich auch schräg an, wenn du meinst, du hättest die Droge für mich aufgegeben. Mensch Beaky, das solltest du für dich tun, nicht für jemand anderes. Erstmal musst du dich selbst lieben, bevor du jemand anderen lieben kannst.”

Sie trinkt einen Schluck von dem alten Brandy, Beaky hat es immer noch die Sprache verschlagen, er tut ihr Leid, trotzdem fügt sie an:
“Und die ganze Sache mit dem Bild, dem Geld, der Reise, also ich gehe mal davon aus, das du das nicht ehrlich erworben hast, oder?”
Beaky schüttelt den gesenkten Kopf, er traut sich nicht ihr in die Augen zu sehen.
“Mensch, Junge, du kennst mich doch. Du müsstest doch wissen, ich stehe nicht auf kriminelle Sachen. Du bist auf Bewährung, sag mal, möchtest du wieder in den Knast? Ich nehme an, es muss da drin ziemlich übel für dich gewesen sein, auch wenn du nicht darüber gesprochen hast. Das ist doch bescheuert.” Sie merkt, er ist kurz davor zusammenzubrechen, also stoppt sie hier, aber die Predigt konnte sie ihm, in seinem Interesse, nicht ersparen.
Die ganze Situation ist ihm einfach nur noch peinlich, jetzt versteht er nicht mehr, was er sich gedacht hat. Er ist so dumm gewesen. Er will so schnell wie möglich raus aus dieser Situation, er verabschiedet sich von der verduzten Hanna und rennt mit dem schweren Koffer, der jetzt nur noch ein überflüssiger Ballast ist, die Treppe runter. Auf der Straße hält er das nächste Taxi an, wieder gibt er dem Chauffeur einen Geldschein, der Koffer passt nicht in den Kofferraum des Citroen DS. Also muss Beaky vorn sitzen und das pièce de résistance nimmt die Rückbank ein.
Im seinem Zimmer legt er “Beggars Banquet” auf, eines seiner Lieblings-Stones-Alben. Wieso könnte er nicht sagen. Mit Kopfhörern, um seine Mutter nicht zu stören, legt er sich ins Bett. Bei der dritten Nummer, “Dear Doctor”, hat er sich halbwegs beruhigt und er hört auf auf den Text:

Oh help me, please doctor I’m a damaged
There’s a pain where there once was a heart
It’s sleepin, its a beatin’
Can’t ya please tear it out, and preserve it
Right there in that jar?

Auf welchen Doktor soll er seine Hoffnungen setzen? Auf seinen Freund, den falschen Doktor? Eher nicht, denn der hat ihn ja erst in diesen Schlamassel gebracht, ohne dessen Unterstützung hätte er seinen blöden Plan garnicht umsetzen können. Nein, der andere Doktor, der richtige, Professor Philippus wird ihm helfen. Beaky kann sich nicht erinnern, dass er sich schon einmal so ängstlich und verloren gefühlt hat, als ob er in einen alles vernichtenden Strudel gezogen würde. Mit solchen Gedanken schläft er ein und träumt wirres Zeug.

– wird fortgesetzt –

*Als pièce de résistance (/pjɛs də re zi stɑ̃s/, französisch, eigentlich „Stück, das Widerstand leistet“ im Sinne von feste, schwere Speise) wird in der klassischen Menüfolge das Hauptgericht bezeichnet, üblicherweise ein Stück Fleisch wie Braten oder auch Geflügel. Eine andere Bezeichnung ist grosse pièce.
Im übertragenen Sinne wird pièce de résistance auch im Sinne von „Kern, Herzstück, Hauptsache“ oder für eine herausragende Leistung (vergleichbar dem „Meisterstück“ oder „Aushängeschild“) gebraucht; daneben verzeichnet Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1911 auch eine abwertende Konnotation.Eine Sache die zu mächtig ist, zu groß um sie zu schlucken, und die daher liegenbleibt.

Die Illustrationen hat Rainer Jacob gezeichnet.

“Dear Doctor”:
http://en.wikipedia.org/wiki/Dear_Doctor_%28song%29

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Pièce de résistance” / Die Legende von Xanadu Kapitel Neun / 1973 / von Marcus Kluge

Bild

Gegen 23 Uhr hält der weiße Rolls-Royce vor der noch von Kriegsschäden gezeichneten Villa in der Fasanenstraße. Der Chauffeur springt eilfertig aus dem Wagen und hält der Dame, die der Kühle der Nacht mit einem Pelzjäckchen trotzt, den Schlag auf, salutiert und flüstert: “Hals- und Beinbruch, Schuhchen.” Die Gräfin klingelt, näselt ihren Namen in die Sprechanlage und drückt die Tür auf als es summt.
Puvogel verbeugt sich tief und gibt der Gräfin einen Handkuss, dabei bemerkt er einen auffälligen Ring mit einem Skarabäus an ihrem Zeigefinger, den sie über ihren weißen Glacé-Handschuhen trägt. Der sonstige Schmuck der Dame ist hoffentlich wertvoller, den dieser Ring ist Tinnef. Elzbieta von Rogacki läßt sich ihr Jäckchen abnehmen, aber ihre Fendi-Handtasche hält sie unter dem Arm fest, auch die Handschuhe behält sie an. Der Kunsthändler geleitet sie zu einem Barcelona-Sessel und bietet ihr eine Erfrischung an.
“Sähr gern, eine Ärrfrischung. Sie haben zufällig einen Scotch, lieber Härr Puvogel?”

Der Kunsthändler füllt zwei Whisky-Tumbler mit Chivas Regal und stellt diese auf den Glastisch vor die Gräfin.
“Chivas Regal, mein Liebes-Getränk, sie haben auch Eis, liebär Puvogel?” Sie übertreibt es etwas mit dem Akzent, das Schauspielern macht ihr Spaß, sie muss sich zusammenreißen, konzentrieren. Sofort als Puvogel den Raum verlässt, holt sie ein Fläschchen aus der Fendi-Tasche und gibt zehn Tropfen daraus in eines der Gläser. “Brutsomnol” hat ihr Freund in seiner Arzttasche gehabt, K.O.-Tropfen der zweiten Generation. Früher nahm man Barbitursäure für derartige Anschläge, aber das wirkte nur langsam und die Gefahr von tödlichen Überdosen war groß. Das konnte bei Brutsomnol nicht passieren. Etwas beängstigend findet sie es allerdings schon, dass ihr Freund “zufällig” etwas so gefährliches wie dieses Mittel bei sich trägt. Als der Kunsthändler mit den Eis zurückkommt, steht die Gräfin und bewundert die Grafiken an der Wand. Puvogel gibt ihr Eis, dann trinken sie. Die Beardsley-Drucke sind uninteressant, aber daneben entdeckt sie Ausgefalleneres. Sie muss Puvogel noch ein paar Minuten aufhalten, bis die Tropfen wirken: “Das ist ja Austin Osman Spare dieser Druck. Särr exklusiv Herr Puvogel. Ist echte Signatur?” Susanna kommt in ihrer Rolle als Gräfin zugute, dass sie vier Semester Kunstgeschichte in Krakau studiert hat.
“Ja, 100 % echt. Aus einem Nachlass. Sie kennen sich aber gut aus, Gräfin.”
“Nu ja, ich sammle selbst ein wänig.”

Der Galerist merkt eine gewisse Müdigkeit in seinen Beinen, er setzt sich und nur wenige Augenblicke später ist er eingeschlafen. Erst klappst sie ihm ein paarmal auf die Wange, um zu prüfen ob er wirklich tief schläft. Als Puvogel darauf nicht reagiert beginnt sie seine Taschen zu durchsuchen. Sie findet das Schlüsselbund mit der Marke von Scotland Yard als Schlüsselanhänger, das werden sie brauchen. Nun noch die Karte, in seiner Brieftasche wird sie fündig. Dort ist die alte Spielkarte, ein Herz-König und auf ihr die Zahlen, die sie brauchen. Sie hat ihre Rolle nun fertig gespielt, sie ist stolz auf sich. Auch der falsche Doktor in seiner Livrée lobt sie, während sie in die Uhlandstraße fahren, um den Rolls-Royce zurückzugeben, der eigentlich Rolf Eden gehört. Sie konnten ihn ausleihen, weil ein Kunde von “Doktor” in der Garage neben der S-Bahn arbeitet, wo er untergestellt wird, wenn Eden ihn nicht braucht. Zeit zum feiern haben sie noch nicht, denn der “Doktor” muss mit Beaky den letzten Teil ihres Plans ausführen, bevor Puvogel wieder erwacht und merkt, dass er über den Tisch gezogen wurde. Aber danach werden sie ihren Coup begießen.

20 Minuten später könnte ein aufmerksamer Beobachter in der Schlüterstraße zwei Gestalten sehen, die mit einem großem Koffer die Galerie Puvogel betreten. “Wo ist denn der Sparstrumpf vom Herren von und zu?”
Beaky, der seine langen Haare zusammengebunden hat und unter einem Käppi versteckt antwortet: “Der Safe ist in seinem Blaubartkabinett, hinten.”
Sie finden die Tür verschlossen, aber sie haben ja Puvogels Schlüsselbund, das Susanna in ihrer Verkörperung der Gräfin Rogacki gestohlen hat, damit verschaffen sie sich Einlass. Der kleine Raum ist nur mit einem bequemen Sessel, einem Biedermeiertischchen und einem Bücherregal ausgestattet. An der Wand hängen unzählige Fotos, die fast alle Männer mit Stricken, Schlipsen oder Schals um den Hals zeigen. Manche sind nackt und erregt, wobei sie gewürgt werden. Andere sind gänzlich angekleidet und tragen die Würgewerkzeuge als harmlose Accessoires. Auf dem Tisch verstreut liegen schwarz-weiß Abzüge und Beaky wird es siedendheiss, als er bemerkt, dass die Bilder ihn selbst zeigen. Er liegt entkleidet auf Puvogels Chaiselongue, man sieht die Hände seines Chefs, wie sie ihn mit dem Hermes-Tuch würgen, das der Kunstfreund an diesem Abend trug.

Während Beaky kein Wort herausbringt, murmelt sein Freund, der falsche Doktor: “Geschieht ihm recht, dem perversen Motherfucker, dass wir ihm seinen Notgroschen und sein pièce de résistance* klauen.”
Beaky wühlt immer noch ungläubig in den Fotos, im Gegensatz zum “Doktor” trägt er keine Handschuhe. Sein Freund legt eine Hand auf Beakys Schulter: “Reiß dich los und verrat mir wo der Tresor ist.”
Beaky schiebt den Lehnstuhl mit der hohen Lehne zur Seite, dahinter hängt ein gerahmtes Filmplakat von “Der Würgeengel”, den Luis Bunuel 1962 in Mexiko drehte. Beaky hängt das Bild ab, dahinter befindet sich der Safe. Puvogel hat Beaky leichtsinnigerweise erzählt, dass er hier für Notfälle Bargeld deponiert hat. Er hat Beaky sogar die alte Spielkarte gezeigt auf der die Kombination steht. Offensichtlich hat Puvogel Beaky keine große kriminelle Energie zugetraut. Doktor öffnet nun den kleinen Geldschrank, ihn ihm liegen Papiere, ein Schmuckkästchen und eine Umschlag, auf dem “Reptilienfonds” steht. Der falsche Mediziner öffnet das Kuvert und hält nun 10 mal 10 Hundert-Mark-Scheine und einige Pässe und Ausweise in der Hand. Die Ausweispapiere legt er zurück, den Umschlag mit den Geldscheinen steckt er ein.
Nun folgt der letzte Akt des Plans, der sperrige Koffer kommt zum Einsatz. Der Koffer hat am meisten Mühe gemacht, es hat eine Weile gedauert, bis sie bei den Trödlern einen gefunden haben, der groß genug ist, immerhin ist das Bild fast einen Meter breit. Hoffentlich hat Beaky sich beim Ausmessen nicht geirrt, ein oder zwei Zentimeter könnten schon einen Strich durch ihre Rechnung machen. Der Doc nimmt die Kopie der “Einschiffung von Kythera” von der Staffelei und sie verstauen Puvogels pièce de résistance im Koffer, es passt genau. Sie verlassen den Laden, schließen ab und wenige Augenblicke später sind sie in der Dunkelheit der Kudamm-Nebenstraße verschwunden.

Susanna, der es einen Riesenspaß gemacht hat, die Rolle der Gräfin von Rogacki zu spielen, hat eine Flasche echten Champagner gekauft um ihren Erfolg zu feiern. Der Doktor stellt das Gemälde auf einen Stuhl und die drei Freunde stoßen an. Beaky trinkt zum ersten Mal das edle Prickelwasser, aber der trockene Veuve Cliquot kommt ihm sauer vor. Das tut seiner guten Laune keinen Abbruch, Puvogels perverse Fotos von ihm haben ihn zwar geschockt, aber nun weiß er wenigstens was genau passiert ist und außerdem hat er sich gerächt. Und Rache soll ja süß sein. Die drei stellen sich Puvogels Gesicht vor, wenn er entdeckt, dass sein Lieblingsstück fehlt und auch sein Notgroschen über Nacht verschwunden ist.

Auch der Doc hat eine Überraschung, die er nun auf den Tisch stellt, ein kleines Fläschchen medizinisches Kokain. An dem weißen Kreuz auf rotem Grund erkennt man, dass es aus der Schweiz stammt. Der Doktor gibt mit seinem Wissen an: ” Die Schweizer sind die einzigen in Europa, die Kokablätter zu medizinischen Zwecken importieren dürfen. Das hier ist von Sandoz. In den USA ist übrigens Coca-Cola die Firma, die Koka verarbeiten darf. Wo wohl das ganze Koks landet? In der Brause ist ja seit 70 Jahren nicht mehr.” Beaky musste immer wieder über das Wissen des falschen Doktors staunen. Als ob der irgendwo ein Elektronengehirn hätte, mit dem er das gesamte Weltwissen abrufen könnte. Doktor formt mit Hilfe einer Rasierklinge auf einem kleinen Spiegel sechs lange, schmale Linien und Beaky prüft das Wissen seines Freundes, indem er fragt, wieso Koks in Linien von einem Spiegel genommen wird. Das lässt sich der Doc nicht zweimal fragen, er beginnt zu dozieren: “Hast du schon mal was von Narziss gehört, sein Alter war ein Flussgott, seine Mutter eine Nymphe und dieser Narziss verliebte sich in sein Spiegelbild. Kokser sind selbstverliebte Narzissten, sie wollen sich im Spiegel sehen, wenn sie teure lange Linien sniefen. Koks ist Luxus, ein Prestige-Objekt, man gibt gern damit an, wie mit einem Sportwagen. Man kann es sich leisten und man hat die Beziehungen, es zu bekommen. Außerdem ist Koks der perfekte Genuss, man wird euphorisch, aber es befriedigt nicht wie Heroin. Bei Koks kann man fast immer noch eine Line nachlegen, wenn man das bei Heroin täte, wäre man spätestens nach der dritten Runde tot. Heroin nimmt man in kleinen Häufchen, es ist für den User eine Notwendigkeit und es befriedigt sein Verlangen”, hier machte er eine kunstvolle Pause: “Es sei denn der Stoff ist Scheiße.”
Nun steht der Doc auf, er sucht in einer Schublade und kommt dann mit einem schmalen Lederfutteral zurück. Er öffnet es und nestelt aus dem bordeaux-roten Samtfutter ein silbernes Röhrchen, etwa acht Zentmeter lang, und reicht es Susanna. Die zieht jeweils eine Linie in jedes Nasenloch, wobei sie das untätige Nasenloch zuhält, anschließend nimmt sie mit der Beere ihres Zeigefingers die restlichen Krümel auf und verreibt diese auf ihren Schneidezähnen. Nun absolviert der Doc dieselbe Routine und reicht den Spiegel mit zwei übriggebliebenen Portionen Beaky.
Beaky hat noch nie Kokain genommen, er ist neugierig, schließlich ist es medizinisch rein, obwohl er mit den Drogen kürzer treten will, kann er der Versuchung nicht widerstehen. Aber er begnügt sich mit einer Linie, zieht sie hoch und bevor der Doc in stoppen kann, legt er das Röhrchen auf den Spiegel, doch da ist es schon über die letzte Portion gerollt und hat das Pulver auf der Tischplatte verteilt. Der Doc grinst und sagt: “Typischer Anfängerfehler. Merke: nie das Röhrchen auf den Spiegel legen.”
Innerhalb kurzer Zeit merkt Beaky wie ihn eine Welle von positiven Gefühlen überschwemmt. Mehrere wichtige, schöne Ideen formen sich in seinem Kopf und er weiß garnicht, welche er davon zuerst aussprechen soll. Schließlich entscheidet er sich für: ” Ich bin riesig froh, dass der Plan so gut geklappt hat, es ist toll euch als Freunde zu haben. Danke das ihr mir geholfen habt, ich würde euch am liebsten umarmen.”
Beaky ist ziemlich begeistert von dem Stoff. Zwei Lines zieht er noch, doch dann gibt ihm sein Freund nichts mehr von dem teuren Schweizer Produkt. Im Gegenteil der ungewöhnlich gesprächige Doktor gibt ihm sogar eine Art Warnung mit auf seinen Heimweg:
“Gewöhn dich nicht dran, Beaky. Koks ist nicht der richtige Stoff für dich, du bist von Natur aus nervös und aufgeregt. Koks ist für Leute die leer oder sehr müde sind. Du brauchst etwas das beruhigt und dir ein warmes, zufriedenes Gefühl gibt, wie die Milch an der Brust der Mutter den Säugling stillt. Die Mutter aller Drogen, der Schlafmohn, ist deine Droge. Opium kommt von griechisch ‘opion’, der kleine Saft. Die Muttermilch für Erwachsene, denen etwas Grundlegendes fehlt.”
Als Beaky mit dem großen Koffer die Treppe hinuntersteigt ist er immer noch euphorisch, aber auch etwas nachdenklich. Er hält ein Taxi an, der Fahrer verstaut den Koffer mit dem Gemälde im Kofferraum. Damit der Fahrer ihn nicht wegen der kurzen Fahrt anblafft, hat er ihm gleich einen Zehner in die Hand gedrückt und “Zum Bundesplatz, neben dem Kino” gemurmelt. Im Autoradio läuft Joe Cockers “With a Little Help from My Friends”.

What do I do when my love is away?
(Does it worry you to be alone?)
How do I feel by the end of the day?
(Are you sad because you’re on your own?)

No, I get by with a little help from my friends
Mm, get high with a little help from my friends
Mm, gonna try with a little help from my friends

Ja, er ist dankbar für ihre Hilfe und es scheint ihm auch ein Omen zu sein, dass sie ihm bei der Verwirklichung seines Plans geholfen haben, ein Omen dafür, dass Hanna ihn zurücknehmen wird. Er kann sich kaum vorstellen, wie sie ihn abweisen sollte, wo er doch das Heroin für sie aufgegeben hat und ihr Geschenke mitbringt.
Daheim nimmt er sich das Bändchen mit den Coleridge Gedichten, macht es sich in seinem Bett gemütlich und lässt sich in die Traumwelt des romantischen Dichters fallen. Es ist schon hell draußen, als er mit dem Buch auf der Brust einschläft.

Bild

Das Erwachen am nächsten Morgen ist unangenehm. In wenigen Augenblicken ist die Euphorie, die noch im Traum nachgewirkt hat, vergangen und das Ungewisse, Gefährliche seiner Situation wird im schlagartig bewusst. Er hat einen Einbruch begangen, viel Geld und ein Bild gestohlen, ein Mensch ist nach seinem Plan betäubt worden und Hannas Reaktion kann er, nüchtern betrachtet, überhaupt nicht einschätzen. Jetzt kommen auch die Fotos wieder in sein Gedächtnis, er wird nochmal rot, als er an die perversen schwarz-weiß-Abzüge denkt. Puvogel hat ihn richtiggehend missbraucht, wie konnte ihm das nur passieren, hätte er nicht gewarnt sein müssen. Sicher, er gab all diese merkwürdigen Stories über seinen Chef, aber die hat er nicht ernstgenommen. Wie ist er eigentlich an Puvogel geraten? Ihm fällt ein, dass sein Vater ihm den Tipp gegeben hat, sich bei dem Galeristen zu bewerben. Puvogel wäre ein Geschäftsfreund seines Vaters. Doch welche Geschäfte sollten das sein? Merkwürdig, er nimmt sich vor seine Mutter dazu zu befragen. Um sich abzulenken und den letzten Akt seines Planes einzuläuten, ruft er Hanna an.

Überraschend schnell hat Hanna eingewilligt ihn zu treffen, noch am selben Tag, wenn sie mit ihrer Schicht im Café Bleibtreu fertig ist, soll er sie besuchen. Er hat Schwierigkeiten den Tag herumzubringen, er scheint sich endlos zu dehnen. Er versucht zu lesen, doch er schafft es nicht sich zu konzentrieren. Er würde gern einen Joint rauchen, um die Langeweile zu vertreiben, aber es scheint ihm eine unpassende Idee zu sein. Für das Gespräch mit Hanna sollte er so nüchtern wie möglich sein. Ihm fällt auf, es ist oft ein Anlass für ihn etwas zu konsumieren, wenn er nicht weiß was er mit sich anzufangen soll. Das muss sich ändern, aber wie? Am frühen Nachmittag fällt ihm ein, in die Bibliothek zu gehen, er will dort einiges nachschlagen. In der Bücherei in der Brandenburgischen Straße staunen sie über seinen großen Koffer. Langsam fällt ihm das Ding auf die Nerven, aber heute abend würde er es ja los, wenn er Hanna das Bild schenkte.

Er ist zu früh vor Hannas Haus in der Düsseldorfer Straße, mit dem riesigen Koffer steht er da, wie bestellt und nicht abgeholt. Als Hanna kommt, kann sie ein Grinsen nicht unterdrücken: ” Willst du verreisen, Beaky?”
“Ne, das ist ‘ne Überraschung für dich.”
“Oh toll, ich liebe Überraschungen.”
Sie sitzen unter dem Atelierfenster, der Himmel wird von einem Sonnenuntergang blutrot gefärbt. Hanna hat Pfefferminztee gekocht und ein paar Kerzen angezündet.
“Was ist denn nun in dem Überseekoffer, Beaky?”
Er will mit einer großen Geste seiner Ex-Freundin das Gemälde aus dem Koffer holen und präsentieren, aber das Stück leistet Widerstand und kippt mit der Bildseite nach unten.
Hanna staunt: ” Ein Gemälde?”
Indem er das Bild aufrichtet, betet er das Verslein herunter, das er sich zurechtgelegt hat: “Zum Zeichen meiner Liebe schenke ich dir die “Einschiffung nach Kythera”, die hat dir doch so gut gefallen und nun gehört sie dir.”
Hanna schüttelt ihren Kopf, weniger als eine Geste der Ablehnung, es ist eher ein Zeichen, dass sie nicht wirklich versteht, was er meint. Beaky der spürt, das sein Ansinnen dabei ist zu scheitern, schickt eilig hinterher: “Und das ist nicht das Einzige. Ich will dich auch zu einer Reise nach Xanadu einladen, ich hab das Geld schon. Außerdem bin ich clean, ich habe das Heroin aufgegeben, für dich, also für uns…”
Jetzt hat er sich verheddert, er wird rot und hat einen Riesenkloß im Hals. Er setzt sich wieder. Hanna wird so langsam klar, das hier ein Missverständnis von nicht geringer Größe vorliegt und sie beginnt Maßnahmen zur Begrenzung des Schadens zu ergreifen: “ich glaube es ist Zeit für einen guten Schnaps”.
Aus ihrer Pantryküche holt sie zwei Cognac-Schwenker und eine Flasche alten Brandy aus dem Hochschrank, den sie von ihrer Ibiza-Reise mitgebracht hat.
Nachdem sie angestoßen haben beginnt Hanna die Situation aufzuklären:
“Als du heute anriefst dachte ich, unsere Trennung wäre klar zwischen uns, doch ich merke, dass du es anders siehst. Also, wir hatten ein paar schöne Wochen, aber als ich begriff, dass du mich die ganze Zeit angelogen hast und heimlich Heroin genommen hast, hat das die Sache für mich entwertet. Du bist ein lieber Kerl, aber es gibt kein richtiges Leben im falschen, hat Adorno glaube ich gesagt, verstehst du was ich meine?”
Beaky machte seine kindliche Schnute und nickte langsam mit dem Kopf.
“Es hört sich für mich auch schräg an, wenn du meinst, du hättest die Droge für mich aufgegeben. Mensch Beaky, das solltest du für dich tun, nicht für jemand anderes. Erstmal musst du dich selbst lieben, bevor du jemand anderen lieben kannst.”

Sie trinkt einen Schluck von dem alten Brandy, Beaky hat es immer noch die Sprache verschlagen, er tut ihr Leid, trotzdem fügt sie an:
“Und die ganze Sache mit dem Bild, dem Geld, der Reise, also ich gehe mal davon aus, das du das nicht ehrlich erworben hast, oder?”
Beaky schüttelt den gesenkten Kopf, er traut sich nicht ihr in die Augen zu sehen.
“Mensch, Junge, du kennst mich doch. Du müsstest doch wissen, ich stehe nicht auf kriminelle Sachen. Du bist auf Bewährung, sag mal, möchtest du wieder in den Knast? Ich nehme an, es muss da drin ziemlich üben für dich gewesen sein, auch wenn du nicht darüber gesprochen hast. Das ist doch bescheuert.” Sie merkt, er ist kurz davor zusammenzubrechen, also stoppt sie hier, aber die Predigt konnte sie ihm, in seinem Interesse, nicht ersparen.
Die ganze Situation ist ihm einfach nur noch peinlich, jetzt versteht er nicht mehr, was er sich gedacht hat. Er ist so dumm gewesen. Er will so schnell wie möglich raus aus dieser Situation, er verabschiedet sich von der verduzten Hanna und rennt mit dem schweren Koffer, der jetzt nur noch ein überflüssiger Ballast ist, die Treppe runter. Auf der Straße hält er das nächste Taxi an, wieder gibt er dem Chauffeur einen Geldschein, der Koffer passt nicht in den Kofferraum des Citroen DS. Also muss Beaky vorn sitzen und das pièce de résistance nimmt die Rückbank ein.
Im seinem Zimmer legt er “Beggars Banquet” auf, eines seiner Lieblings-Stones-Alben. Wieso könnte er nicht sagen. Mit Kopfhörern, um seine Mutter nicht zu stören, legt er sich ins Bett. Bei der dritten Nummer, “Dear Doctor”, hat er sich halbwegs beruhigt und er hört auf auf den Text:

Oh help me, please doctor I’m a damaged
There’s a pain where there once was a heart
It’s sleepin, its a beatin’
Can’t ya please tear it out, and preserve it
Right there in that jar?

Auf welchen Doktor soll er seine Hoffnungen setzen? Auf seinen Freund, den falschen Doktor? Eher nicht, denn der hat ihn ja erst in diesen Schlamassel gebracht, ohne dessen Unterstützung hätte er seinen blöden Plan garnicht umsetzen können. Nein, der andere Doktor, der richtige, Professor Philippus wird ihm helfen. Beaky kann sich nicht erinnern, dass er sich schon einmal so ängstlich und verloren gefühlt hat, als ob er in einen alles vernichtenden Strudel gezogen würde. Mit solchen Gedanken schläft er ein und träumt wirres Zeug.

wird fortgesetzt –

*Als pièce de résistance (/pjɛs də re zi stɑ̃s/, französisch, eigentlich „Stück, das Widerstand leistet“ im Sinne von feste, schwere Speise) wird in der klassischen Menüfolge das Hauptgericht bezeichnet, üblicherweise ein Stück Fleisch wie Braten oder auch Geflügel. Eine andere Bezeichnung ist grosse pièce.
Im übertragenen Sinne wird pièce de résistance auch im Sinne von „Kern, Herzstück, Hauptsache“ oder für eine herausragende Leistung (vergleichbar dem „Meisterstück“ oder „Aushängeschild“) gebraucht; daneben verzeichnet Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1911 auch eine abwertende Konnotation.Eine Sache die zu mächtig ist, zu groß um sie zu schlucken, und die daher liegenbleibt.

“Dear Doctor”:
http://en.wikipedia.org/wiki/Dear_Doctor_%28song%29

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Ereignissen. Um Persönlichkeitsrechte zu schützen habe ich, wo es nötig war, Namen und Details der Geschichte verändert.

Familienportrait – “Einschiffung nach Kythera” / Die Legende von Xanadu Kapitel Fünf / 1973 / von Marcus Kluge

Reise

Der Antiquitätenhändler und Galerist Ingomar von Puvogel ist, was man eine schillernde Persönlichkeit nennt. Der etwa 1,70 Meter große, grauhaarige Herr trägt gern zweireihige Klubjacken, die sein Bäuchlein eher betonen als verbergen. Er selbst nennt es fast zärtlich, sein „Embonpoint“, was selbstverständlich sehr viel schicker klingt, als das in Berlin sonst gern verwendete Wort „Wampe“. Er war nicht immer Geschäftsmann, seine Kollegen erzählen gern genüsslich, dass er in den 50er Jahren für mehrere Nachrichtendienste gearbeitet haben soll, den BND, sowohl als auch die Stasi und zusätzlich die üblichen Verdächtigen wie CIA, MI5 und Mossad. Unter mysteriösen Umständen hat er Anfang der 60er Jahre den aktiven Dienst verlassen. Man munkelt von Stasi-Material über die Nazi-Vergangenheit eines hochrangigen CDU-Politikers, mit dem er einen goldenen Handschlag vom BND erpresst haben soll. Andere sprachen von Kinderpornographie, die Puvogel einem Staatssekretär untergeschoben haben sollte. Aber es liegt in der Natur der Sache, das Niemand etwas Genaues wusste. Puvogel ließ sich anschließend an sein Ausscheiden ein Clark Gable-Bärtchen wachsen und eröffnete seine „Galerie“ in der Schlüterstraße. Zusätzlich schmückt seitdem das Wörtchen „von“ seinen Namen. Von nun an gab er die Vorstellung eines bildungsbeflissenen Schöngeists, der gern seine Sprache mit französischen Vokabeln würzte und seine Vergangenheit in wenig glaubwürdigen Anekdoten schönfärbte. „C’etait incroyable“, so nannte er es selber.

Auf den ersten Blick hob sich sein Geschäft von den benachbarten Trödlern ab, doch wenn man genau hinsah, bestand sein Angebot hauptsächlich aus drittklassigen Gemälden, Jugendstil und Art Deco-Tand, sowie asiatischem Kunsthandwerk, preiswerter Dutzendware zumeist. Beaky arbeitete dennoch gern bei ihm, Puvogel war freundlich, jovial, hatte Humor und konnte tolle Geschichten erzählen. Außerdem bescheinigte ihm sein Chef, er würde 40 Stunden in der Woche bei ihm wirken, was stark übertrieben war. Sein Bewährungshelfer war einmal im Laden gewesen und Puvogel hatte ihn mühelos um den Finger gewickelt und ihm sogar ein hübsches Lackkästchen zum überhöhten Preis verkauft. Wie die meisten Besucher bestaunte der Sozialarbeiter die Kopie von „Einschiffung nach Kythera“, dem berühmten Gemälde von Jean-Antoine Watteau. Und wie bei allen kunsthistorisch Ungebildeten behauptete Puvogel, es würde sich um ein unbekanntes viertes Bild von diesem Sujet handeln, ein echter Watteau. Was natürlich blanker Unsinn war. Denn wenn es ein Orginal gewesen wäre, hätte es nicht im Schaufenster auf einer Staffelei gestanden. Stattdessen hätte man es, mit einer Alarmanlage verbunden, an die Wand gehängt, denn es wäre mindestens eine sechsstellige Summe wert gewesen. Ach was, wenn es ein echter Watteau gewesen wäre, hätte es niemals in der Antik-Klitsche von Ingomar von Puvogel gehangen. Dennoch stellte die alte, aber gut erhaltene, Kopie einen gewissen Vermögenswert da. Schon viele hatten versucht, sie dem Galeristen abzukaufen, doch Puvogel bezeichnete sie als sein “piece de resistance” und wirklich auch durch ihre herausgehobene Position, auf einer Staffelei, im Schaufenster, stellte sie soetwas wie sein Aushängeschild dar und als solches war es ihm ans Herz gewachsen.

„Einschiffung nach Kythera ist der Titel dreier spätbarocker Gemälde des französischen Meisters Jean-Antoine Watteau. Eines davon hing damals in Dahlem, wo ich es gesehen hatte. Das Gemälde zeigt ein paar junge Leute, die am Ufer auf ihr Boot warten, um zur Insel Kythera übergesetzt zu werden. Rechts steht eine Statue der Liebesgöttin Venus. Im Hintergrund sieht man die Insel Kythera, den Ort an dem Venus der Sage nach aus dem Schaum des Meeres an Land gestiegen sein soll. Die Insel Kythera galt im 18. Jahrhundert als ein Reich der Liebe, fern aller Konflikte. Mit diesen sogenannten „Fêtes galantes“-Gemälden schuf Watteau eine neue Bildtradition, bei denen Rubens und dabei insbesondere dessen Gemälde Liebesgarten das Vorbild waren.“

Es war an einem Freitag nachmittag, als ich Beaky in der Galerie Puvogel aufsuchte. Er hatte mich angerufen und mir erzählt, er habe vor sein Leben zu ändern. Mit dem Speed habe er Schluss gemacht, ich freute mich, dass er auf mich gehört hatte und ich war gespannt, was er mir sonst berichten wollte. Sein Chef gestattete ihm neuerdings, allein den Laden zu hüten, während er, Puvogel, seine tägliche Siesta im Hinterzimmer der Kunsthandlung hielt.

Ich bewunderte die recht ordentliche Watteau-Kopie im Fenster, wobei ich Beaky im Ladeninneren erspähte. Er trug zu seinen dunkelblauen Levis ein besticktes Seidenhemd, wahrscheinlich auch ein Asienimport des Galeristen. Seine langen, rotblonden Haare waren frisch gewaschen und ich war froh keine Anzeichen des Konsums harter Drogen zu erkennen.
„Na, Beaky, wie läuft dein Geschäft?“
Er erwiderte mit leicht gedämpfter Stimme, „Ich wollte, es wäre meins, Marcus. Und nenn mich bitte Frieder, der Chef mag meinen anderen Namen nicht.“
„Wo ist er denn, der Graf von und zu Piepvogel?“
Beaky wurde rot, jetzt flüsterte er fast: „Er ist hinten in seinem geheimen Blaubart-Kabinett. Ich glaube er raucht Thai-Sticks und was er noch treibt, da gibt es verschiedene Vermutungen, ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, vielleicht schläft er wirklich.“
Puvogel importierte versteckt im Kunsthandwerk Marihuana, sogenannte Thai-Sticks, die besonders bei Künstlern und Intellektuellen sehr beliebt waren. Man sagte, sie gingen nicht in die Beine, sondern direkt in den Kopf, machten wach und gesprächig. Viele Antiquitätenhändler in den Kudamm-Nebenstraßen verkauften das teure Zeug als willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Die Kunden gehörten entweder zur Schickeria oder sie hätten gern zu ihr gehört. Auf jeden Fall rekrutierte sich die Klientel aus den „besseren Kreisen“, die bereit waren etwas mehr für den illegalen Drogen-Kick zu zahlen.
Was das „nochtreiben“ anging, wucherten in der Tat die unterschiedlichsten Vermutungen. Der falsche Adlige selbst behauptete, erotisch ein Neutrum zu sein, seitdem der sowjetische NKWD ihn im Zweiten Weltkrieg mehrere Tage gefoltert hatte. Da er diese wilde Geschichte mit sehr viel Humor und Gusto zelebrierte, war er selbst schuld, dass sie als nicht sehr glaubwürdig aufgenommen wurde. Also sprach man von kleinen Mädchen, kleinen Jungen, kleinen oder eher mittelgroßen Haustieren, sowie von allen denkbaren materiellen Fetischen, die angeblich sein erotisches Interesse ausmachen sollten.
„Gott zum Gruße, junge Herrschaften“, tönte es leicht effeminiert aus dem rückwärtigen Geschäft. Der Besitzer hatte seine Siesta beendet und gab uns eine Exklusiv-Vorstellung seiner Darstellung eines intellektuellen Schöngeistes . Mir war die Puvogels sexuelle Orientierung überhaupt nicht unklar, ich hielt ihn für schwul. Und als ob er meinen Gedanken bestätigen wollte, turnte der Galerist um mich herum und bewunderte mich von allen Seiten. Beaky hatte meinen Besuch wohl angekündigt, denn unverzüglich schmeichelte Puvogel mich an: „Das kann doch nur der kluge Herr Kluge sein und dabei ist er auch noch ein so schöner Mensch. Wie hält man das aus?“ Nach kurzer Sammlung parierte ich den Ästhetik-Liebhaber: „Normalerweise ganz gut, Herr Puvogel“. Ich drängelte ein bißchen, um möglichst schnell Puvogels Dunstkreis zu entgehen. Es war nicht so, dass ich wie viele Männer grundsätzlich Probleme mit Schwulen hatte. Ich hatte sogar selbst eine kurze Beziehung zu einem Mann gehabt und die Schwulenszene kennengelernt. Deshalb kannte ich auch das Gefühl von älteren Schwulen angemacht zu werden und sowas machte mich normalerweise nicht verlegen. Aber dieser Vogel war mir unangenehm, seine aufdringliche, süßliche Art. Ich verstand nicht, wie Beaky für ihn arbeiten konnte und dessen Nähe ertragen konnte. Nach meinen Eindruck hatte dieser Galerist hatte nur einen Gedanken in seinem Kopf und der war schmutzig. Glücklicherweise schien es Beaky selbst peinlich zu sein, wie sein Chef mich anbaggerte und er unterstützte meinen geordneten Rückzug aus der Galerie.

Anschließend liefen Frieder und ich die Schlüterstraße in Richtung Kudamm. Wir überquerten erst die Kant- und dann die Niebuhrstraße, und endlich drückte mich mein Begleiter in eine ziemlich normale Berliner Kneipe, sie hieß „Zum Schotten“. Auf den ersten Blick schottisch war, dass man bei Licht und Einrichtung offensichtlich gespart hatte. Die finstere Kaschemme war nur mit wenigen Gartenmöbeln und einem heruntergekommenen Billardtisch möbliert. Ganz und garnicht nach meinem Geschmack . Der einzige Lichtblick war ein schönes altes Canada Dry-Schild, das über der Theke hing.
Bei dem Kellner mit Schmalzlocke bestellte ich also ein Canada Dry, ungeöffnet in der Flasche, was mit verhaltenem Unmut quittiert wurde. Kaffee oder Tee würde ich in diesem Laden nicht anrühren. Beaky war da nicht so heikel, er trank schwarzen Kaffee, den der Kellner aus einer Thermoskanne eingoss.
Mir fiel ein, dass ich schon mal in diesem Laden war. Schon Ende der 60er Jahre traf sich hier eine Mischung von linken Studenten und denen, die sie gern als Genossen gehabt hätten, nämlich die Angehörigen der ansässigen Arbeiterklasse. Kiffen war dort verpönt, doch handelte man mit Tabletten, Captagon, An1 und anderen Helfern fürs Examen oder die Frühschicht im E-Werk oder in der Gipsformerei. Ich war dort 1969, in einer Ecke stand ein Fernseher und die Gäste verfolgten mit skeptischer, berlinischer Abgeklärtheit die Live-Übertragung der ersten Mondlandung. Vielleicht war hier der Ort gewesen, wo zum erstem Mal behauptet wurde, dass es sich bei diesen Bildern von der Mondlandung um eine Fälschung handelte, stellte ich mir vor. Man kann den Berlinern viel vorwerfen, Leichtgläugibkeit gehört nicht dazu. Im Gegenteil, zum Wesen des Berliners gehören Misstrauen und Zweifel, wie die Molle zum Korn.

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Ich öffnete die Flasche, genoss einen ersten Schluck Ginger Ale aus der Flasche, das schmierige Glas rührte ich nicht an, dann eröffnete ich das Gespräch: „Du scheinst meine Gardinenpredigt ernst genommen zu haben, oder hattest du andere Gründe deine Performance aufzupolieren?“ Seit ich den Nicolas Roeg Film mit Mick Jagger gesehen hatte, war „Performance“ eines meines Lieblingswörter.
Ich beobachtete wie Beaky mit Worten rang und einen Einstieg suchte. „Na ja, weißt du, letzte Woche im Café Bleibtreu. Du hast mir erzählt, wie glücklich du mit deiner Freundin Ilona bist und mir ist klar geworden, dass ich auch so eine Beziehung suche.“ Ich nickte verständnisvoll und ließ ihm Zeit zu formulieren. „Da habe ich mich entschlossen mit dem Scheiß-Pulver aufzuhören. Also, mit dem Speed habe ich das schon geschafft, ein bißchen H sniefe ich aber noch.“ Das H sprach er englisch aus, wie es in der Berliner Drogenszene üblich war, es hörte sich wie „Ehtsch“ an. „Sniefen“ war wohl auch ein Wort das es nur in dieser Subkultur gab. „Damit ist aber auch bald Schluss“, fuhr er fort, „Sag mal, im Bleibtreu war doch diese Hanna, die Kellnerin. Kennst du die gut?“ „Nö, ist eigentlich mehr Ilonas Freundin. Aber ich hatte mir schon gedacht, dass du mich nach ihr fragst. Die hat dir gefallen, ne?“ Beaky nickte, aber zog die Stirn kraus. Er war sich unsicher und er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte und bat mich um Hilfe.

Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch der wusste, dass Beaky noch Jungfrau war. Außer einer Knutscherei im Anne-Frank-Haus hatte er keine sexuellen Erfahrungen mit irgendeinem weiblichen Wesen. Die Tatsache war ihm peinlich, aber weil er mich für so etwas wie seinen Beichtvater hielt, hatte er es mir erzählt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Nun legte er mir nahe für ihn den Liebesboten Amor zu spielen. Im Grunde hatte ich sowas erwartet. Beim Verkuppeln hatte ich zwar keinerlei Routine, doch wie so häufig im Leben bemühte ich mich die Aufgabe als Schauspielpraxis zu betrachten.

Ich lud also Hanna zu einem Picknick ein. Am Samstagmittag liefen wir, Ilona und ich, zum Zooeingang gegenüber vom Bahnhof, das war der vereinbarte Treffpunkt. Meine Freundin und ich hatten eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet und bei Ullrich kauften wir noch ein Fläschchen Rotwein, kurz bevor um 13 Uhr der Laden zumachte.
Hanna kam zuerst, überpünktlich und Beaky verspätete sich etwas, er wirkte aber frisch und clean. Wir liefen los, ließen rechts von uns den Zoo, wir überquerten die Schleuse und waren bald im Tiergarten. Dort an einem See kannte ich eine seichte Stelle. Wenn man Füße und Waden freimachte, konnte man dort durchs Wasser waten. Belohnt wurde man durch eine kleine, menschenleere Insel. Die Idee kam mir, als ich in Puvogels Schaufenster „Einschiffung nach Kythera“ gesehen hatte.
Auch ohne Schiff hatte der Nachmittag etwas Romantisches, Hanna lachte über Beakys Scherze, auch über die unbeholfenen. Als wir uns am frühen Abend verabschiedeten, beschloss Beaky Hanna noch nach Hause zu begleiten. Dann hörte und sah ich von den Beiden für längere Zeit nichts, was ich als gutes Zeichen wertete.

Hanna wohnte in einer winzigen Mansarden-Wohnung in der Düsseldorfer Straße. Wie in vielen Nebenstraßen des Kudamms hatte man dort kleine Dachgeschosswohnungen mit Atelierfenstern geschaffen. Es war billig damals und romantisch, nur im Winter zog es ziemlich. Beaky hatte ja nun Hannas Adresse und er beschloss um sie zu werben. Das tat er zunächst mit mehreren Postkarten, auf die er Zeilen aus Popsongs schrieb. Nichts Kitschiges, eher coole Zitate. Er hatte keine Erfahrung in solchen Dingen, er tat es auf seine Art. Folglich hatte es mit Musik zu tun. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus und er war sich auch ziemlich sicher, dass Hanna einen Nerv für Texte von Bob Dylan, Janis Joplin und Jimi Hendrix hatte, die er für sie aussuchte. Nach einer Woche beschloss er aufs Ganze zu gehen. Er steckte ihr ein Mixtape in ihren Briefkasten, zusammen mit dem Vorschlag sich zu treffen und seiner Telefonnummer. 1973 war ein Mix-Tape ganz weit vorne, die Avantgarde der zeitgenössischen Liebeswerbung sozusagen.

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„Won’t you come with me baby?
I’ll take you where you wanna go.
And if it don’t work out,
You’ll be the first to know.
I’m pledging my time to you,
Hopin’ you’ll come through, too.“
(„Pledging my Time“, Bob Dylan aus dem Album „Blonde on Blonde“, 1966)

Und wirklich ruft Hanna Beaky an, seine Liebeswerbung hat sie amüsiert und sie mag den langhaarigen, etwas unbeholfenen Jungen gern. Also treffen sie sich am Olivaer Platz, an der Einser-Haltestelle. Er besteht darauf, sie zum Essen einzuladen.
Sie laufen den Kudamm in Richtung Halensee und Hanna fragt, halb besorgt, halb scherzhaft:“Du willst mich aber nicht in den Athenergrill ausführen?“ Er schüttelt den Kopf, tatsächlich ist ihm die Frage peinlich, er wird sogar ein wenig rot. Wenige Meter hinter dem Athenergrill, hält er ihr eine Tür auf. Ins “Ciao” lädt er sie ein. Einen schicken Italiener, wo man manchmal sogar Schauspieler oder andere Prominente sieht. Schon ist der Kellner da, wieselt um die Beiden, radebrecht, „Einen Tisch, a due?“ Beaky nickt und der Kellner will sie ganz hinten im Lokal platzieren, Hanna stoppt ihn souverän. Sie will am Fenster sitzen, was auch kein Problem ist, der Laden ist fast leer.
Hanna hat nur eine rosafarbene Weste und nichts zum Ablegen an, Beakys Fransenlederjacke will ihm der Kellner abnehmen, es gibt etwas Gezerre und Beaky gewinnt das Match. Einen Freund haben sie in ihrem Kellner nicht gewonnen mit diesem Entrée.
Jetzt bringt der Kellner Beaky die Weinkarte, davon lässt er sich nicht irritieren, man hat ihn vorgewarnt. Weltmännisch sucht er einen bezahlbaren Wein aus, auch das probieren und freundlich Nicken bekommt er hin. Aber er fühlt sich überhaupt nicht wohl und schließlich gesteht er sein Missempfinden Hanna, die sieht es ähnlich. Als sie Beaky darauf hinweist, dass der Kellner einen ganz anderen, teureren Wein gebracht hat, kommt Beaky eine spontane Eingebung, Er bedeutet Hanna ihr Glas auf Ex zu trinken, dann zerrt er sie hoch, greift seine Jacke, schleust sie durch den Eingang auf den Gehsteig. Sie rennen los, er hat sich vorher versichert, das sie keine Absätze trägt. So jagen sie den Kudamm hoch zurück in Richtung Leibnizstraße und kichern. Als sie an der Ecke Eisenzahnstraße sind, blicken sie zurück und sehen den gestikulierenden Kellner, worauf sie einen erneuten Lachanfall bekommen. Sie halten sich die Bäuche und lachen bis es wehtut.

Sie haben einen großartigen Abend, Beaky hat nicht nur Hoffnung, er ist sich fast sicher, dass Hanna ihn auch gern mag. Doch als sie spät in Richtung Düsseldorfer Straße spazieren, wird Hanna auf einmal ernst. Sie will keinen Freund, für den Drogen wichtiger sind als sie. Er wäre ja wohl auf Speed gewesen, beim ersten Sehen im Bleibtreu, und Speed ginge nun garnicht. Genauso wenig wie Heroin. Abends oder am Wochenende mal kiffen sei aber kein Problem. Beaky beichtet seine Drogenkarriere, nun ja, vielleicht beschönigt er ein wenig, aber im Großen und Ganzen ist er ehrlich, bis auf eine Ausnahme und wegen dieser wird es Ärger geben. Die Frage ist nur wann.
Zunächts endet der Abend mit einem Küsschen, das Hanna Beaky auf die Wange gibt. Was Beaky nicht unrecht ist, er fürchtet sich vor dem „ersten Mal“. Seinem ersten Mal, seiner Unerfahrenheit, die Hanna merken könnte. Auch bei diesem Thema hat er nicht ganz die Wahrheit gesagt. Aber was ihn die halbe Nacht wachhält und immer wieder durch sein Hirn kreist ist der Gedanke, dass nur das Heroin ihn so cool und schlagfertig gemacht hätte, an diesem Tag mit Hanna. Das er ohne das Sniefen unsicher gewesen wäre, gestottert hätte und rot geworden wäre. Und das sie ihn nicht mehr wollen würde, wenn sie das mit dem Heroin wüsste. Er ist in einem Dilemma. Immer wieder dreht sich die Kausalkette in seinem müden Hirn und erst gegen Morgen schläft er ein. Es ist ein tiefer, traumloser Schlaf.

Fortsetzung folgt

Der Roman ist als Buch erschienen. Bestellung unter:

marcusklugeberlin@yahoo.de

Mit einer Illustration von Rainer Jacob. Um die Illu groß anzusehen, einfach daraufklicken.

Einschiffung nach Kythera:
http://de.wikipedia.org/wiki/Einschiffung_nach_Kythera

Pledging my Time:
http://www.bobdylan.com/de/node/25804

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Am Draht” / Die Legende von Xanadu Kapitel Vier / 1973

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Von Anfang an war klar, wer das Zeug testen würde. Speedy, nomen est omen, ist ein durchgeknallter Ex-DDR-Bürger, der drüben im Knast saß und freigekauft wurde. Im Westen stürzt er sich in die Drogenszene, wobei er eine Vorliebe für alles was schnell macht zu haben scheint. Das Rezept hat Beakys Freund, der Doktor, von einem G.I. gekauft.
Sie brauchen ein Schlankheitsmittel aus der Apotheke, das gibt etwas Rennerei. Mehr als zwei Monatsvorräte wollen sie nicht auf einmal kaufen. In der Drogerie ist es einfacher, Beaky kauft gleich 20 Packungen von einer bestimmten blauen Stofffarbe. Er murmelt etwas von T-Shirts und Batik. In einer weiteren Drogerie kommt noch eine Art Katalysator dazu und dann können sie loslegen. Es wird natürlich kein lupenreines Amphetamin, was sie da brauen, aber eine Art Speed soll es schon sein. Es macht angeblich hammerwach, euphorisch und die Wirkung soll für mehrere Stunden anhalten.
Die Herstellung ist schwieriger als vermutet. Erst beim zweiten Versuch, nach einer knappen Woche Arbeit, gelingt es ihnen bläuliche Kristalle herzustellen. Speedy sitzt gerade auf dem Trockenen und ist mehr als motiviert das Eigengebräu zu testen. Der Doktor zerstößt die Kristalle und formt zwei lange, einladende Linien auf einem Spiegel. Er soll erstmal eine nehmen, doch er zieht sich blitzschnell gleich beide in die Nase. Nach wenigen Minuten sackt Speedys Kreislauf weg. Er wird leichenblass und der Doktor kann kaum mehr einen Puls fühlen, Speedy hat die Augen geschlossen und ist nicht mehr ansprechbar. Damit haben sie nun garnicht gerechnet, ein fataler Anfängerfehler. Der Doktor kommandiert, sie schleppen ihn ins Badezimmer und legen ihn in die Badewanne. Dort verabreichen sie ihm eine kalte Dusche und der Doc gibt ihm einige sanfte Ohrfeigen, tatsächlich hat beides eine Wirkung. Alle atmen auf und langsam bekommt Speedy wieder Farbe im Gesicht, schließlich schlägt er die Augen auf, grinst und fragt: “Habt ihr noch mehr davon?”

Im Frühjahr des Jahres 1973 sitze ich im Café Bleibtreu, es ist noch früh. Ich bin eben erst aufgestanden, noch nicht richtig wach und schwatze mit der Kellnerin. Wir reden über die Musik der 60er Jahre und fragen uns, wieso das Jahrzehnt, in dem wir leben so wenig tolle Popmusik hervorbringt. Sie kennt sich sehr gut aus und gibt ihr gesamtes Trinkgeld für Platten aus. Hanna ist nicht sehr groß, keine Twiggy, hat blonde halblange Haare und entzückende Grübchen. Sie ist eine Freundin meiner Freundin Ilona, sie kommt aus Bielefeld und studiert nicht sehr zielstrebig Psychologie. Was sie wirklich mit ihrem Leben machen will, weiß sie noch nicht. Als Kellnerin ist sie eine Idealbesetzung, sie kommt mit jedem klar. Ein Mann der auf sein Frühstück wartet reklamiert und Hanna kümmert sich um ihn. Der untersetzte Mittdreißiger lümmelt einige Meter entfernt, mit dem Rücken zur Wand in der Mitte der Bistrobank, die Arme und Beine lang ausgestreckt. Er ist offensichtlich ein aufbrausender Charakter, Hanna beruhigt ihn und bringt ihm sein Frühstück, aber es fehlt nicht viel, beinahe wäre der Kerl explodiert.

Der Herr ist etwas untersetzt, hat bereits tiefe Geheimratsecken und wirkt recht durchschnittlich. Zwei Aspekte heben ihn aus der Menge, zum einem seine hochhackigen, auf Hochglanz polierten Chelsea-Boots und seine sorgfältig manikürten Fingernägel. Während er seine Mahlzeit verputzt, liest er in einem dicken Hefter. An irgendjemand erinnernt er mich.

Ich widme mich dem Tagesspiegel, wieder einmal bestimmt die Watergate-Affäre den Auslandsteil. Richard Nixon hat seinen Kontrahenden mit Wanzen im Watergate-Hotel in Washington abhören lassen und nun gefährdet der Skandal seine Präsidentschaft. Kaum zu glauben, in Deutschland kann ich mir derartiges nicht vorstellen. Im Inland dominiert die Bayerische Landesregierung die Seiten, sie hat Verfassungsbeschwerde gegen den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag eingelegt. Bayern, frage ich mich, gehört das überhaupt zum Inland? In diesem Moment läuft jemand am Café Bleibtreu vorbei, dessen Silhouette ich kenne. Ist das nicht Beaky? Ich besiege die vormittäglich mächtige Schwerkraft und flitze raus aus dem Lokal dem rothaarigen, ehemaligen Schulfreund hinterher. Er ist es und ich lade ihn zum Kaffee ein.

Erneut hat er sich auffallend verändert, obwohl das letzte Treffen nur ein paar Monate zurückliegt. Er ist schmaler geworden, die Wildlederjacke ist ihm zu groß und ein enggeschnürter Gürtel hält die weite Jeans. Die Hände wirken ungepflegt, er hat Nikotinflecken und er scheint an den Nägeln zu kauen. Er wirkt fahrig und seine Pupillen sind unnatürlich weit.

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Ohne Punkt und Komma beginnt er sprechen, es dauert einen Moment, bis ich Anschluss bekomme und verstehe worauf er heraus will. Es ist eine Verschwörungstheorie, die er mir in seinem aufgeputschten Zustand erklären will. Sie handelt von einem “Tavistock-Institut” in England, angeblich soll es die Beatles, das Hippietum und die gesamte 68er Revolte geplant und eingefädelt haben, als Teil eines Plans zur Errichtung einer neuen Weltordnung. Danach versuchen Hochfinanz und andere Profiteure mit der Grundmethode “Permanenter Schockzustand” ein Klima von Angst und Bedrohung zu etablieren. Ölkrise, Waldsterben und Terror sollen die Menschen in Rückzug und Realitätsflucht treiben. Über ein “Unterhaltungsprogramm” könnten dann die Massenmedien die durch Ängste erzeugte Wut kanalisieren. Oh, Mann!

An diesem Punkt seiner wüsten Tirade versuche ich ihn zu unterbrechen. Das hätte ich schon früher tun sollen, aber Müdigkeit und Überraschung hatten mich scheinbar gelähmt. “Das ist starker Tobak, Beaky. Wo hast Du denn die Räuberpistole her?”
“Der Doc und ich sind doch jetzt im Speed-Geschäft. Einer unserer besten Kunden ist ein älterer Ami, der sagt, er war früher beim CIA und er hat da mitgemacht”, Beakys Monolog hat etwas am Fahrt verloren und ich bremse ihn nochmal ab: “Komm, lass uns erstmal was zu trinken bestellen.”

Ich rufe Hanna und stelle beide einander vor. Sie schütteln sich die Hände, etwas länger als es normal wäre, habe ich den Eindruck und dann verlässt uns die Kellnerin wieder um Beaky eine Cola und mir einen weiteren Kaffee zu bringen.
Ich würde das Thema gern zum Abschluss bringen, also frage ich Beaky, was den diese Verschwörung direkt mit ihm zu tun haben sollte, denn mir scheint das alles sehr global und spekulativ zu sein.
“Na ja, die Drogen. Ist dir nie aufgefallen, das plötzlich irgendwann in den 60er Jahren überall Drogen aufgetaucht sind. In den USA, in Europa, sogar in Vietnam. Das haben die gesteuert.”
“Aber wer sind denn DIE?”
“Die hinter dem Tavistock-Institut stehen, die haben dann vom Drogenhandel profitiert. Wirtschaftsbosse, Geheimdienste, was weiß ich?”

Das Speed für paranoide Empfindungen sensibel macht, ist ja nichts Neues. Und so sieht Beaky sich in diesem Moment, im Frühsommer 1973, als Marionette unheimlicher Kräfte, die ein Interesse hatten, eine ganze Generation erst in die Rebellion und dann zu den Drogen zu treiben. So wild diese Gerüchte sein mögen, vielleicht ist ein Körnchen Wahrheit in ihnen verborgen, sage ich mir. Aber etwas nicht völlig von der Hand zu weisen ist etwas anderes, als es zu glauben. Beaky jedenfalls scheint, als er mir seine wilde Theorie im Café Bleibtreu präsentiert, gläubig zu sein. So als ob es seine momentane Religion wäre. Ich hoffe, er wird möglichst bald zu etwas Vernünftigerem bekehrt werden.

Glücklicherweise haben wir das Thema nun hinter uns gelassen, doch Beakys nächster Gesprächsgegenstand begeistert mich auch nicht. Denn er erzählt mir von dem Speed-Rezept und davon, dass er fast unbegrenzt viel von dem Zeug bekommen kann. Was garnicht gut ist für den labilen Beaky, denke ich.

Obwohl ich mir zuerst vorkomme, als ob ich gegen eine Wand rede, mache ich den Versuch, ihm das Zeug auszureden. Ich erkläre ihm, es ist die Droge, die am schnellsten Körper und Geist kaputt macht. Es liegt mir fern, den Moralapostel zu geben, aber Speed nehmen ist so dumm und folgenschwer. Ich argumentiere: “dümmer und folgenschwerer als andere Drogen, mit Ausnahme von Klebstoff schnüffeln. Es ist als ob man eine 30jährige Trinkerkarriere in drei Jahren absolvieren würde.”

Ich kann mich irren, aber meine Worte scheinen auf ihn zu wirken. Während ich mit Beaky spreche beobachte den kleinen Mann mit den “Beatles-Stiefeln”. Während er liest macht sein Körper die Andeutung von Gesten und mir wird klar, dass es ein Schauspieler ist, der eine Rolle lernt. Aber welche? Und woher kenne ich den Mimen?

In diesem Moment wechselt die Musik, Hanna hat “Dr. Hook and the Medicine Show” in den Kassetten-Spieler gelegt. “Sylvias Mother” läuft, der erste Track vom ersten Album der Band mit dem Drogen-Image. Dabei schaut sie zu unserem Tisch hinüber und grinst. Ich kenne Hannas Humor und vermute in der Musikauswahl einen Kommentar auf meinen Bekannten Beaky, der heute nicht verbergen kann, dass er “high” ist. Kein böser Kommentar, eher das was englisch “tongue in cheek” heißt, also “augenzwinkernd”. Ich fange Hannas Grinsen auf und lächle zurück, auch Beaky lächelt, er mag wohl Dr. Hook, Hannas milde Ironie entgeht ihm aber, aufgeputscht wie er ist.

Um Beaky aufzuheitern frage ich ihn nach Xanadu, seinem Lieblingsthema, ob er denn jetzt bald dorthin aufbräche. Genau wie eben bei seinen Verschwörungstheorien zieht sich seine Stirn kraus und er poltert los, Xanadu gäbe es garnicht wirklich. Kublai Khan, der Enkel des Dschingis Khan, habe da zwar ein Lustschloss errichten lassen. Doch 100 Jahre danach, im 13ten Jahrhundert, hätten die Chinesen Xanadu bereits wieder zerstört und der Erde gleichgemacht. Und Marco Polo wäre auch nie dagewesen.

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Ich überlege krampfhaft mit welchem Thema ich Beaky auf andere Gedanken bringen kann, der arme Kerl ist wirklich arg neben der Spur. Schliesslich habe ich eine Idee und rufe Hanna an unseren Tisch und bitte sie sich einen Moment zu setzen, das Café ist nicht voll. Ob sie Dr. Hook-Fan ist, frage ich sie. Nein, Fan ist zuviel gesagt, die Musik sei ja eher spaßig gemeint. Beaky wirft ein, das das zweite Album sowieso besser sei, “Cover of the Rolling Stone” wäre doch großartig, worauf Hanna nickt. Zwischen den beiden entspannt sich ein Gespräch und ich ziehe mich kurz auf die Toilette zurück.

Als ich zurückkomme stellen beide fest, riesige Bob Dylan Fans zu sein. Fast im Chor ergänzen sie, das das besonders für die frühen Jahre des Musikers gilt. Sie lächeln sich an. Dann frage ich sie: “Kuckt da jetzt nicht hin, aber der kleine Mann dort, ist das nicht ein Schauspieler?” Natürlich kucken beide sofort hin. Beaky schüttelt den Kopf, aber Hanna weiß was. “Ja doch, mir dämmert es.” Sie verspricht beim Abräumen auf das Manuskript zu kucken, vielleicht hilft uns das weiter.

Beaky fällt auf, dass es schon nach zwölf ist und er einen Termin hat. Sein Job, wie er sagt. Weil er auf Bewährung ist, arbeitet er für einen Antiquitätenhändler und Galeristen, als Fahrer, Lagerarbeiter und alles was so anfällt. In Wirklichkeit macht er auch kleine Deals für seinen Chef, der wie viele seiner Kollegen damals nebenbei Drogengeschäfte macht. Dafür bescheinigt dieser, dass Beaky 40 Wochenstunden bei ihm beschäftigt ist, obwohl es meist nur zwei Tage sind. Beaky muss also los, aber er nimmt sich die Zeit nach Hanna zu fragen. Ob sie einen Freund habe?

Inzwischen hat Hanna versucht dem kleinen Mann mit dem schütteren Haar seine Geheimnisse zu entlocken. Ein Titel steht auf dem Manuskript, “Welt am Draht” und noch ein Name: “Fassbinder”. Auch der Name des Schauspielers ist ihr eingefallen: “Klaus Löwitsch”. Natürlich. Wir überlegen was Fassbinder, das Film- und Theater-Wunderkind aus München da wohl wieder inszeniert. Schon damals fiel uns auf, wieviel dieser Rainer Werner Fassbinder produziert und in wie kurzer Zeit. Als ob er wüsste, dass er nicht viel Zeit haben würde.

Als ich gehe und mich von Hanna verabschiede fragt sie nach Beaky. Ob er viele Drogen nimmt. Ja schon, antworte ich, doch wenn er mal eine wirklich liebe Frau kennenlernte, könne er das überwinden. Und Hanna murmelt nachdenklich: “Eigentlich ist er ziemlich niedlich.”

Fortsetzung folgt

“Welt am Draht” ist ein zweiteiliger Fernsehfilm von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahre 1973. Die Science-Fiction Geschichte handelt von einer Welt, die sich als eine Computersimulation herausstellt. Die Hauptfigur Fred Stiller wird vom Schauspieler Klaus Löwitsch verkörpert.

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=URq7m3-SOtA

„Mit seiner von einem ‚Goldmann Weltraum Taschenbuch‘ inspirierten Story nimmt Welt am Draht eine Diskussion vorweg, die erst später in vollem Umfang ausdiskutiert werden sollte. Fassbinder fragt nach grundlegenden philosophischen Konzepten des Seins, der Realitätswahrnehmung, und eben auch der Videoüberwachung. Er fragt nach dem Objektstatus von überwachten Subjekten und skizziert den Alptraum, als Individuum mit dem Glauben an seine eigene Existenz lediglich einem Trugbild zum Opfer zu fallen (sicher nicht zufällig heißt der Supercomputer des Films Simulakron). Zahlreiche aktuelle Filme nehmen diese Thematik auf, von Cronenbergs eXistenZ über Matrix von den Wachowsky Brothers (sic!) oder Dark City von Alex Proyas. Ein Rückblick auf Fassbinders Werk bringt dem Zuschauer sicherlich einige neue Erkenntnisse, denn Fassbinder inszeniert zwar möglicherweise ein wenig langsamer als genannte Kollegen, dafür allerdings auch mit ein wenig mehr Tiefgang.“
Benjamin Happel, Welt am Draht. Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. filmzentrale.com, abgerufen am 10. Mai 2013. Zitiert nach WiKi.
Das Fersehspiel verschwindet nach der Erstsendung für Jahrzehnte im Archiv. Zur Berlinale 2010 wird eine restaurierte Fassung hergestellt. Michael Ballhaus, der Kameramann des Films, leitet die Arbeiten daran. Bereits 1999 wird der Stoff unter dem Titel “The Thirteenth Floor” neu verfilmt. In der US-amerikanisch-deutschen Produktion spielt Armin Müller-Stahl die Rolle des Helden.

-Der Regisseur, Autor und Schauspieler Rainer Werner Fassbinder stirbt im Alter von 37 Jahren am 10. Juni 1982 in München. Die Todesursache ist Herzversagen, vermutlich ausgelöst durch eine Mischung aus Überarbeitung, Kokain, Schlaftabletten und Alkohol.

-Der Schauspieler Klaus Löwisch stirbt am 3. Dezember 2002 in München an Krebs, er wurde 66 Jahre alt.

Die Tavistock Verschwörung:
http://de.verschwoerungstheorien.wikia.com/wiki/Tavistock_Institute

Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet. Das nächste Kapitel erzählt wie es mit Beaky und Hanna weitergeht. Wird Beaky seine Drogenprobleme in den Griff bekommen? Die fünfte Episode hat den Titel: “Die Einschiffung nach Kythera”: https://marcuskluge.wordpress.com/2014/06/05/familienportrait-einschiffung-nach-kythera-die-legende-von-xanadu-kapitel-funf-1973-von-marcus-kluge/

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Uhrwerk” / Die Legende von Xanadu Kapitel Drei /  von Marcus Kluge / 1973

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1973 lebe ich mit meiner Freundin Ilona in einer WG in der Schlüterstraße 34. Seitdem ich 1970 vom Gymnasium geflogen bin, habe ich Beaky nicht mehr gesehen. Ich habe öfter an ihn gedacht und mich gefagt, was wohl aus ihm geworden ist. Deshalb freue ich mich, als er anruft und vorschlägt mit mir ins Kino zu gehen. Ich habe “Uhrwerk Orange” von Stanley Kubrick schon gesehen, schaue ihn mir aber gern nochmal an. Beaky holt mich ab und ich bekomme einen Schreck. Er wirkt älter, deutlich älter als die 21, die er jetzt alt sein müsste. Er ist blass und seine Haare sind zwar immer noch lang, doch nicht mehr so gepflegt wie früher. Da er etwas spät ist, die Uhr zeigt schon nach drei, hetzen wir los. Wir laufen den Kudamm in Richtung Halensee hoch oder hinunter, je nach dem, die Berliner können sich in diesem Punkt nicht einigen.

Kurz hinter der Leibnizstraße stoppt mich Beaky, er will sich noch einen kleinen Joint bauen. Ohne auf die Passanten um sich herum zu achten, zieht Beaky eine Platte Haschisch aus seiner braunen Wildlederjacke. Die mit den Fransen, die ich von früher kenne, sie sieht immer noch cool aus, edelgammlig könnte man sagen. Er beißt ein kleines Piece ab, dann schiebt er das große Stück, ich schätze es wiegt 200 Gramm oder mehr, achtlos wieder weg. Nachdem er Blättchen und Tabak hervorgeholt hat, läuft er wieder los. Ich haste hinterher und beobachte wie er im Laufen, mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers einen kleinen Joint dreht, der wie eine normale Zigarette aussieht. Ich frage, wo er dieses Kunststück gelernt hat und er erwidert: “Im Knast”, während er mich kurz prüfend ansieht. Ich bin bestürzt und meine Miene zeigt das wohl auch.
Wir kommen im Kino Studio an, es muss das letzte Mal gewesen sein, dass ich dort war. Das Lichtspieltheater im Mendelsohnbau schließt bald danach. Heute beherbergen diese Räume die Schaubühne, das berühmte von Peter Stein geprägte Theater. Wir haben Glück, die Vorstellung hat noch nicht angefangen, es sind nur wenige Zuschauer gekommen, man noch gewartet. Als die Werbung beginnt, geht Beaky aufs Klo. Als zurück kommt, hat der Film bereits begonnen. Dann konzentrieren wir uns auf die traurige Geschichte von Alex und seinen Droogs.

Der ausgezeichnete Film fesselt mich erneut. Ich verfolge die bösen Taten des Helden und leide mit ihm, als er in den Knast kommt. Als Alex schließlich eine Aversionen erzeugende Droge gespritzt bekommt und festgeschnallt stundenlang “horrorschaumäßige” Filme ansehen muss, fällt mir auf, dass Beaky neben mir mit schreckgeweiteten Augen auf die Leinwand starrt und seine Fingernägel in die Oberschenkel drückt. Er wirkt wie ein Spiegelbild von Alex. Ich frage ihn und erst später wird mir bewusst, dass das eine ziemlich blöde Frage war: “Bist du OK?” Statt zu antworten schüttelt er den Kopf. Ich zerre ihn aus der Stuhlreihe, wir verlassen den Saal und finden uns in einem der runden Gänge, die um die Säle herum führen. Beaky ist noch bleicher geworden und mir fällt auf, dass er Stecknadelpupillen hat.
Ich verwerfe meine erste Theorie, nach der Beaky eine Panikattacke erlitten hat. Ganz offensichtlich hat er auf dem Klo noch weitere Drogen genommen, wahrscheinlich hat er ein Opiat gespritzt. In den frühen 70er Jahren dachte man relativ schnell an Heroin, weil es in Berlin billig und leicht zu beschaffen war. Außerdem hatten die meisten Angehörigen meiner Generation Heroinsüchtige in der näheren oder weiteren Bekanntschaft erlebt und man kannte die Anzeichen. Leider hatte auch fast jeder aus meinem Bekanntenkreis jemand durch Heroin verloren.

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Aber Beaky? Natürlich, er hatte zwar schon früher gekifft und Trips genommen. Aber ansonsten war er ja fast sowas wie ein Gesundheits-Freak. Kein Alkohol! Kein Tabak! Und nun Heroin? Fixen? Mir fällt ein, wie er Anfang 1970 auf einem Pink Floyd Konzert im Audi Max der TU eine Handvoll mit LSD getränkte Löschpapierabschnitte eingeworfen hatte, ohne jedes Bedenken. Damals war er auf einen Horrortrip gekommen, Andi und ich mussten ihn nach Hause bringen und die Stunden abwarten, bis er wieder im Hier und Jetzt Fuß gefasst hatte. Damals hatte ich schon einmal gedacht, dass es wohl so etwas wie Dämonen geben musste, die dem introvertierten Jungen in schlimmen Stunden zusetzen würden. Doch wo kamen sie her? Seine Mutter war ein stilles Wasser, lieb und fürsorglich.

Es war wohl eher der Vater, der seine Kriegserfahrungen wie die meisten Männer in sich begrub, wo sie vor sich hin faulten, gärten und sich Wege bahnten, um nach außen zu gelangen. Das wiederum bekämpfte Beakys Vater mit Alkohol, jeden Abend in seiner Kneipe, nach einem genauen Plan. Jede Stunde nur ein Drink, diesen aber pünktlich. Was mir noch einfällt ist das Schweigen von Beakys Vater, sein Unvermögen über Gefühle zu sprechen, überhaupt über irgendetwas zu sprechen, das nichts mit Sport, Politik oder Autos zu tun hatte. Dieses Schweigen, das die Mutter nicht aushielt und das möglicherweise zum Ende der Ehe führte, als Beaky noch der kleine Frieder war und seine Mutter ihn schützen wollte, vor einem Vater, der kalt und hohl wirkte. Dieses Schweigen musste wohl Folgen gehabt haben. Schon früh, als der kleine Junge in einer besonders sensiblen Phase war, muss etwas passiert sein, das dem Kind schadete. Und später änderte sich nichts mehr daran, auch nicht das der Vater den Jungen, pünktlich wie ein Uhrwerk, jeden Sonntag abholte und mit ihm in den Zoo ging oder noch lieber ins Kino. Auch da war das Schweigen prägend für den kleinen Frieder, der später auch meist den Mund hielt. Denn das er sich mir anvertraute und solche intimen Dinge erzählte war wohl die große Ausnahme, die die Regel bestätigt.

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Inzwischen habe ich den blassen Beaky in den Waschraum gebracht, ihm die Wildlederjacke ausgezogen und Wasser über seine Arme laufen lassen. Jetzt sehe ich die unverkennbaren Zeichen des Konsums von harten Drogen über die Venen. Einstiche, ganze Reihen von Einstichen, die wie Ameisenkarawanen über die Unterarme laufen und Narben und ein Abszess, der dringend versorgt werden müsste, bevor die eitrige Entzündung zu Fieber und Schüttelfrost führt.

Eine Stunde später kommen wir aus dem Kino, zurück in die Realität eines späten Frühsommernachmittags, dem eben die Sonne die letzten Strahlen des Tages schenkt. Beaky hat sich erbrochen und während wir den Rest des Filmes sehen zwei Flaschen Cola getrunken und sich erstaunlich schnell erholt. Nun gibt es ein anderes Problem, Beaky klopft auf seine Jackentaschen, er sucht aber findet nichts. “Der Haschisch ist weg.” Aus irgendeinem Grund benutzt er den Begriff gern als männliches Hauptwort. Er hat also fast ein halbes Pfund bestes marokkanisches Haschisch im Wert von über 1000.- DM verloren. Er vermutet es sei beim eiligen Jointdrehen passiert.

Wir gehen zurück auf dem Kudamm bis an die fragliche Stelle, aber dort liegt nichts. Gleich daneben klafft eine offene Baugrube, davor streiten sich ein Polizist und ein Bauarbeiter. Der Beamte bemängelt, das die Grube nicht richtig umzäunt ist und eine Beleuchtung fehle auch, inzwischen ist es ja fast dunkel geworden. Ich kann kaum glauben, was ich als dann sehe. Beaky springt plötzlich in die Grube, bückt sich, hebt etwas auf und klettert wieder heraus. Nicht nur ich, auch die beiden Kontrahenden blicken Beaky etwas ungläubig an. Beaky zieht ein Schlüsselbund aus der Tasche und erklärt so beiläufig wie möglich: “Meine Schlüssel. Muss sie vorhin verloren haben. Ein Glück, sie waren noch da.” Der Herr in der grauen Polizei-Uniform erholt sich am Schnellsten: “Da ham se aba Jlück jehabt, junger Mann.” Und er wendet sich wieder dem fahrlässigen Bauarbeiter zu. Damals wussten nur Eingeweihte, was das war, diese graugrüne zehn mal zehn Zentimeter große Platte. Jemand wird es für Müll gehalten und in die Grube gekickt haben.

Beaky und ich laufen zurück in Richtung Lehniner Platz, um im Athenergrill, dem wahrscheinlich beliebtesten Selbstbedienungsrestaurant dieser Jahre, einzukehren. Ich bin dort immer wieder gewesen bis in die 90er Jahre, als ich eine Kakerlake in aller Ruhe durch die Vorspeisenvitrine laufen sah. 1973 habe ich noch Vertrauen in die Restauration und hole mir zwei von den kleinen Mimis Dönern in Pita-Brot, die damals 1.50 kosteten. Beaky isst eine quietschsüße, griechische Angelegenheit aus Joghurt und Honig, auch das bestätigt meine Idee, das er vor allem dem Heroin zugetan war. Denn alle Heroin-Junkies, die ich kennenlernte waren Süßschnäbel, wieso auch immer. Ich trinke Fanta dazu und Beaky schwarzen Kaffee, von dem er im Lauf des Abends vier oder fünf Tassen trinkt, denn wir sitzen lange im Athenergrill. Das war ja das Gute an diesem Etablissement, es schloss nie. Irgendwann gegen morgen kamen zwei mürrische Putzfrauen und vertrieben die Gäste, aber nur für eine kurze Weile, dann kehrten die üblichen Gestalten zurück und man hatte den Eindruck, sie seien nie weg gewesen.
In dieser Nacht verpassen wir die Putzkolonne, doch es ist deutlich nach Mitternacht, als wir uns verabschieden. Die meiste Zeit hatte Beaky gesprochen, er legte wieder soetwas wie eine Beichte bei mir ab und ich hörte zu. Ich hörte gerne zu, ich mag es wenn man mir Geschichten erzählt und man sagt, ich sei ein guter Zuhörer.

Beaky begann, indem er mir von dem Einbruch in das Medikamentenlager berichtete. Wie er verhaftet wurde mit einer Tasche voll geklauter Medizin, weil ein Anwohner, ein Fleischergeselle aus Bayern, die Polizei gerufen hatte, nachdem er den Lärm der umkippenden Mülltonne gehört hatte. Beaky meinte, er hätte Glück gehabt. Er wurde als Ersttäter nach dem Jugendstrafrecht recht milde bestraft, eigentlich waren es mehr Maßnahmen als Strafen, die er über sich ergehen lassen musste.

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Er schafft sogar mit zwei Jahren Verstätung die Mittlere Reife. Dann fällt er in ein metaphorisches Loch. Er hat keine Vorstellung über Beruf, Arbeit oder Karriere. Er vermeidet standhaft über solche Themen nachzudenken. Da sind die Drogen sehr hilfreich, er kifft wieder ziemlich viel, dealt auch. Den Schmerzmittelmissbrauch hat er scheinbar überwunden. Aber er kommt wieder mit dem Gesetz in Konflikt, mit einem Kilo Haschisch und 50 Gramm Heroin wird er aus dem Zug geholt. Noch einmal bekommt er Bewährung, doch die hält nicht lange und ein übellauniger Richter schickt den eben 20-jährigen in den Bau. Da drinnen gibt es Heroin, aber noch mehr ärgert ihn der Tabak, den er dort rauchen lernt. Er hilft die grausam langgedehnte Zeit zu überstehen. In das ewig Gleiche Einerlei des geregelten Tagesablaufs brennt der Tabak kleine Löcher, durch die der Häftling für kurze Zeit, wenn auch nur im Geiste der Unfreiheit entfliehen kann.

Etwas Gutes hat er dennoch erlebt als Häftling, in der Bücherei hatten sie ein Buch über das Mittelalter in Asien. Endlich erfährt er alles über Kublai Khan und sein prunkvolles Schloss Xanadu. Während er mir das erzählt, hellt sich seine Miene auf und er wird fast wieder zu dem jungen Beaky, wie ich ihn auf dem Schulhof in Erinnerung habe. Er scheint sich selbst zu glauben, als er davon spricht nach China und in die Mongolei zu reisen. Er muss nur noch ein paar Geschäfte abwickeln vorher, dann hätte er genug Geld zusammen und nichts hielte ihn dann noch auf. Ich nicke freundlich, ich will ihm glauben, ich wünsche es ihm von Herzen. Und da ich nach diesem Abend längere Zeit nichts von ihm sehe oder höre, hoffe ich, es hat geklappt mit seinen Reiseplänen.

Fortsetzung folgt

Die Illustration hat Rainer Jacob gezeichnet.

Die nächste Episode beginnt im Café Bleibtreu gegenüber des Kinos Filmkunst 66. Ich unterhalte mich mit Hanna, der Kellnerin, als Beaky auf der Straße vorbeiläuft. Nun trifft Beakys Hektik auf meine morgendliche Lethargie, das Kapitel hat den Titel “Am Draht”.

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Osterspaziergang” / Die Legende von Xanadu Kapitel Zwei /  von Marcus Kluge / 1970

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Seit er mit zwölf am Knie operiert wurde, hat Beaky ab und zu Schmerzen und er zieht ein Bein nach. Sein Freund, der “Doktor” genannt wird, bietet ihm regelmäßig ein Schmerzmittel an, aber Beaky will das nicht. Erst als die Schmerzen ihn über eine Woche quälen und er schon Probleme mit dem Treppensteigen bekommt, willigt er endlich ein, das Medikament zu probieren. Immerhin ist es etwas Medizinisches und stammt nicht von der Szene und ist nicht mit werweißwas gestreckt worden. Das Präparat heißt Validol und “Doktor” gibt ihm 20 Tropfen aus der Flasche auf einem Löffel. Nach einer Stunde sind die Schmerzen weg und Beaky fühlt sich pudelwohl. Er muss an seine OP denken, und wie er damals durch den Garten der Klinik gerollt wurde.

Er gewöhnt sich an das Mittel. Der Doktor hat Vorräte davon, es fällt auch nicht unters Betäubungsmittelgesetz, also kann es nicht so gefährlich sein. In gewisser Weise normalisiert sich sein Leben, er kifft weniger und er steht jeden Morgen auf und geht wieder regelmäßig zur Schule. Das Mittel macht ihn irgendwie cool, er hat keine Angst mehr sich zu blamieren oder rot zu werden. Er steht einfach darüber. Selbst seine Noten werden besser. Seine Mutter freut sich.

Seitdem er seine Geschäfte überwiegend zuhause abwickelt, liest er viel. Romane, Reiseberichte und auch Sachliteratur. Er nimmt ein Büchlein zur Hand, das in die Einsteinsche Relativitätstheorie einführt und er liest 50 Seiten am Stück. Zum ersten Mal hat er das Gefühl die Formel des Physikgenies, E=mc2, zu verstehen. Es bereichert ihn, aber es hat etwas von einer Flucht, wie er sich in die Welt der Bücher begibt. Er probiert, auf meine Empfehlung, “Doktor Faustus” von Thomas Mann zu lesen und ist fasziniert von der alten Geschichte über den Pakt mit dem Teufel. Dieser vielleicht deutschesten aller Geschichten vom Gelehrten Faust, der sich an der eigenen Größe berauscht und dafür die Hölle in Kauf nimmt. Danach stürzt er sich in die Lektüre des “Zauberberg”. Der umfangreiche Roman über den jungen Hans Castorp fesselt ihn nachhaltig. Vielleicht identifiziert er sich mit diesem, der statt ein beschwerliches aber wirkliches Leben zu führen, seine Jahre in der bequemen doch irrealen Welt des Davoser Edelsanatoriums “Berghof” zubringt. Beaky beneidet ihn förmlich um dessen Krankheit, die eine unabweisliche Entschuldigung darstellt, sich nicht den Nöten eines Erwachsenenlebens zu stellen.

Eine andere Lektüre, die ihn begeistert ist eine Erzählung der Reisen Marco Polos. Besonders die Schilderungen von Chang-Du, dem eigentlichen Xanadu, verschlingt er geradezu. Wieso Dave Dee & Co das Märchenschloss nach Mexiko verlegt haben, bleibt ihm rätselhaft. Er nimmt den Schulatlas zur Hand und verfolgt Marco Polos Reiseroute. Er ist nie gern verreist, aber Asien muss schon traumhaft sein. Indien würde er gern sehen, aber auch China. Es ist die Zeit, da viele Hippies und Drogenjünger aus Europa und Nordamerika nach Asien aufbrechen, um dort zu leben, zu sterben oder an Erfahrung reicher zurückkehren.

Im Royal Kino im Europa-Center läuft “2001-Odyssee im Weltraum”. Sie schwänzen die letzte Stunde und gehen in die Vorstellung um 13.30 Uhr. 10 Mark kostet die Raucherloge, der Vorteil ist, sie sind allein da. Es wird gekifft und mehrmals holt jemand Langnese-Eistüten. In die lange psychedelische Farbsequenz werden sie förmlich hereingezogen. Anschließend sitzen sie in der Teestube am Ludwigkirchplatz, trinken Jasmintee und diskutieren stundenlang über den Schluss. Sie kommen zu keinem Ergebnis. Jahre später lese ich, Kubrick war sich im klaren darüber, dass der Film keine Antworten gibt, sondern nur Fragen stellt. Ebendas war sein Ziel.

Nicht nur die chemische Unterstützung macht Beaky cool, auch sein kleines Geschäft stärkt sein Selbstbewusstsein. Seine Kunden kommen zu ihm, manche unsicher und ängstlich, andere gutgelaunt und aufgedreht. Aber alle sind sehr freundlich zu ihm, teilweise bis zur Schmeichelei. Sie bitten Beaky um seine Expertise, er doziert über Haschsorten, Herkunftsländer und die verschiedenen Formen des Konsums. Er ist begehrt, wenigstens nimmt er es so wahr. Das es seinen Besuchern letztlich nur um die Drogen geht, kann er leicht verdrängen. Besonders bei den weiblichen Kunden hält er für Flirten, was eigentlich nur die Pflege einer Geschäftsbeziehung ist.

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Zwei Wochen vor Ostern ist der Doktor verschwunden. Schon seit mehreren Tagen hat ihn keiner auf der Szene gesehen. Beaky weiß, der Ältere übernachtet manchmal bei Frauen. Doch normalerweise dauern diese Besuche nicht lange. Ein zwei Tage und Nächte maximal. Die Medizin ist alle und Beaky hat Schmerzen am Knie. Er fühlt sich wie bei einer Grippe, nur ohne Schnupfen und Husten. Die Nachtstunden vergehen nur langsam, ohne Schlaf, so als ob jemand Sand in das große, universale Uhrwerk geschüttet hätte.

Statt in die Schule geht er zum Arzt. Als er nach Validol fragt, wird der alte Hausarzt ungemütlich. Ob er sich nicht im klaren wäre, dass das Teufelszeug sei. Schmerzen müsse man aushalten, zur Not gäbe es rezeptfreie Mittel. Aber starke Schmerzmittel habe der liebe Gott nur für Sonderfälle geschaffen. Bei Krebs und anderen letalen Heimsuchungen, bei sehr alten Menschen und vor allem im Krieg, wenn “tapfere Männer im Stahlbad verwundet werden, sind die Segnungen des Schlafmohns angebracht”. Lediglich eine entzündungshemmende Spritze verabreicht ihm der Mediziner. Der betagte Herr hat studiert, als der Nationalsozialismus die Werte bestimmte und die meisten Deutschen ebenso dachten. In den Hörsälen für Medizin wirkte dieses Denken noch lange nach. “Hart wie Kruppstahl, ein Deutscher kennt keinen Schmerz.” Nach dieser Ideologie sollten wir sein wie Karl Mays “edle”, aber erfundene Indianer.

Beaky probiert es in der Apotheke, auch dort hat er keinen Erfolg. Aber der Apotheker hat wenigstens eine Empfehlung für ihn. Eine teures Mittel, das Grippekranken den Nachtschlaf erleichtern soll, “Mediluna” heißt es. Mit verschwörerischem Zwinkern deutet der Herr im weißen Kittel an, man könne durchaus mehr nehmen, als auf dem Waschzettel stehe. Es ist rezeptfrei und zusammen mit Aspirin bringt es Beaky Erleicherung und der Apotheker bekommt einen neuen Stammkunden. Eine halbe Flasche am Tag braucht es schon.

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Nach einer knappen Woche taucht der verschollene Freund mit der Arzttasche wieder auf. “War ‘ne echte Honeymoon-Phase.” Er hat tolle Neuigkeiten, behauptet er. “Riesig, Alter, riesig. Allet wat dein Herz begehrt.” Er hat bei einer Freundin in der Brandenburgischen Straße gewohnt und dort einen Raubzug ausbaldowert. Vom Hinterhof der Freundin könne man über zwei Mauern zur Hintertür eines Medikamentengroßhandels gelangen. Dort drinnen befände sich eine paradiesische Auswahl an Drogen und Medikamenten. “Das ganze Zeug wartet nur auf moi.”
Beaky ist erstmal skeptisch, es sei doch sicher alles gut verschlossen. Ja, aber da wäre eine Schwachstelle, ein uraltes Gitter. Allerdings bräuchte es einen zweiten Mann, um die ganzen Schätze wegzutragen. Beaky fühlt sich zwar angesprochen, doch er kann sich nicht vorstellen bei einem “Bruch” mitzuwirken.

Der Doktor hat ihm Validol mitgebracht. Beaky geht es schlagartig besser. Er fühlt sich quicklebendig und vergisst ersteinmal die Pläne des Doktors. Aber der lässt nicht locker. Er bearbeitet Beaky immer wieder und irgendwann vernachlässigt Beaky seine Deckung. Nun lässt der Doktor nicht mehr locker bis klar ist, dass sie beim Einbruch Partner sein werden. Beaky braucht noch nicht einmal mit in die Räume kommen. Er soll nur draussen Schmiere stehen und beim Abtransport der Kostbarkeiten helfen. “Das wird der reine Osterspaziergang”, verspricht der Doktor. Beaky fühlt sich als ob er “zwei Seelen in seiner Brust” hätte, eine waghalsige und eine ängstliche. Er traut sich einfach nicht nein zu sagen. In der Nacht träumt er wildes Zeug, von einem schwarzen Hund und einem Kasperle-Spiel, in dem sich Kasperle, der Teufel und ein Gendarm gegenseitig mit Pritschen auf die Köpfe schlagen. Als er erwacht hat er das Gefühl, der Traum will ihm etwas sagen. Aber was? Und dann ist da auch schon Doktor, der bei Bolle Frühstück geklaut hat. Nach dem Frühstück legen sie sich wieder hin und verschlafen den halben Tag. Zwischendurch liest Beaky.

Dann ist es endlich soweit, gegen Mitternacht kommen sie bei Docs Freundin an. Sie tragen dunkle Kleidung und Doktor hat sein Einbruchswerkzeug dabei. Sie beobachten an einem Fenster zum Hof wie langsam überall die Lichter verlöschen. Die braven Bürger gehen schlafen.
Kurz nach zwei beschließt der Doktor nun wäre es optimal. Sie schleichen, ohne Licht zu machen, die Treppe herunter. Sie haben Schlüssel für die Hintertür und sind bald im Hof. Die erste Mauer ist gut zu überwinden, doch die zweite stellt ein Problem dar. Sie benutzen eine der runden, blechernen Mülltonnen als Stufe. Beaky hält die Tonne fest, während Doktor auf die Mauer klettert. Dann ist Beaky an der Reihe, als er sich abstösst kippt die Tonne, die nun keinen Halt mehr hat um. Ein unglaublich lautes Scheppern erfüllt die Nacht.

Die beiden springen in den nächsten Hof, dem Hof hinter dem Arzneigroßhandel. Sie verstecken sich im Schatten der Mauer. Irgendwo geht ein Licht an. Sie hören wie ein Fenster geöffnet wird, eine Männerstimme. Ist es bayrisch, was der Mann dort flucht? Egal, sie warten bis sich alles um sie wieder beruhigt hat. Sie warten lange, sehr lange. Beaky fragt flüsternd, ob es nicht besser wäre, die Aktion abzublasen? Aber der Doktor ist nicht aufzuhalten so kurz vor dem Ziel.

Also beginnt Doktor das alte Gitter am Hintereingang des Medikamentenlagers aufzubiegen, es gelingt ihm scheinbar mühelos, Beaky ist beeinduckt. Dann setzt der Ältere einen Sauger auf das milchige Fensterglas und schneidet mit einem Glasschneider ein Loch, gerade groß genug um hindurch zu greifen und das Fenster zu öffnen. Der Doc zwängt sich durch die Gitterstäbe und lässt sich dann in den Raum unter ihm fallen. Gleich darauf hört Beaky einen Schmerzensschrei. Flüsternd verständigen sie sich. Der Doktor hat sich den Knöchel verstaucht oder so etwas. Er beisst die Zähne zusammen und erkundet das Lager. Er kann sich nur auf einem Bein hüpfend vorwärts bewegen. Er rafft einige Psychopharmaka und Aufputschmittel zusammen und wirft die Tasche nach draussen. Betäubungsmittel findet er nicht, wahrscheinlich sind diese in einem verschlossenen Schrank. Er sucht weiter. Wieso dauert das solange?

Draussen im Hof hört Beaky eine Polizeisirene. Erst in weiter Entfernung, dann kommt sie immer näher. Er verständigt den Doc, der zischt zurück: “Mach die Fliege, Beaky. Jetzt, sofort.” Beaky tritt ratlos von einem Fuß auf den anderen. Er muss sich entscheiden. Er beschließt den Rat zu befolgen. Er hechtet mit ungeahnter Kraft auf die Mauer und in dem Moment, als er sich in den Hinterhof unter sich fallen lassen will, geht dort das Licht an. Zwei Polizisten betreten die Szene, gefolgt von einem dicken Mann mit einem schwarzen, frisch getrimmten Pudel, der unablässig bellt. In unverkennbar bayrischem Dialekt hört Beaky die Worte: “Ah geh, Teifi. Aus, aus sag i!”

Fortsetzung folgt

Im nächsten Kapitel treffe ich Beaky nach drei Jahren wieder und bin bestürzt über seine Veränderung. In der Episode besuchen wir ein Kino am Lehniner Platz und den Athener Grill, legendäre Orte der Berliner Mauerjahre. Der dritte Abschnitt hat den Titel “Uhrwerk”.

Illustration: Rainer Jacob

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – “Pop” / Die Legende von Xanadu Kapitel Eins / 1968-69 / von Marcus Kluge

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Um halb acht kam die Schwester und gab ihm eine Spritze. “Die ist gegen Angst vor der O.P.” O.P. stand für Operation und Angst hatte er sowieso nicht, er war ja schon zwölf. Aber hier im Krankenhaus behandelten sie ihn wie ein kleines Kind.
Er blätterte in der Bravo, die ihm sein Vater mitgebracht hatte. Normalerweise interessierten ihn die Klatschgeschichten nicht die darin standen, aber am diesem Morgen war es anders. Nun fand er es spannend über Popmusik, Bands und Schauspieler zu lesen. Er stellte sich vor, wie er als Erwachsener berühmt und reich werden würde. Es war wie ein Rausch und das erste Mal überhaupt, dass er sich auf seine Zukunft freute. Kurz nach neun kam ein gutgelaunter Pfleger und schob ihn mit dem Bett aus der Station in den Park der Auguste-Viktoria-Klinik ein paar hundert Meter weit durch ein Schneegestöber, zum Haus mit den Operationsälen. Einzelne Schneeflocken landeten auf seinem Gesicht und berührten ihn auf eine kühlende, belebende Weise. Nein, er hatte keine Angst, ganz im Gegenteil, er fühlte sich sicher und geborgen und er hoffte dieses Gefühl würde für immer anhalten.

Er hieß Frieder, doch das war in seinen Ohren ein völlig unmöglicher Name für einen Jungen. Deshalb hatte er sich den Spitznamen Beaky zugelegt. Einerseits weil er ein großer Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich Fan war und andererseits weil seine Eltern ihn als Kleinkind Schnute genannt hatten. Es hatte die Angewohnheit, wenn er überrascht war oder nicht wusste was er sagen sollte, seine Lippen zu einem Schmollmund zu verformen. Da Schnute sich eher wie ein Tiername im Zoo anhörte, wählte er sich das englische “Beaky” aus. Es dauerte eine Weile bis er tatsächlich auch so genannt wurde. Erst waren es nur ein paar befreundete Mitschüler, dann fast alle die ihn kannten. Seine Eltern wollten sich partout nicht daran gewöhnen. Da waren sie sich einig, erstaunlich, wo sie fast immer unterschiedlicher Meinung waren.
Mir fiel Frieder zuallererst auf, weil er diese auffälligen Hosen mit verschiedenfarbigen Hosenbeinen trug. Er war überhaupt der Einzige, den ich je in Berlin sah, der sich mit diesem Look als Fan der britischen Popgruppe Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich zu erkennen gab. Außerdem hatte er, neben Burkhardt Seiler und mir, die längsten Haare von allen Schülern. Es waren helle rotblonde Haare. Er war kein hübscher Junge mit seiner sehr hellen Haut und den Sommersprossen, eher so jemand wie Boris Becker mit einem Schmollmund. Schlagfertig war er auch nicht, aber ein netter Kerl wenn man ihn näher kannte.

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Er lebte bei seiner Mutter, die Verkäuferin war und sah seinen Vater meistens Sonntags, dann ging dieser mit ihm in den Zoo oder ins Kino. Er mochte seinen Vater gern, auch wenn dieser meist schweigsam war. Als er zwölf oder dreizehn wurde, begann er in der Kneipe seines Vaters zu arbeiten. Er bekam keinen großen Stundenlohn, doch wenn er die Stammgäste bediente, steckten die ihm Trinkgeld zu. Natürlich trank er nicht, er war sehr gesundheitsbewusst und lehnte Alkohol und Tabak ab. Wahrscheinlich hatte er durch die Kneipe genug Anschauungsmaterial, was Alkohol so anrichten konnte. Es war auch das Einzige, was ihn bei seinem Alten störte, dass der als Wirt jeden Abend mit seinen Kunden trank. Wir beneideten Frieder, er hatte immer Geld in der Tasche, eine tolle Anlage und konnte sich Platten und Klamotten kaufen. Mit Geld schien er umgehen zu können.

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Am 20. Februar 1968 erscheint die Single “The Legend of Xanadu” von Frieders Lieblingsband Dave Dee & Co. Er holt sich die Scheibe bei Musicland in der Uhlandstraße. Noch etwas passiert an diesem Tag. In der Teestube am Ludwig-Kirch-Platz kauft er für fünf Mark einen Trip, daheim nimmt er zum ersten Mal LSD. Die Popgruppe vermutet Xanadu in Mexiko. Frieder ist begeistert von den Mariachi-Trompeten und dem Peitschenknall, der den Refrain aufpeppt. Das Halluzinogen erzeugt immer neue Bilderfluten, die sich in Frieders Bewusstsein übertrumpfen, es ist ein fast religiöses Erlebnis für den materialistisch geprägten jungen Mann. Die Erfahrung verändert ihn.
Er liest Timothy Leary und wird Anhänger von dessen populärer, psychedelischer “Neu-Programmierung” nach dem Slogan: “Turn on, tune in and drop out.” In der Folge fängt Frieder an, Haschisch zu rauchen. Allerdings nur pur, Tabak lehnt er weiter ab. Doch Trips und Haschisch hält er für förderlich für die Gesundheit, für die geistige allemal und für die körperliche auf jeden Fall für nicht schädlich. In dieser Zeit beginnt wohl seine Transformation zu Beaky. Er taucht in die Drogenszene ein und wird selber zum Kleindealer. Dort auf der “Szene”, die Berliner sagen “Szien” mit scharfem Ess-Zett vorne, akzeptiert man auch seinen selbstgewählten Spitznamen. Nun trägt er nicht mehr die knallbunten Dave Dee-Klamotten, er bevorzugt nun Cord und Samt in Farben wie purpur, lila oder flaschengrün. Dazu hat er oft eine Wildlederjacke mit Fransen an, wie Dennis Hopper in “Easy Rider”.

Bald weiß man, dass Beaky gute Trips und guten “Shit” hat. Am Nachmittag ist er in der kleinen Teestube am Ludwig-Kirch-Platz oder im Danys Pan in der Fasanenstraße. Abends treten dort Liedermacher auf, am früheren Tage jedoch gehört der Laden den Dealern und ihren Kunden. Anfänglich findet der Handel vor der Tür statt, doch dann gibt es das Gerücht, aus dem gegenüber liegenden Kempinski-Hotel würde das Rauschgift-Dezernat, von den Szenegängern RD genannt, die Straße vor dem Pan überwachen. Also verlagert sich der Handel nach innen. Er verlagert sich auf die Toiletten, aber Beaky macht seine Geschäfte direkt am Tisch, wo er seine Grapita trinkt, eine Grapefruit-Limo. Die Kellner sind sehr freundlich zu ihm und keiner scheint etwas gegen sein Geschäft einzuwenden haben. Im nachhinein kommt es mir fast so vor, als ob der Drogenhandel Schutzengel gehabt hätte in diesen Jahren, als bei einer Generation, die eben noch revoltierte, weiche und später harte Drogen populär wurden. Im Danys Pan jedenfalls, das in der Fasanenstraße in einer Villa residierte, wurde die Dealerei geduldet, solange es sich nicht um harte Drogen handelte.
Abends geht Beaky ins Park am westlichen Kudamm, wo eine 2000 Watt Dynacord-Gigant Anlage die Tänzer antreibt, die sich bis zur Erschöpfung auspowern. Der im Untergeschoss gelegene Tanzschuppen ist über eine freistehende Treppe erreichbar. Eines Abends steht Beaky auf jener Treppe, als ein stark blutender Mann, von einem Angreifer mit Messer verfolgt, am ihm vorbeihastet und ihn mit Blut bespritzt.
Nach diesem Erlebnis zieht er abends das Black Korner vor, ein kleine Disco, in dessen Räumen später Franz de Byl seinen Jazz-Klub Flöz betreiben wird. Dort trifft er nicht so viele Kunden, aber der Geschäftsführer macht ihm ein Angebot, das er kaum abschlagen kann. Er darf die Kasse übernehmen, verkauft Verzehrbons und kassiert am Wochenende Eintritt. Gleichzeitig verkauft er Shit und Trips im kleinen Kassenhäuschen. Um 1 oder um 2 verlässt er das Black Korner. Er braucht nur durch den Volkspark zu laufen und ist fast zu Hause, in der Wohnung seiner Mutter am Bundesplatz. Morgens schleppt er sich zur Schule, wenn er garnicht hochkommt, schreibt ihm seine Mutter Entschuldigungsbriefe.

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Beakys Mutter merkt natürlich, dass etwas mit ihrem Sohn passiert. Etwas gegen das sie nichts ausrichten kann. Sie will wenigstens wissen, wo er hingeht und was er treibt, sie beginnt nachzufragen. Beaky hat ein enges Verhältnis zu seiner Mutter, also zieht er sie ins Vertrauen, macht ihr deutlich, das Hasch längst nicht so ungesund ist wie Alkohol. Bald steckt er der Mutter regelmäßig Geld zu, die mit ihrem schmalen Verkäuferinnenlohn notorisch klamm ist. Sie kann nicht umhin, sich über die grünen, braunen und blauen Scheine zu freuen. Es entlastet sie und die Gefahr, dass Frieder erwischt wird beim Dealen, ist hypothetisch und fern. Es ist ihr sogar lieb, wenn ihr Sohn daheim Kunden empfängt, draußen ist das Risiko größer. Sie hilft ihm auch bei der Aufbewahrung und versteckt größere Mengen im Keller einer Freundin.
1969 lernt unser Held im Zodiac Free Arts Lab den Junkie “Doktor” kennen. Doktor ist eine Berühmtheit in der “Szien”. Der schmale, untersetzte Dunkelhaarige ist Ende 20, sieht aber deutlich älter aus. Die Haare lichten sich bereits, dafür hat er lange Koteletten und immer trägt er eine alte Arzttasche mit sich. Darin befinden sich diverse illegale Drogen, aber auch Medikamente, frei erhältliche, rezeptpflichtige und Betäubungsmittel. Der gebildete Ältere, der tatsächlich einige Semester Medizin studiert hat, macht großen Eindruck auf Beaky. Er kann sich ausdrücken, ist schlagfertig und hat auch Erfolg beim schönen Geschlecht. In seinem berlinisch angehauchten Idiom hat er meist einen coolen Spruch drauf. “Unbehagen? Doktor fragen.” oder “Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund.”
Da Doktor keine eigene Bleibe hat, lässt ihn Beaky bei sich übernachten. Dabei lernt er die Arbeitsweise des Docs kennen, schon lange hatte er gegrübelt, wie der Ältere immer so gut versorgt sein kann. In später Nacht zieht der Doc los, in der obligatorischen Arzttasche hat er lediglich Einbruchswerkzeug verstaut. Dann steuert er zu Fuß Apotheken an, die er am Tage zuvor ausbaldowert hat. Damals sind Apotheken noch nicht so gut gesichert wie heute und entscheidender, es gibt noch “Giftschränke”. Dort werden todbringende Mittel, wie E 605, das sogenannte “Schwiegermuttergift” verwahrt, aber auch Betäubungsmittel wie Morphium und Aufputschmittel.
Wenn der Doktor sich überzeugt hat, dass die Gegend zur Ruhe gekommen ist, knackt er Schlösser, manchmal verbiegt er auch ein paar Gitterstäbe. Er ist kräftig, obwohl er die Statur eines Kindes hat. Einmal drin im Schlaraffenland lässt er sein Werkzeug zurück und stopft die Tasche voll, mit allem was schwindlig macht oder sich verkaufen lässt. Neben BTM lässt er Valium mitgehen, ein populäres Beruhigungsmittel, das in der Szene als Antidot gegen schlechte Trips benutzt wird oder Cappies und AN1, Tabletten die Studenten als chemische Lernhilfe dienen. Nach wenigen Minuten ist seine Tasche voll und er kann den Tatort verlassen. Manchmal bricht er auf dem Rückweg noch in einer Kneipe ein, um Zigaretten zu klauen oder ein paar Langnese-Eistüten. Auch zum Frühstück bringt er was zu Beaky mit. In der Mainzer Straße ist eine Bolle-Filiale, nachts wird dort Milch und Joghurt angeliefert. Verstaut werden diese Waren in einer Holzkiste, die nur mit einem kleinen Bügelschloss gesichert ist und für den Doktor kein Hinderniss darstellt. Als Beaky mir von den Aktionen des Doktors erzählt, bekomme ich große Augen angesichts solcher Dreistigkeit. Da merke ich, dass ich doch sehr behütet und mit einem Glauben an Moral aufgewachsen bin. Ich tue mich schon schwer, bei Rot über die Straße zu gehen. Ich bin 14, Beaky zwei Jahre älter.

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Beaky erzählt mir oft von seinen und des Doktors Abenteuern, während wir die große Pause in der Raucherecke verbringen. Ich finde seine Berichte aus der Drogenszene zwar spannend, aber ich befrage ihn nicht. Er scheint das Bedürfnis zu haben, sich bei mir auszusprechen. Ein wenig komme ich mir vor, wie ein Priester, der die Beichte abnimmt und indem ich zuhöre und nicke, gebe ich ihm eine Absolution.
An einem Montag im Herbst stehe ich wieder in der Raucherecke und ich drehe mir mit Drum eine filterlose Zigarette. Beaky steht ein paar Meter weg mit einem Mädchen und einem Jungen aus der Oberstufe. Die Drei rauchen eine Purpfeife. Irgendetwas geht vor, ich kann es nur noch nicht einordnen. Im rechten Augenwinkel sehe ich zwei Lehrer, ich blicke nach links, von dort nähern sich auch einige Lehrer. Als die Glocke die Pause beendet, hindern die Pauker mich, Beaky und sechs weitere Schüler, die Raucherecke zu verlassen. Als wir die Pädagogen fragen, was das soll, bekommen wir keine Antwort. Sie haben wohl Funkstille vereinbart. Die anderen Schüler hängen aus den Fenstern und glotzen. Als nach einer knappen Viertelstunde Polizisten den Schulhof betreten, bin ich nicht wirklich erstaunt.

Wir acht werden also wie Verbrecher abgeführt, die restlichen Zöglinge in den Fenstern johlen und pfeifen. Wofür oder wogegen sich diese Akklamation richtet ist nicht völlig klar. Meiner Einschätzung nach richtet sich der lautstarke Protest gegen unsere polizeiliche Festnahme. Wir, die Delinquenten, finden uns in einer Arrestzelle in der Polizeiwache Rudolstätter Straße wieder. Wir werden erstmal in Ruhe gelassen, man wartet wohl auf Spezialisten aus dem Rauschgiftdezernat. Beaky hat noch die Pfeife und ein klelnes Stück Haschisch dabei. Die Fenster sind zwar vergittert, aber man kann sie öffnen und Beaky kann die Konterbande in einer Regenrinne verstecken, so das niemand von uns etwas Belastendes bei sich trägt.
Meine Mutter ärgert sich, dass sie mich abholen muss, aber vor allem weil sie das Vorgehen der Schule für völlig überzogen hält.

Das tun die Schüler auch, zumindest die meisten. Es gibt ein paar Junge Unionler, die auf Law and Order pochen, oder was sie dafür halten. Später werde ich auch JU-Mitglieder kennenlernen, die für die Freigabe von Cannabis sind und kiffen, aber damals waren die Fronten klar. Zusammen mit Schülern von der Schüler-Selbst-Verantwortung bildet sich ein Arbeitskreis, der die Handlungsweise der Schule kritisch beleuchten will. Einige Lehrer versuchen mit gruseligen, unsachlichen Behauptungen das “gefährliche Rauschgift” Cannabis zu verteufeln. So in der Art, “einmal Haschisch spritzen reicht, um lebenslang süchtig zu werden”. Besonders die Pauker mit einer abgeschlossenen nationalsozialistischen Werteordnung tun sich da groß.
Der Arbeitskreis bittet mich um Mithilfe, weil ich mich doch so gut ausdrücken könne. Natürlich mache ich mit. Ein Flugblatt soll die Schüler und Lehrer aufklären, wie der Stand der Wissenschaft Cannabis einschätzt. Ich schreibe den Text, zitiere diverse Studien, die in Fachzeitschriften wie Lancet erschienen sind und den berühmten La Guadia-Report. Eine umfangreiche Untersuchung, die der legendäre New Yorker Bürgermeister in Auftrag gegeben hat und die zum Ergebnis kommt, dass Haschisch und Marijuana deutlich weniger schädlich sind als Alkohol und Tabak. Natürlich vergesse ich nicht zu erwähnen, dass Cannabis in Deutschland illegal ist, seit die Nazis 1936 das BTM-Gesetz verschärften.
Wir kopieren die mehrblättrige Flugschrift beim republikanischen Klub in der Schlüterstraße und wir “bumsen” sie dort auch. So nennt man damals das Zusammenheften mit Heftklammern in Revoluzzerkreisen. Am nächsten Morgen verteilen wir die Flugblätter vor der Schule, drinnen dürfen wir nicht. Die Resonanz der Schüler ist sehr positiv. Womit wir nicht gerechnet haben ist die Springer-Presse. Wir landen auf der Titelseite der Berliner Bild-Ausgabe. “Schüler werben für Rauschgift” steht da in riesigen Lettern.

Fortsetzung folgt

Update 20. April 2015:

Z.Z. suchen wir Unterstützer für die Buchausgabe von Xanadu. Bücher, Illus und Fanzines kann man hier bestellen:

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Illustration: Rainer Jacob

Das nächste Kapitel trägt den Namen “Osterspaziergang”, es beschreibt wie der Einfluss von “Doktor” Beaky verändert und in gefährliche Situationen bringt. Natürlich kommt auch ein Pudel vor.

“Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten, die ich mit Erfundenem vermischt habe. Im Ergebnis ist “Die Legende von Xanadu” eine fiktive Geschichte. Um Persönlichkeitsrrechte zu schützen habe ich außerdem Namen und Details verändert.

Familienportrait – „Maskerade“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Sechs / von Marcus Kluge / 1973

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Es ist ein Montagmorgen als das Unheil passiert. Sechs Wochen sind sie nun zusammen, alles scheint wunderschön, sie sind verliebt und Probleme hat es bisher nicht gegeben. Beaky fühlt sich selbstsicher, er ist von innerer Ruhe erfüllt, er stottert nicht und wird nicht rot. Beaky nimmt immer noch heimlich kleine Mengen Heroin, das Schnupfen hinterläßt ja keine Spuren. Weder sieht man Einstiche auf der Haut, noch die typischen Stecknadelpupillen oder das blasse Gesicht, das die Stoffwechselveränderung bei Fixern verursacht und weshalb sie für den Kundigen so leicht zu identifizieren sind. Er glaubt fest, wenn er das Pulver aufgebe, würde die Maske aus Selbstsicherheit niedersinken und sein Glück würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Er realisiert nicht, auf wie dünnem Eis er tanzt, die euphorisierende Wirkung der Droge hilft ihm die Einbruchsgefahr fast perfekt zu verdrängen. Nur wenn er unterwegs ist, um Drogen zu holen oder zu verkaufen, kommen ihm solche ängstlichen Gedanken vom Scheitern seiner Liebe zu Hanna. Dann schnupft er auf der nächsten Toilette ein kleines Häufchen Pulver und im Handumdrehen sind die Sorgen und die belastenden Selbstvorwürfe im Kopf verschwunden. An diesem Morgen hat Beaky vergessen das Badezimmer abzuschliessen und als er eben dabei ist, die hellbraune Substanz ins Nasenloch hochzuziehen, betritt Hanna den Raum und erwischt ihn. Sie ist sauer, stocksauer. Ohne sich seine Entschuldigungen anzuhören, wirft sie ihn aus ihrer Wohnung. Beaky steht wie ein begossener Pudel auf der Treppe, als die Wohnungstür noch einmal kurz aufgeht und Hanna seine Wildlederjacke auf ihn pfeffert.

Wir alle haben unsere Schwächen. Die kleineren, wie die Essanfälle, die uns nächtens vor den Kühlschrank treiben oder die Ausreden, mit denen wir uns vor uns selbst entschuldigen, weil wir wieder nicht Sport gemacht haben. Und es gibt die etwas bedeutenderen, wie die Beerdignug eines Bekannten, zu der wir nicht gegangen sind, weil wir am Abend vorher gefeiert haben oder die Hilfe, die wir zugesagt und doch nicht gegeben haben. Falls sie diese nicht kennen, stellen sie sich etwas Anderes vor, das ihnen bekannt ist. Lassen sie sich nicht täuschen, jeder hat Schwächen, auch wenn manche Mitmenschen wie Heilige wirken. Ob wir diese Entscheidungen aus freiem Willen oder eher nach unseren Instinkten und heimlichen Wünschen treffen, was wohl ganz überwiegend der Fall ist, soll uns nicht weiter beschäftigen. Besonders wenn andere beteiligt sind, die wir im Stich gelassen haben, neigen wir dazu uns schuldig zu fühlen. Denn die Verantwortung übernehmen wir dann. Es sei denn wir gehören zur privilegierten Klasse der Soziopathen, denen diese Last genommen wurde, weil ihnen Gewissen, Empathie und soziales Mitempfinden fehlen. Ich jedenfalls, ich hatte einen solchen Moment der Schwäche, als Ende Juni gegen Mitternacht Beaky ins Tolstefanz kam, um mich um Hilfe zu bitten. Und als Anfang August zurück kam aus meinem Urlaub und erfuhr, welchen tragischen Verlauf die Dinge genommen hatten, senkte sich mein schlechtes Gewissen, wie ein engmaschiges Netz auf mich nieder und ich brauchte lange, um mich wieder davon zu befreien.

Das Ur-Tolstefanz hatte sein Domizil in der Sächsischen Straße, nicht weit von der Pariser entfernt, in einem großen Eckladen. Die Discothek war jeden Abend voll, Studenten, Langhaarige, hübsche Mädchen, die tanzen wollten und ein paar Jet-Setter, oder Gäste, die sich dafür hielten. Meine Freundin Ilona hatte mir den D.-J.-Job besorgt, sie arbeitete schon länger am Tresen und schwärmte dem Chef von meinen Musikbegeisterung und meiner Plattensammlung vor, bis der mich engagierte. Die Arbeit war ideal für mich, ich wurde nur selten angequatscht, was meiner Menschenscheu zugute kam und das Platten auflegen machte mir wirklich Spaß. Ich fing um neun Uhr an und gegen vier kam Karlo, ich glaube so wurde er genannt, und drückte mir 60.- D-Mark in die Hand, manchmal mehr. Das war viel für mich, natürlich verdiente Ilona besser, schon weil sie großzügige Trinkgelder bekam.

In dieser Nacht, ich glaube es war die Nacht zum 27.Juni 1973, blendete ich eben von den Doors auf die Rolling Stones über. Nach „L.A. Woman“ blieben meist alle Tänzer dabei, um ihr Mitleid mit dem Teufel zu bekunden: „Sympathy for the Devil“. Heikler als diese Blende waren die Wechsel von Rock zu schwarzer Musik, aber Karlo wollte das so haben. Wenndabei Tänzer ausstiegen, war ihm das Recht, sie sollten ja auch Drinks kaufen. Außerdem wollte er nicht zuviele schwarze Gäste im Tolstefanz haben, genausowenig, wie er nicht zuviele “Rocker” in seinem Laden sehen wollte. Also hieß seine Ansage, zu einer Hälfte Rock und zur anderen „The Sound of Philadelphia“, ein gerade sehr beliebtes Genre des Soul, das der Spiegel damals in einer Titelstory zur Leit-Musik der 70er Jahre erklärt hatte. Die Prophezeiung war ja richtig, nur bezeichnete man diesen Stil später mit dem umfassenderen Begriff „Disco“. Als die ersten Tänzer in den berühmten Background-Chor des Stones-Songs einstimmten, „Huh Huh“, „Huh Huh“, stand Beaky vor mir und es war klar, dass es ihm übel ging.

Ich stellte meine Monitorboxen leiser und Beaky fing unvermittelt an auf mich einzureden: „Marcus, du musst mir helfen, es geht um Hanna“, das wäre auch mein erster Gedanke gewesen. „Sie hat mich erwischt, beim Pulver ziehen und jetzt will sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich liebe sie und ich muss irgendwas tun, um sie zurück zu gewinnen.“ „Vielleicht hättest du dir das früher überlegen sollen. Dass Hanna da ihre Grundsätze hat, wird dir doch klar gewesen sein“, war meine weder originelle noch empathische Antwort und wirklich Mitleid hatte ich auch nicht. In diesem Moment war ich es leid, immer wieder der Notnagel für Beaky zu sein und ich wusste auch wirklich nicht, wie ich ihm helfen sollte. Außerdem war heute Nacht meine letzte Schicht vor dem Frankreich-Urlaub. Zwei Tage später würde ich schon in Paris sein, zum ersten Mal Paris. Mir fiel nichts anderes ein, als ihm den Rat zu geben, einen Entzug zu machen und wenn er die schlimmen Tage überstanden hatte, zu ihr zu gehen und sie um Verzeihung zu bitten. Dann holte ich zwei Pils, trank mit ihm, quatschte ein bißchen über Musik, die Anlage hier im Laden, aber ich merkte das er in Gedanken woanders war. Ja. Natürlich war er das. Also schickte ich ihn nachhause mit dem strengen Befehl, am morgigen Tag mit dem Entzug anzufangen. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre mir klar gewesen, dass er, so ganz alleine einen „cold turkey“ nicht durchhalten würde. Ohne ein die Entzugserscheinungen milderndes Medikament und ohne „soziale“ Unterstützung würde er nicht durchhalten. Wenn am zweiten oder dritten Tag, die Schmerzen und die depressiven Gedanken unerträglich würden, hätte er wohl nicht die Kraft abstinent zu bleiben. Außerdem kannte er genug Leute, die ihm sogar ohne Bares, das eine oder andere Pulver auf „Kommi“ geben würden. Also “Kommission”, was bedeutete “auf Kredit”, dann würde er wieder verkaufen müssen und wäre drin im Teufelskreis aus Konsumieren, Dealen und wieder Konsumieren. Aber soweit wollte ich in jener Nacht nicht denken und manchmal mutmaße ich, wenn ich mich anders, hilfsbereiter, verhalten hätte, wäre es nicht zu der unglücklichen Verkettung von Ereignissen gekommen, die auf diese Nacht folgte, während ich in Frankreich war, weit weg von deren Schauplatz.

Beaky fing am nächsten Tag nicht an, das Heroin zu entziehen. Er war sich sicher, er könne auf Entzug nicht arbeiten gehen und nachdem er schon seine Freundin verloren hatte, wollte er wenigstens an seinem Job festhalten. Auf die naheliegende Idee zum Arzt zu gehen kommt er zwar, aber zu dem alten Hausarzt mit den Schmissen will er nicht gehen und einen anderen kennt er nicht. Also steht er um elf auf, zerkleinert eine Prise Heroin mit einer 50 Pfennig-Münze und saugt das Häufchen mit einem zusammengerollten 20 D-Mark-Schein in sein rechtes Nasenloch. Der Versuchung seinem linken Nasenloch die gleiche Behandlung zukommen zu lassen, widersteht er. Augenblicklich sind seine trüben Gedanken verschwunden, er duscht, zieht ein sauberes hellblaues Batik-T-Shirt an und macht sich auf den Weg zu Ingomar von Puvogels Antik-Galerie in der Schlüterstraße.

Der Antiquitätenhändler ist sehr verständnisvoll und gibt sich empathisch, als Beaky ihm von Hannas Entscheidung die Beziehung zu beenden erzählt. “Complètement desolé”, sei er, “betrübt” also. Und: “Ja ja, die Frauen, unberechenbar seien sie.” Beaky ist froh, von seinem Chef verstanden zu werden und kommt nicht auf die Idee, dass Puvogel diese Situation zu seinem Vorteil ausnützen könnte. Denn eben darüber denkt der undurchsichtige Herr mit dem Bärtchen nach. Er ist bereits dabei, in seiner Vorstellung einen Plan zu schmieden.
“Vielleicht kann ich sie etwas ablenken, Frieder. Sie lesen doch gern und sie mögen Bücher. Haben sie schon mal von Karl Grünberg gehört? Das war ein kommunistischer Schriftsteller.” Beaky zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
“1928 hat er “Brennende Ruhr” veröffentlicht, ein Roman über den Ruhraufstand, das war eine Arbeitererhebung gegen den reaktionären Kapp-Putsch”, dozierte Puvogel. “Thomas Mann hat das Buch geschätzt, erstaunlicherweise”, nun schüttelte Puvogel sein pomadisiertes Haupt über den großbürgerlichen Romancier, der Gutes über den “Asphaltliteraten” Grünberg geschrieben hatte. Beaky hatte Mühe den Ausführungen seines Chefs zu folgen. Worauf wollte Puvogel denn hinaus?
“Grünberg ist letztes Jahr gestorben. Ich hatte das Glück, mir einen Teil seines Nachlasses zu sichern, fast seine ganze Bibliothek.”
“Ach, Bücher”, bemerkte Frieder überflüssigerweise.
“Ja, mein lieber Frieder. Bücher, “habent sua fata libelli”. Sie haben ihr Schicksal, die Bücher”, er nickte.
“Um sie ein wenig aufzubauen, werde ich ihnen einige Doubletten überlassen, Was halten sie davon?” Davon hielt Frieder, der lieber Beaky genannt werden wollte viel.

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Am gleichen Abend klingelte Beaky an der Tür von Puvogels Privatwohnung in der Fasanenstraße. Er war noch nie dagewesen und bewunderte die Villa aus dem 19. Jahrhundert. Man sah noch Schäden aus dem 2. Weltkrieg, sodass eine Anmutung von Ruine das Bauwerk umgab, verstärkt noch durch die Dämmerung wirkte es düster und geheimnisvoll auf den jungen Mann. Sein Chef öffnete, im Anzug wie immer, allerdings hat ein statt einer Krawatte ein blau-goldenes Seidentuch um den Hals. Puvogel führte ihn in einen großzügigen Wohnraum, der von einem Konzertflügel dominiert wurde. Sonst bestand die Einrichtung aus einer seltsamen Mischung von schlichten Bauhaus-Möbeln und eher verspielten Jugendstil-Lampen und anderen Accessoires aus dem fin de siécle. Ja, Beaky stellte stolz fest, dass er schon einiges über Antiquitäten gelernt hatte in den letzten Monaten. An den Wänden hingen, neben venezianischen Masken, Grafiken, die er wegen ihrer reichen Ornamentik auch dem Jugendstil zuordnen konnte, dennoch hatte er dergleichen noch nie gesehen. Einige davon waren geradezu pornografisch.
“Aubrey Beardsley. Ein genialer englischer Zeichner und Illustrator, der leider nur 25 Jahre alt wurde. Er starb fast so früh, wie heute die Pop-Sänger, nur waren es bei ihm nicht die Drogen, er hatte Tuberkulose.” Beaky überlegte, ob die Anspielung ihm gegolten hatte, Puvogel wusste von seinen Drogenproblemen, aber er wischte den Gedanken zur Seite.
Der Ältere hofierte den Jungen in eine Sitzecke, wo mehrere Barcelona-Sessel um einen flachen Glastisch gruppiert waren. Auf dem Tisch stapelten sich schon einige Bücher. Puvogel entschuldigte sich, um weitere “Doubletten”, wie er sagte, zu holen und der junge Mann verspürte einen plötzlichen Harndrang. Auf dem Flur irrte er umher und öffnete eine Tür, dahinter befand sich so etwas wie ein Fotostudio. Seltsam er wusste garnicht, dass Puvogel diesem Hobby frönte. Inmitten einiger Scheinwerfer ruhte eine Art Chaiselongue vor einer goldfarbenen Tapete, daneben auf einem Podest stand die Statue eines nackten jungen Mannes, dessen bäuerlich wulstige Stirn nicht so recht zu dem sonst eher filigranen Körper passen wollte.
“Curiosity killed the cat”, hörte Beaky seinen Arbeitgeber rezitieren. “Nicht jede Tür im Leben sollte man öffnen, geschätzter Freund.”
Nachdem er sich erleichtert hatte, wurde er von Puvogel auf einem der Barcelona-Sessel platziert und hörte dann den Erläuterungen über die meist dicken, gebundenen Büchern vor sich, zu. Puvogel empfahl ihm Thomas und Heinrich Mann, Frieder war froh bei Thomas Mann etwas mitreden zu können. Nachdem er ihm einige Klassiker wie Dante, Rabelais und eine dreibändigen Casanova-Ausgabe ans Herz legte, stand Puvogel auf, um eine “Erfrischung” zu holen. Frieder schwirrte der Kopf.
Heutzutage kennen wir die entlegensten Single Malt Whiskies, die aus kleinen Destillerien in gutsortierte Fachgeschäfte geliefert werden, aber in den 70er Jahren war, zumindest in Deutschland, der Scotch der Wahl “Chivas Regal”. Der Romancier der Edel-Kolportage, Johannes Mario Simmel hatte diesem schottischen Destillat 1971 in “Der Stoff aus dem die Träume sind” ein Denkmal gesetzt. Auch Frieder hatte davon gehört, unter anderem von seinem Vater, der Chivas als teuersten Schnaps auf der Karte seiner Kneipe führte. So kam es, das Frieder, obwohl er nicht scharf auf Alkohol war, unbedingt probieren wollte, als der Galerist eine Flasche des edlen Gesöffs auf einem Beistelltisch öffnete. Er goss in zwei Whisky-Tumbler je zwei Finger breit von der gold-braunen, öligen Flüssigkeit. Dann bestand er darauf Beaky einen Eiswürfel ins Glas zu tun, dessen Protest ließ er nicht gelten, Chivas trinke man natürlich mit Eis. Mit den Gläsern kam der zwielichtige Kunsthändler zum Tisch zurück und reichte Beaky eines davon.

Der Whisky schmeckt schärfer, als der Jüngere sich das vorgestellt hat. Puvogel erzählt nun von einem Gedichtband, noch einmal reisst Beaky sich zusammen, weil sein Chef das legendäre “Xanadu” erwähnt. Samuel Taylor Coleridge habe ein Gedicht darüber geschrieben, “Kubla Khan”. Es soll ihm, wie eine Vision im Opiumrausch erschienen sein. Das ist das Letzte woran er sich erinnert. Dann wird es dunkel um ihn.

Endlich hat er es geschafft, er ist in Xanadu. Beaky weiß zwar nicht genau, wie er hergekommen ist, mit dem Flugzeug wahrscheinlich, diese Art zu reisen ist ja rasant. Doch nun ist er hier. Ein bißchen enttäuscht ist er schon, er hätte es sich prächtiger vorgestellt. Wenn er sich umschaut, sieht er vor allem Wüste und Ruinen, besser die Reste von Ruinen. Mauern, die schon vor Jahrhunderten geschleift wurden, abgebrochene Säulen und unter Sand fast verschwundene Fundamente und Wege. Nirgendwo sieht er Menschen, das macht ihn nervös. Er läuft schneller und nach einer Weile sieht er so etwas wie einen Kiosk, an dem man Karten, Reiseführer, Souvenirs und auch Getränke kaufen kann. Im Kiosk steht ein Mann mit blonden, lockigen Haaren, der eine Maske trägt, er erinnert Beaky an Bob Dylan. “Das ganze Zeug wartet nur auf dich”, sagt Bob Dylan, nickt ihm zu und öffnet die Arme zu einer allumfassenden Geste. Beaky, der eigentlich etwas zu trinken kaufen wollte, wird rot und unsicher. Sein Mund ist staubtrocken, wahrscheinlich die Wüstenluft, sein Hals ist wie zugeschnürt. Jetzt hört er Pferdegetrappel hinter sich, er sieht sich um und erkennt Hanna, die auf einem weißen Pferd auf ihn zu reitet. Sie neigt sich zu ihm nieder und flüstert in sein Ohr: “Du brauchst Hilfe, I think it’s time to go.” Dann reicht sie ihm die Hand und zieht ihn auf den Schimmel. Sofort nachdem er sie von hinten umfasst hat, reitet sie los. Er hört eben noch, wie Bob Dylan ruft: “das wird der reinste Osterspaziergang.” Er wundert sich, dass Bob Dylan deutsch kann. Sie reiten bis sie zu einer Kneipe kommen, sie sieht aus das “Zum Schotten” in der Schlüterstraße. “Seltsam”, denkt Beaky und steigt ab. Auch die andere Person steigt vom Pferd und dreht sich um. Er bekommt einen Riesenschrecken als er sieht, das nun Puvogel vor ihm steht. Puvogel dreht im brachial den Arm um und schiebt ihn in die Kneipe, in der ein Fotostudio aufgebaut ist. Der Mann mit dem Schnurrbart zwingt ihn auf die Chaiselongue und nimmt sein Hèrmes-Tuch ab, das er um Beakys Hals legt und ihn damit würgt bis der Jüngere bewusstlos wird.

Am nächsten Morgen erwacht Beaky mit einem Filmriss, der so groß und breit ist, wie eine Hollywood-Verfilmung des alten Testaments: Außerdem hat er höllische Kopfschmerzen und ein äußerst ungutes Bauchgefühl. Wie war der Abend zuende gegangen? Wie war er nach Haus und ins Bett gekommen? Und was war passiert in den Stunden, die ihm fehlen?
Auf dem Küchentisch findet er einen Zettel von seiner Mutter:
“Guten Morgen, Frieder. Dein Chef hat dich gestern heim gebracht, Du warst offensichtlich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Ich mache mir Sorgen. Bin um sieben wieder da, wir müssen reden. Deine Mama.”
Zusätzlich zu seinem Missbefinden, überfällt ihn glühend-heiss sein schlechtes Gewissen, als er den Zettel seiner Mutter liest. Er bemüht sich sich zu sammeln, kocht Kaffee und dreht sich eine Zigarette. Das belebende Getränk und das Nikotin helfen ihm, seine Fassung wieder zu erlangen. Langsam findet er in den Tag. Seine Kehle ist immer noch wie ausgedörrt. Er lässt eben ein Glas kaltes Wasser einlaufen, als es an der Wohnungstür schellt.
“Frieder Becker” steht auf dem Päckchen, Beaky erkennt Hannas Handschrift. Als er beim Gang zurück in die Küche das Päckchen aufreißt, stolpert er über eine Reisetasche. Was ist denn das? Er hat sie noch nie gesehen. In der Küche schüttelt er den Inhalt des Päckchens über den Küchentisch. Es enthält nur zwei Dinge, eine Musikkassette und eine Visitenkarte. Die Karte ist von einem Professor Dr. Amon Philippus, einem Psychiater und Psychotherapeuten in der Uhlandstraße. “Du brauchst Hilfe”, hat Hanna noch dazu geschrieben. Er trinkt das Wasser, mit der Kassette geht Beaky zurück in sein Zimmer und legt sie ein. Dann hört er ein Lied, das er von Hanna kennt. Es ist ihm peinlich eben dieses Lied zu hören, er wird rot, denn der Text trifft ihn exakt an seiner wunden Stelle, dem Schuldgefühl das er hat, weil er die Beziehung in den Sand gesetzt hat, wegen eines kleinen Häufchens Pulver und zum ersten Mal seit seiner Kindheit weint er.

“I’ve seen the needle
and the damage done
A little part of it in everyone
But every junkie’s
like a settin’ sun.”

Fortsetzung folgt

Neil Youngs Song über Heroinsucht, “The Needle and the Damage Done”, erschien zuerst auf seinem Studioalbum “Harvest” im Jahre 1972. Es ist seitdem von einer fast unendlichen Reihe von Musikern gecovert worden. Hier erfährt man mehr darüber:
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Needle_and_the_Damage_Done

Der vollständige Text:
http://www.azlyrics.com/lyrics/neilyoung/needleandthedamagedone.html

Die Zeichnung ist eine Orginal-Illustration von Rainer Jacob. Die Grafik “Maskerade” stammt von Aubrey Beardsley (Co: creative commons). Das siebte Kapitel erscheint am Ende der Woche, es trägt den Titel “Plan B”. “Die Legende von Xanadu” beruht auf wahren Begebenheiten. Allerdings habe ich Namen, Orte und Daten soweit verändert, dass eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen tatsächlich rein zufällig und nicht beabsichtigt wäre. M. K.

Familienportrait –„Einschiffung nach Kythera“ / Die Legende von Xanadu Kapitel Fünf / 1973

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Etwa eine Woche nach unserem merkwürdigen Rencontre im Café Bleibtreu rief Beaky mich an. Ja, merkwürdig fand ich jene Begegnung und auch denkwürdig. Jedenfalls dachte ich mehrfach daran, wie an jenem Vormittag meine morgendliche Schwere und Langsamkeit mit Beakys hektischem, drogeninduziertem Auftreten zusammenstieß. Als der mittelbar Aufgeputschte mir die gesamte Jugendkultur und den Protest der 60er Jahre als reaktionäre Verschwörung vorstellen wollte und der dann noch sein Lieblingsthema Xanadu völlig herzlos abschrieb, oder vielmehr abredete. Auch das da offensichtlich etwas hin und herflog zwischen meiner Bekannten, der Kellnerin Hanna und dem ehemaligen Schulfreund kam mir mehr als einmal in den Sinn. Nun war Frieder am Telefon. Frieder, der lieber Beaky genannt werden wollte und es war mein Eindruck, dass er nicht aufgeputscht war. Er hörte sich eher kleinlaut an. Er wolle etwas mit mir besprechen, er hätte sich meine Worte zu Herzen genommen und das Speed abgesetzt. Er sei dabei sein Leben zu ändern, privat und bei der Arbeit. Er durfte nun sogar allein die Galerie hüten, was sein Chef Puvogel bisher für „indiscutable“ gehalten hatte. Also verabredeten wir, das ich ihn von der Arbeit abholen sollte.

Der Antiquitätenhändler und Galerist Ingomar von Puvogel ist was man eine schillernde Persönlichkeit nennt. Der etwa 1,70 Meter große, grauhaarige Herr trägt gern zweireihige Klubjacken, die sein Bäuchlein eher betonen als verbergen. Er selbst nennt es fast zärtlich, sein „Embonpoint“, was selbstverständlich sehr viel schicker klingt, als das in Berlin sonst gern verwendete Wort „Wampe“. Er war nicht immer Geschäftsmann, seine Kollegen erzählen gern genüsslich, dass er in den 50er Jahren für mehrere Nachrichtendienste gearbeitet haben soll, den BND sowohl als auch die Stasi und zusätzlich die üblichen Verdächtigen wie CIA, MI5 und Mossad. Unter mysteriösen Umständen hat er Anfang der 60er Jahre den aktiven Dienst verlassen. Man munkelt von Stasi-Material über die Nazi-Vergangenheit eines hochrangigen CDU-Politikers, mit dem er einen goldenen Handschlag vom BND erpresst haben soll. Andere sprachen von Kinderpornographie, die Puvogel einem Staatssekretär untergeschoben haben sollte. Aber es liegt in der Natur der Sache, das Niemand etwas Genaues wusste. Puvogel ließ sich anschließend an sein Ausscheiden ein Clark Gable-Bärtchen wachsen und eröffnete seine „Galerie“ in der Schlüterstraße. Zusätzlich schmückt seitdem das Wörtchen „von“ seinen Namen. Von nun an gab er die Vorstellung eines bildungsbeflissenen Schöngeists, der gern seine Sprache mit französischen Vokabeln würzte und seine Vergangenheit in wenig glaubwürdigen Anekdoten schönfärbte. „C’etait incroyable“, so nannte er es selber.
Auf den ersten Blick hob sich sein Geschäft von den benachbarten Trödlern ab, doch wenn man genau hinsah, bestand sein Angebot hauptsächlich aus drittklassigen Gemälden, Jugendstil und Art Deco-Tand, sowie asiatischem Kunsthandwerk, preiswerter Dutzendware zumeist. Beaky arbeitete dennoch gern bei ihm, Puvogel war freundlich, jovial, hatte Humor und konnte tolle Geschichten erzählen. Außerdem bescheinigte ihm sein Chef, er würde 40 Stunden in der Woche bei ihm wirken, was stark übertrieben war. Sein Bewährungshelfer war einmal im Laden gewesen und Puvogel hatte ihn mühelos um den Finger gewickelt und ihm sogar ein hübsches Lackkästchen zu einem überhöhten Preis verkauft. Wie die meisten Besucher bestaunte der Sozialarbeiter die Kopie von „Einschiffung nach Kythera“, dem berühmten Gemälde von Jean-Antoine Watteau. Und wie bei allen kunsthistorisch Ungebildeten behauptete Puvogel, es würde sich um ein unbekanntes viertes Bild von diesem Sujet handeln, ein echter Watteau. Was natürlich blanker Unsinn war. Denn wenn es ein Orginal gewesen wäre, hätte es nicht im Schaufenster auf einer Staffelei gestanden. Stattdessen hätte man es, mit einer Alarmanlage verbunden, an die Wand gehängt, denn es wäre mindestens eine sechsstellige Summe wert gewesen. Ach was, wenn es ein echter Watteau gewesen wäre, hätte es niemals in der Antik-Klitsche von Ingomar von Puvogel gehangen.

(„Einschiffung nach Kythera ist der Titel dreier spätbarocker Gemälde des französischen Meisters Jean-Antoine Watteau. Eines davon hing damals in Dahlem, wo ich es gesehen hatte. Das Gemälde zeigt ein paar junge Leute, die am Ufer auf ihr Boot warten, um zur Insel Kythera übergesetzt zu werden. Rechts steht eine Statue der Liebesgöttin Venus. Im Hintergrund sieht man die Insel Kythera, den Ort an dem Venus der Sage nach aus dem Schaum des Meeres an Land gestiegen sein soll. Die Insel Kythera galt im 18. Jahrhundert als ein Reich der Liebe, fern aller Konflikte. Mit diesen sogenannten „Fêtes galantes“-Gemälden schuf Watteau eine neue Bildtradition, bei denen Rubens und dabei insbesondere dessen Gemälde Liebesgarten das Vorbild waren.“)

Es war an einem Freitag nachmittag, als ich Beaky in der Galerie Puvogel aufsuchte. Ich bewunderte die recht ordentliche Watteau-Kopie im Fenster, wobei ich Beaky im Ladeninneren erspähte. Er trug zu seinen dunkelblauen Levis ein besticktes Seidenhemd, wahrscheinlich auch ein Asienimport des Galeristen. Seine langen, rotblonden Haare waren frisch gewaschen und ich war froh keine Anzeichen des Konsums harter Drogen zu erkennen.
„Na, Beaky, wie läuft dein Geschäft?“
Er erwiderte mit leicht gedämpfter Stimme, „Ich wollte, es wäre meins, Marcus. Und nenn mich bitte Frieder, der Chef mag meinen anderen Namen nicht.“
„Wo ist er denn, der Graf von und zu Piepvogel?“
Beaky wurde rot, jetzt flüsterte er fast: „Er ist hinten in seinem geheimen Blaubart-Kabinett und macht Siesta. Ich glaube er raucht was von seinen Thai-Sticks und was er noch treibt, da gibt es verschiedene Vermutungen.“
Puvogel importierte versteckt im Kunsthandwerk Marihuana, sogenannte Thai-Sticks, die besonders bei Künstlern und Intellektuellen sehr beliebt waren. Man sagte, sie gingen nicht in die Beine, sondern direkt in den Kopf, machten wach und gesprächig. Viele Antiquitätenhändler in den Kudamm-Nebenstraßen verkauften das teure Zeug als willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Die Kunden gehörten entweder zur Schickeria oder sie hätten gern dazu gehört. Auf jeden Fall rekrutierte sich die Clientel aus den „besseren Kreisen“, die bereit waren etwas mehr für den illegalen Drogen-Kick zu zahlen.
Was das „nochtreiben“ angeht, wucherten in der Tat die unterschiedlichsten Vermutungen. Der falsche Adlige selbst behauptete, erotisch ein Neutrum zu sein seitdem der sowjetische NKWD ihn im Zweiten Weltkrieg mehrere Tage gefoltert hatte. Da er diese wilde Geschichte mit sehr viel Humor und Gusto zelebrierte, war er selbst schuld, dass sie als nicht sehr glaubwürdig aufgenommen wurde. Also sprach man von kleinen Mädchen, kleinen Jungen, kleinen oder eher mittelgroßen Haustieren, sowie von allen denkbaren materiellen Fetischen, die angeblich sein erotisches Interesse ausmachen sollten.

„Gott zum Gruße, junges Volk“, tönte es leicht effeminiert aus dem rückwärtigen Geschäft. Der Besitzer hatte seine Siesta beendet und gab uns eine Exklusiv-Vorstellung seiner Darstellung eines intellektuellen Scheingeistes . Mir war die Puvogels sexuelle Orientierung überhaupt nicht unklar, ich hielt ihn für schwul. Und als ob er meinen Gedanken bestätigen wollte, turnte der Galerist um mich herum und bewunderte mich von allen Seiten. Beaky hatte meinen Besuch wohl angekündigt, denn unverzüglich schmeichelte Puvogel mich an: „Das kann doch nur der kluge Herr Kluge sein und dabei ist er auch noch ein so schöner Mensch. Wie hält man das aus?“ Nach kurzer Sammlung parierte ich den Ästhetik-Liebhaber: „Normalerweise ganz gut, Herr Puvogel“. Ich drängelte ein bißchen, um möglichst schnell Puvogels Dunstkreis zu entgehen. Es war nicht so, dass ich wie viele Männer grundsätzlich Probleme mit Schwulen hatte. Ich hatte sogar selbst eine kurze Beziehung zu einem Mann gehabt und die Schwulenszene kennengelernt. Deshalb kannte ich auch das Gefühl von älteren Schwulen angemacht zu werden und sowas machte mich normalerweise nicht verlegen. Aber dieser Vogel war mir unangenehm, seine aufdringliche, süßliche Art. Ich verstand nicht, wie Beaky für ihn arbeiten konnte und dessen Nähe ertragen konnte. Nach meinen Eindruck hatte dieser Galerist hatte nur einen Gedanken in seinem Kopf und der war schmutzig. Glücklicherweise schien es Beaky selbst peinlich zu sein, wie sein Chef mich anbaggerte und er unterstützte meinen geordneten Rückzug aus der Galerie.
Anschließend liefen Frieder und ich die Schlüterstraße in Richtung Kudamm Wir überquerten erst die Kant- und dann die Niebuhrstraße, und endlich drückte mich mein Begleiter in eine ziemlich normale Berliner Kneipe, sie hieß „Zum Schotten“. Auf den ersten Blick schottisch war, dass man bei Licht und Einrichtung offensichtlich gespart hatte. Die finstere Kaschemme war nur mit wenigen Gartenmöbeln und einem heruntergekommenen Billardtisch möbliert. Ganz und garnicht meine Tasse Tee. Der einzige Lichtblick war ein schönes altes Canada Dry-Schild, das über der Theke hing.
Bei dem Kellner mit Schmalzlocke bestellte ich also ein Canada Dry, ungeöffnet in der Flasche, was mit verhaltenem Unmut quittiert wurde. Kaffee oder Tee würde ich in diesem Laden nicht anrühren. Beaky war da nicht so heikel, er trank schwarzen Kaffee, den der Kellner aus einer Thermoskanne eingoss.
Mir fiel ein, dass ich schonmal in diesem Laden war. Schon Ende der 60er Jahre traf sich hier eine Mischung von linken Studenten und denen, die sie gern als Genossen gehabt hätten, nämlich die Angehörigen der ansässigen Arbeiterklasse. Kiffen war dort verpönt, doch handelte man mit Tabletten, Catagon, An1 und anderen Helfern fürs Examen oder die Frühschicht im E-Werk oder in der Gipsformerei. Ich war dort 1969, in einer Ecke stand ein Fernseher und die Gäste verfolgten mit skeptischer, berlinischer Abgeklärtheit die Live-Übertragung der ersten Mondlandung. Vielleich war hier der Ort gewesen, wo zum erstem Mal behauptet wurde, dass es sich bei diesen Bildern von der Mondlandung um eine Fälschung handelte, stellte ich mir vor.

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Ich öffnete die Flasche, genoss einen ersten Schluck Ginger Ale und eröffnete das Gespräch: „Du scheinst meine Gardinenpredigt ernst genommen zu haben, oder hattest du andere Gründe deine Performance aufzupolieren?“ Seit ich den Nicolas Roeg Film mit Mick Jagger gesehen hatte, war „Performance“ eines meines Lieblingswörter. Ich beobachtete wie Beaky mit Worten rang und einen Einstieg suchte. „Na ja, weißt du, letzte Woche im Café Bleibtreu. Du hast mir erzählt, wie glücklich du mit deiner Freundin Ilona bist und mir ist klar geworden, dass ich auch so eine Beziehung suche.“ Ich nickte verständnisvoll und ließ ihm Zeit zu formulieren. „Da habe ich mich entschlossen mit dem Scheiß-Pulver aufzuhören. Also, mit dem Speed habe ich das schon geschafft, ein bißchen H sniefe ich aber noch.“ Das H sprach er englisch aus, wie es in der Berliner Drogenszene üblich war, es hörte sich wie „Ähtsch“ an. „Sniefen“ war wohl auch ein Wort das es nur in dieser Subkultur gab. „Damit ist aber auch bald Schluss“, fuhr er fort, „Sag mal, im Bleibtreu war doch diese Hanna, die Kellnerin. Kennst du die gut?“ „Nö, ist eigentlich mehr Ilonas Freundin. Aber ich hatte mir schon gedacht, dass du mich nach ihr fragst. Die hat dir gefallen, ne?“ Beaky nickte, aber zog die Stirn kraus. Er war sich unsicher und er wusste nicht, wie er sie ansprechen sollte und bat mich um Hilfe.

„Well, early in the mornin’
’Til late at night
I got a poison headache
But I feel all right
I’m pledging my time to you
Hopin’ you’ll come through, too“

Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch der wusste, dass Beaky noch Jungfrau war. Außer einer Knutscherei im Anne-Frank-Haus hatte er keine sexuellen Erfahrungen mit irgendeinem weiblichen Wesen. Die Tatsache war ihm peinlich, aber weil er mich für so etwas wie seinen Beichtvater hielt, hatte er es mir erzählt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Nun legte er mir nahe für ihn Amor zu spielen. Im Grunde hatte ich sowas erwartet. Beim Verkuppeln hatte ich zwar keinerlei Routine, doch wie so häufig im Leben bemühte ich mich die Aufgabe als Schauspielpraxis zu betrachten.
Ich lud also Hanna zu einem Picknick ein. Am Samstagmittag liefen wir, Ilona und ich, zum Zooeingang gegenüber vom Bahnhof, das war der vereinbarte Treffpunkt. Meine Freundin und ich hatten eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet und bei Ullrich kauften wir noch ein Fläschchen Rotwein, kurz bevor um 13 Uhr der Laden zumachte. Hanna kam zuerst, überpünktlich und Beaky verspätete sich etwas, er wirkte aber frisch und clean. Wir liefen los, ließen rechts von uns den Zoo, wir überquerten die Schleuse und waren bald im Tiergarten. Dort an einem See kannte ich eine seichte Stelle. Wenn man Füße und Waden freimachte, konnte man dort durchs Wasser waten. Belohnt wurde man durch eine kleine, menschenleere Insel. Die Idee kam mir, als ich in Puvogels Schaufenster „Einschiffung nach Kythera“ gesehen hatte. Auch ohne Schiff hatte der Nachmittag etwas Romantisches, Hanna lachte über Beakys Scherze, auch über die unbeholfenen. Als wir uns am frühen Abend verabschiedeten, beschloss Beaky Hanna noch nach Hause zu begleiten. Dann hörte und sah ich von den Beiden für längere Zeit nichts, was ich als gutes Zeichen wertete.

Hanna wohnte in einer winzigen Mansarden-Wohnung in der Düsseldorfer Straße. Wie in vielen Nebenstraßen des Kudamms hatte man dort kleine Dachgeschosswohnungen mit Atelierfenstern geschaffen. Es war billig damals und romantisch, nur im Winter zog es ziemlich. Beaky hatte ja nun Hannas Adresse und er beschloss um sie zu werben. Das tat er zunächst mit mehreren Postkarten, auf die er Zeilen aus Popsongs schrieb. Nichts Kitschiges, eher coole Zitate. Er hatte keine Erfahrung in solchen Dingen, er tat es auf seine Art. Folglich hatte es mit Musik zu tun. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus und er war sich auch ziemlich sicher, dass Hanna einen Nerv für Texte von Bob Dylan, Janis Joplin und Jimi Hendrix hatte, die er für sie aussuchte. Nach einer Woche beschloss er aufs Ganze zu gehen. Er steckte ihr ein Mixtape in ihren Briefkasten, zusammen mit dem Vorschlag sich zu treffen und seiner Telefonnummer. 1973 war ein Mix-Tape ganz weit vorne, die Avantgarde der zeitgenössischen Liebeswerbung sozusagen.

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„Won’t you come with me baby?
I’ll take you where you wanna go.
And if it don’t work out,
You’ll be the first to know.
I’m pledging my time to you,
Hopin’ you’ll come through, too.“

(„Pledging my Time“, Bob Dylan aus dem Album „Blonde on Blonde“, 1966)

Und wirklich ruft Hanna Beaky an, seine Liebeswerbung hat sie amüsiert und sie mag den langhaarigen, etwas unbeholfenen Jungen gern. Also treffen sie sich am Olivaer Platz, an der Einser-Haltestelle. Er besteht darauf, sie zum Essen einzuladen. Sie laufen den Kudamm in Richtung Halensee und Hanna fragt, halb besorgt, halb scherzhaft:“Du willst mich aber nicht in den Athenergrill ausführen?“ Er schüttelt den Kopf, tatsächlich ist ihm die Frage peinlich, er wird sogar ein wenig rot. Wenige Meter hinter dem Athenergrill, hält er ihr eine Tür auf. Ins Ciao lädt er sie ein. Einen schicken Italiener, wo man manchmal sogar Schauspieler oder andere Prominente sieht. Schon ist der Kellner da, wieselt um die Beiden, radebrecht, „Einen Tisch, a due?“ Beaky nickt und der Kellner will sie ganz hinten im Lokal platzieren, Hanna stoppt ihn souverän. Sie will am Fenster sitzen, was auch kein Problem ist, der Laden ist fast leer.
Hanna hat nur eine rosafarbene Weste und nichts zum Ablegen an, Beakys Fransenlederjacke will ihm der Kellner abnehmen, es gibt etwas Gezerre und Beaky gewinnt das Match. Einen Freund haben sie in ihrem Kellner nicht gewonnen mit diesem Entrée.
Jetzt bringt der Kellner Beaky die Weinkarte, davon lässt er sich nicht irritieren, man hat ihn vorgewarnt. Weltmännisch sucht er einen bezahlbaren Wein aus, auch das Probieren und freundlich Nicken bekommt er hin. Aber er fühlt sich überhaupt nicht wohl und schließlich gesteht er sein Missempfinden Hanna, die sieht es ähnlich. Als sie Beaky darauf hinweist, dass der Kellner einen ganz anderen, teureren Wein gebracht hat, kommt Beaky eine spontane Eingebung, Er bedeutet Hanna ihr Glas auf Ex zu trinken, dann zerrt er sie hoch, greift seine Jacke, schleust sie durch den Eingang auf den Gehsteig. Sie rennen los, er hat sich vorher versichert, das sie keine Absätze trägt. So jagen sie den Kudamm hoch zurück in Richtung Leibnizstraße und kichern. Als sie an der Ecke Seesener Straße sind, blicken sie zurück und sehen den gestikulierenden Kellner, worauf sie einen erneuten Lachanfall bekommen. Sie halten sich die Bäuche und lachen bis es wehtut.
Sie haben einen großartigen Abend, Beaky hat nicht nur Hoffnung, er ist sich fast sicher, dass Hanna ihn auch gern mag. Doch als sie spät in Richtung Düsseldorfer Straße spazieren, wird Hanna auf einmal ernst. Sie will keinen Freund, für den Drogen wichtiger sind als sie. Er wäre ja wohl auf Speed gewesen, beim ersten Sehen im Bleibtreu, und Speed ginge nun garnicht. Genauso wenig wie Heroin. Abends oder am Wochenende mal kiffen sei aber kein Problem. Beaky beichtet seine Drogenkarriere, nun ja, vielleicht beschönigt er ein wenig, aber im Großen und Ganzen ist er ehrlich, bis auf eine Ausnahme und wegen dieser wird es Ärger geben. Die Frage ist nur wann.
Zunächts endet der Abend mit einem Küsschen, das Hanna Beaky auf die Wange gibt. Was Beaky nicht unrecht ist, er fürchtet sich vor dem „ersten Mal“. Seinem ersten Mal, seiner Unerfahrenheit, die Hanna merken könnte. Auch bei diesem Thema hat er nicht ganz die Wahrheit gesagt. Aber was ihn die halbe Nacht wachhält und immer wieder durch sein Hirn kreist ist der Gedanke, dass nur das Heroin ihn so cool und schlagfertig gemacht hätte, an diesem Tag mit Hanna. Das er ohne das Sniefen unsicher gewesen wäre, gestottert hätte und rot geworden wäre. Und das sie ihn nicht mehr wollen würde, wenn sie das mit dem Heroin wüsste. Er ist in einem Dilemma. Immer wieder dreht sich die Kausalkette in seinem müden Hirn und erst gegen Morgen schläft er ein. Es ist ein tiefer, traumloser Schlaf.

Fortsetzung folgt

Einschiffung nach Kythera:
http://de.wikipedia.org/wiki/Einschiffung_nach_Kythera

Pledging my Time:
http://www.bobdylan.com/de/node/25804

 

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